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Rudolf Arnheim sieht „Das Spiel vom Leben“ skeptisch

Granowsky probiert – von Rudolf Arnheim

Unter den guten Filmen verdienen diejenigen besondre Begünstigung und Nachsicht, die nicht nur mit erprobten, sichern Mitteln eine unanfechtbare und befriedigende Leistung bieten sondern dem Filmapparat neue Ausdrucksformen abzuringen suchen, experimentieren, wagen, und sei es auch ohne viel Sorge um Stileinheit und geschlossene künstlerische Wirkung. Ein Film vom erstern Typ ist Liebmann-Siodmaks „Voruntersuchung“: gute Tendenz, geschickte Szenenführung, ausgezeichnete Schauspieler und das geschmackvollste happy end (wenn schon happy end), dessen ich mich erinnere – „Gerda!“ sagt der junge Mann zögernd ins Telephon, wendet sich ab,
verbirgt den Hörer vor den Zuschauern und Mitspielern, man hört nichts weiter, und das Spiel ist aus. Mit einem solchen Film kann man zufrieden sein, aber vor Granowskys „Lied vom Leben“ sitzt man aufgeregt, geschüttelt, wütend, begeistert, höhnisch ablehnend und kindlich staunend. Denn hier ist siebzehnhundert Meter lang alles durcheinandergeschüttet, was ein eifriger, neugieriger, übermütig spielender Filmarbeiter nur irgend erdenken kann, um sein geliebtes Handwerkzeug auszubeuten. Alle Möglichkeiten der Montage sind verwendet, Zerrlinsen, drehbare Multiplikationslinsen, Zeitraffer- und Zeitlupenaufnahmen, nachsynchronisierter Dialog, Geräuschmusik. Illustrierte Songs, Spiegelaufnahmen, rückwärts laufende Tonstreifen, zerschnittene Wortbänder. Dieser Film ist nicht in drei Atelierwochen forsch heruntergedreht sondern in Monaten zusammengebastelt, er ist mit Gehalt gemästet, ist höchst lehrreich. Und wenn es viel gegen ihn einzuıwenden gibt,
so gilt da für die Kunst dasselbe wie für die Wissenschaft: nichts ist förderlicher, aber nichts ist auch seltner als gute Beispiele dafür, wie mans nicht machen soll. Granowsky gibt uns ein Vorbild und viele Gegenbeispiele.

„Das Lied vom Leben“ – ein unendliches und darum ein schlechtes Thema. Denn was ein Kunstwerk am allerdringlichsten braucht, sind Grenzen. Wer auszieht, das ganze Leben zu erjagen, wird mit einem Häufchen Chaos im Kescher heimkommen. Wer sich aber an einen kleinen Ausschnitt hält, wird
damit vielleicht unversehens die ganze Welt eingefangen haben. Dieser Film versucht einen Mittelweg, der kaum gangbar ist: es wird die Privatgeschichte von zwei oder drei Menschen gegeben, aber zwischendurch wird dann ab und zu ein großes Rad geschlagen, bunt entfaltet sich ein Bild der Welt, ein Mosaik aus zusammenhanglosen Ausschnitten und ohne zwingende Verbindung mit der eigentlichen Handlung. Wenn ein sehr realer junger Mann mit solidem Beruf und ein junges Mädchen mit bürgerlichem Familiennamen, die eben noch an den Quais des hamburger Hafens herumliefen, plötzlich in einer
exotischen Landschaft auftauchen, wo Affe und Pinguin, Giraffe und Walroß sich unbekümmert im gleichen Klima tummeln, nur weil diese Bilder, einen eingelegten „Paradies-Song“ illustrieren sollen, so widerspricht das dem pedantischen Wirichkeitssinn des Films, gegen den man nicht sündigen darf!
Und ebenso gibt es einen Bruch, wenn die Spielhandlung ausklingt in einen ganz unpersönlichen Bilderbogen aus dem Seemannsleben.

Man kann bei Granowsky ausgezeichnet studieren, wie alles Überwirkliche, Symbolische in einem Spielfilm die Wirkungen nicht erhöht sondern abschwächt. Wenn wir den ekelhaften Lebemann, der das iurnge Mädchen heiraten will, sein Gebiß aus dem Munde nehmen und in ein Glas tun sehen, so
ist das deutlich genug, und das Bild braucht nicht noch in ein Totengerippe zu überblenden. Für den lärmenden Rausch einer Hochzeitsgesellschaft braucht man nicht durcheinanderschwebende Sektgläserkompanien – die einfachen Großeinstellungen der üppigen Schlemmerschüsseln (gleich am Anfang) sind
bei weitem wirksamer. Die grade in ihrer Leibhaftigkeit so packende Operationsszene wird paralysiert, wenn zum Schluß Ärzte, Schwestern und Instrumente kaleidoskopartig und im Zeitraffer durcheinanderwirbeln. Und die aufkopierte Sanduhr als Symbol des Zeitablaufs, die faustische Fahrt in der Krangondel und die Menschen in Tierkäfigen sind hart an der Grenze des Kitschs. Dabei ist die Verwendung symbolischer Szenen im Film schon aus einem ganz äußerlichen Grunde sehr gefährlich. Gut verwendbar sind die beliebten Großaufnahmen von Wellen und glitzernden Reflexen, und ich habe selten eine bessere Traumszene gesehen als bei Granowsky die durchsichtigen Segelboote, die übers Wasser gleiten, aber sowie man gegenständlichere Motive wählt, hat das Filmbild eine Realistik, die symbolischer Verwendung widerstreitet. Ein Totenkopf wirkt eben nicht als Symbol sondern als ein indisches Stück Knochen, ein Kapitel Anatomie, und ähnlich ist es mit Granowskys Galerie von Kinderskeletten, die nicht überwirklich sondern als ein nicht hergehöriges Stück Wirklichkeit erscheinen. Die echte Symbolik des Films liegt nicht im Überwirklichen sondern in der deutenden Darbietung von Wirklichem.

