Ein Song für den Gong
Wie kam der Begriff des Songs in die deutsche Kultur? Der Mann im Mond spielte eine zentrale Rolle dabei – und leider auch ein rassistisches Machwerk, zu dem der Reimvirtuose Walter Mehring 1920 einen gewitzten Gegengesang anstimmte.
Auf die Frage, wer den ersten Songtext in deutscher Sprache geschrieben habe, würden die meisten Menschen wohl ohne zu zögern antworten: Bertolt Brecht. Doch er stammt nicht von ihm, sondern von einem heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Schriftsteller der Weimarer Republik, der für die Literatur dieser Epoche gleichwohl eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat: Die Rede ist von Walter Mehring, einem der faszinierendsten Autoren der zwanziger Jahre. In diesem Jahrzehnt war er, zumal in Berlin, sehr erfolgreich: Einige seiner Gedichte, darunter „Heimat Berlin“ und „Hoppla! Wir leben!“, waren damals in aller Munde, und mit seinem Stück „Der Kaufmann von Berlin“ löste er im Jahr 1929 einen der größten Theaterskandale der Weimarer Republik aus. Kein Wunder, dass aufstrebende jüngere Autoren sich an ihm orientierten: Der junge Brecht etwa ist bei Mehring in die Schule gegangen.
Was er unter anderem von ihm lernen konnte, war, dass man Songtexte auch in deutscher Sprache schreiben konnte, denn Mehring war eben der erste Lyriker, der dies mit programmatischem Anspruch getan hat. Aufgrund der ungleich größeren Wirkung der nur wenig später entstandenen klassischen Songtexte Brechts ist Mehrings Bedeutung für die Geschichte des deutschen Songs aber aus dem Blick geraten.
Das erste Mal taucht der Begriff „Song“ auf dem Umschlag seines Gedichtbands „Das politische Cabaret“ aus dem Jahr 1920 auf. Mehring hat diesen Umschlag selbst gestaltet, und man sieht sofort, dass er als Zeichner unter dem Einfluss von George Grosz stand, mit dem er befreundet war. Mit wenigen Strichen skizziert Mehring hier das Umfeld, in dem er sich damals bevorzugt bewegte: das Berliner Kabarett, für das er Texte schrieb, die dann unter anderem von seinem Freund Friedrich Holländer vertont und daraufhin unter anderem von dessen Frau, der Diseuse Blandine Ebinger, aufgeführt wurden (den beiden ist der Band auch gewidmet). Doch der Begriff „Cabaret“ ist hier nicht nur auf die Kabaretttradition in einem engeren Sinn zu beziehen, sondern auch auf die dadaistischen Spektakel, die vier Jahre zuvor im Zürcher „Cabaret Voltaire“ stattgefunden hatten und von denen Mehring als Mitglied von „DADA Berlin“ natürlich wusste.
Auf seine politische Position verweist die Tatsache, dass es der gerade abgedankte deutsche Kaiser Wilhelm II. ist, der da als lächerliche Figur im Scheinwerferlicht auf einer provisorisch zusammengezimmerten Kabarettbühne steht (wobei ihm der Hohenzollern-Adler streng über die Schulter blickt) – eine Szene, die von einem perplexen Militär beobachtet wird, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Hindenburg aufweist und kurz davor ist, seinen Säbel zu ziehen. Diese Szene wiederum wird von einem Fotografen beobachtet, der seinerseits kurz davor ist, auf den Auslöser seiner Kamera zu drücken, womit wohl signalisiert werden soll, dass auch die Polizei unter Beobachtung steht, und zwar unter Beobachtung der Presse und nicht zuletzt des Kabaretts. Es ist somit unübersehbar, dass man es hier mit dem Gedichtband eines aggressiven und provokanten Satirikers zu tun hat, der kein Blatt vor den Mund nimmt und sich geradezu programmatisch auf ein von der Zensur gleichsam umstelltes Terrain begibt. In der Tat war erst wenige Monate zuvor ein Gedicht Mehrings verboten worden. Wenige Monate später sollte dieses Schicksal auch der zweiten Auflage des „Politischen Cabarets“ zuteil werden: wegen der darin geübten Kritik an der Reichswehr, der Justiz und einiger anderer Institutionen und Repräsentanten der Republik. Das aber heißt: Auch die Gattung Song fiel bei ihrem ersten Erscheinen in der deutschen Lyrik der Zensur zum Opfer.
