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1927 Prosa

Walter Mehring: Schwarze Therapie

Verein Berliner Presse: Die Anekdote

Seit Averrhoes hat die arabische Medizin einen guten Ruf. In Sidi Okba konsultierte ich deswegen eine eingeborene Kapazität. Der Arzt, geisterhaft
hager, nahte, gestützt auf einen langen Wanderstab, bekleidet mit nichts als einem Hemd, gehüllt in Nimbus, unter gänzlicher Ausschaltung aseptischer
Methoden.
Er fragte nicht. Er setzte sich schweigend mir gegenüber, schlug den Blick nach innen und entwickelte mir, mit einem Aufwand an Mimik, der unter Brüdern zehn Grossaufnahmen wert war, mein klinisches Porträt:
„Wenn du über die Strasse gehst“ sprach er, „fliegen oft Palmen vor dir in die Luft! “
„Ja!“ (Als geschulter Patient hatte ich nur zu bestätigen.)
„ln deiner Herde sterben unversehens die neugeborenen Lämmer fort! “
„Mja . . .“
„Oft kommt ein Kamel und stört dich im Schlafe!“
„Ja!!“ bestätigte ich, aufrichtig begeistert.
Seine Diagnose lautete: besessen vom blauen Dämon.
Er gab mir ein Taschenmesser, dessen Klinge ich vor dem Schlafengehen zu öffnen hatte. Und später brachte er mir ein Amulett, an dem er drei Tage geschrieben hatte. Das kostete alles in allem 15 Francs.
Ich weiss nicht, welche Bedeutung diesem Verfahren innerhalb der modernen Pathologie zuzumessen ist.
Der blaue Dämon immerhin hat sich nicht mehr gemeldet.
Was freilich das Kamel betrifft, das mich manchmal im Schlafe stört: von dem bin ich immer noch nicht geheilt.

(Walter Mehring: Schwarze Therapie; in: Verein Berliner Presse (Hg.): Die Anekdote – Ballfest 29. Januar 1927; S. 33 ff.)

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