Granowskys Arbeit ist sehr charakteristisch für die seltsame Art, in der bei den russischen Filmkünstlern prachtvolle sinnliche Anschauung überdeckt wird von einem Hang zu theoretischem Konstruieren. Die Russen sind wahre Fanatiker der Filmtheorie, sie haben da gradezu kabbalistische Systeme ausgedacht, und deren Anwendung auf die praktische künstlerische Arbeit ist dann meist wenig erfreulich. Eisensteins theoretische Äußerungen sind an geschwollener Phrasenhaftigkeit kaum zu überbieten, Amateurphilosophie, aufgepappte Marxismen, rauschender Tiefsinn, und das wirkt sich dann in der
Praxis aus, so wenn er beispielsweise jetzt damit umgeht, das Kapital von Marx zu verfilmen. Aus dieser Haltung erklärt sich auch die merkwürdige Auffassung vom Tonfilm bei den Russen. Ebenso wie sie sich beim stummen Film nicht gern mit ihrer herrlichen Kunst der Wirklichkeitsbetrachtung begnügen sondern durch Montage symbolischer Bilder „Gedanken“ einzufügen suchen, ebenso suchen sie den eigentlichen Sinn des Tonfilms im Asynchronismus, das heißt im Zusammenfügen nichtzusammengehöriger Ton- und Bildszenen. Zu dieser Meinung hat sich Pudowkin bekannt. In diesem Sinne illustriert Granowsky Songs eines unsichtbaren Sprechers durch Bilder –
ein Prinzip, dessen Brauchbarkeit man nach so wenigen Beispielen noch nicht recht beurteilen kann; nur soviel ist sicher: unverwendbar ist der wortgetreue Parallelismus von Text- und Bild („Groß ist der Ozean“ und dazu ein Bild des Meeres – da schwächt das Bild den Text und der Text das Bild). Dagegen wirkt es sehr gut, wenn dem plötzlich einsetzenden Chor im Liede ein  „Bewegumgschor“ im Bild entspricht, eine Gruppe kletternder Matrosen. Immerhin scheint es mir unbezweifelbar, daß der Asynchronismus nicht das Kernprinzip des Tonfilms sondern nur eine spezielle Möglichkeit ist. Bei Granowsky hat man das Gefühl, daß er schon das Nachsynchronisieren von Dialog für eine Art souveräne Meisterung der Tonapparatur hält, während es sich dabei doch um einen ganz äußerlichen Kniff handelt, der angebracht sein mag, wenn man – wie in den ausgezeichneten Klinikszenen – Dialog nur in
einzelnen kurzen Worten, als eine Art Morsetaster-Ticken verwendet, obwohl auch hier schon der Stimmklang leicht etwas störend Fremdartiges bekommt. Sehr zukunftsreich scheinen mir hingegen die Versuche mit Geräuschmelodien, so etwa wenn Maschinengeräusche von verschiedner Tonhöhe wie Töne einer Melodie hintereinander montiert werden. Auch für
die Verwendung von Begleitmusik gibt es einige lehrreiche Beispiele: den Trompetenruf des Säuglings und das gewichtige Schreiten der Einleitungstakte, wo der Rhythmus der Bildsprünge durch einen genau parallel gehenden Tonrhythmus akzentuiert wird.

Ganz vorbildlich ist die Photographie. Man kann an diesem Film zeigen, wie das kräftige Herausarbeiten der Schwarz-Weißwerte nicht nur eine Luxuszugabe, eine Delikatesse ist sondern notwendige Voraussetzung für die Realisierung der künstlerischen Idee. Die große Operationsszene zum Beispiel bezieht ihre ganze Wirkung aus dem schlagenden Kontrast der weißen Mäntel, der weißen Wäsche, der weißen Watte zu den schwarzen Gummihandschuhen und Instrumenten und Gesichtern. Man braucht nur an dieselbe Szene aus „Frauennot – Frauenglück“ zu denken, um des Unterschiedes bewußt zu werden. Der Kuriosität halber sei bei dieser Gelegenheit erwähnt, daß der Oberzensor Seeger, der den Film mit siebenundvierzig Ausschnitten freigab, in einem Interview geäußert hat, charakteristisch für Granowskys  Sensationsgier sei, daß er in seinem Film nicht die normale Geburt sondern den Ausnahmeiall Kaiserschnitt zeige. Da hat Herr Seeger einen zukunftsreichen Gedanken in die Welt gesetzt. Seinerzeit hat ja Friedrich Schiller in niedriger Spekulation auf die sadistischen Triebe des Publikums Tells Apfelschuß auf die Bühne gebracht, obwohl solche akrobatischen Schaustellungen doch sicherlich nicht zum normalen Verkehr zwischen Regenten und Revolutionären gehören. Lebte Schiller heute, unser Ober-Cutaway würde ihm schon zeigen. was eine moralische Anstalt ist!

(Rudolf Arnheim: Granowsky probiert; in: Die Weltbühne Nr. 18, XXVII. Jahrgang vom 5. Mai 1931, S. 653 ff.)

 

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