Wenn man den Gedichtband durchblättert, stößt man auf Texte verschiedenster Art, auf keinen jedoch, der explizit als Song bezeichnet würde. Allerdings ist ein Text darunter, der schon allein deshalb auf die Songtradition verweist, weil er einen englischen Titel trägt: „If the Man in the Moon Were a Coon . . .“ Und tatsächlich taucht in diesem Text die Gattungsbezeichnung Song zum ersten Mal in einem deutschen Gedicht auf, und dies gleich mehrfach. Dass sie jedesmal auf das Wort „Gong“ gereimt wird, ist bei einem Reimvirtuosen wie Mehring unbedingt ernst zu nehmen: Die neue Gattung wird dem Publikum also nicht mit einem Pauken-, dafür aber mit einem Gongschlag präsentiert.
Um diesen ersten deutschen Songtext richtig einordnen zu können, muss man zuerst seinem Titel nachgehen, denn in ihm wird auf einen anderen Song gleichen Titels verwiesen. Heute ist er vergessen, im Jahr 1920 war das aber noch ganz anders: „If the Man in the Moon Were a Coon“ war einer der populärsten amerikanischen Songs des frühen 20. Jahrhunderts. Geschrieben hat ihn ein Songwriter, der sich Fred Fisher nannte, das Licht der Welt aber unter dem Namen Alfred Breitbach im Jahr 1875 in Köln erblickt hatte. Einer der größten amerikanischen Hits des frühen 20. Jahrhunderts wurde also von einem Deutschen geschrieben – eine überraschende Tatsache. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Mehring davon wusste.
In jedem Fall knüpfte er mit seinem Songtext an die amerikanische Songtradition an, allerdings auf eine durchaus kritische Weise, und das ist schon deshalb nicht verwunderlich, weil es sich bei Fisher und Mehring um zwei völlig verschiedene Autorentypen handelt. Während Mehring ein streitlustiger, avantgardistisch sozialisierter Satiriker war, war Fisher der Inbegriff eines Tin-Pan-Alley-Songwriters: Gemeinsam mit vielen anderen (darunter so berühmte Namen wie Irving Berlin und Cole Porter) war er also im Auftrag der amerikanischen Musikindustrie, deren Zentrum sich damals in der sogenannten Tin Pan Alley in New York befand, damit beschäftigt, einen möglichst erfolgreichen Song nach dem anderen zu produzieren. Er machte seine Sache so gut, dass er im Jahr 1970 postum in die Songwriters Hall of Fame aufgenommen wurde. Mehring hingegen starb verkannt im Schweizer Exil. Weiter könnten diese beiden Autoren also gar nicht voneinander entfernt sein.
Und wenn man die Texte ihrer Songs vergleicht, zeigt sich, dass auch sie weit auseinander liegen. Mehr noch: Es zeigt sich, dass der Text Mehrings eine Art Gegengesang zu Fishers Song ist. Inwiefern? Hört man den Song Fishers – eine Aufnahme der Sängerin Ada Jones aus dem Jahr 1907 hat sich erhalten -, wird man durch den eingängigen Charme der Musik zunächst in eine positive, vielleicht auch nostalgische Stimmung versetzt. Doch damit hat es ein Ende, sobald man auf den Text achtet: Denn dieser Text ist ein Ärgernis, nicht nur aufgrund seiner sprachlichen Trivialität, sondern vor allem deshalb, weil er durch und durch rassistisch ist. Seine perfide Pointe besteht darin, dass das Licht des Mondes verdunkelt würde (und damit keine romantischen Rendezvous in nächtlichen Parks mehr möglich wären), wenn der Mann im Mond ein „coon“ wäre. Dieses Wort ist abgeleitet von „racoon“, dem englischen Wort für Waschbär, und war eine damals gängige abwertende Bezeichnung für Schwarze. Sie gab auch einem ganzen Genre den Namen: dem Coon Song. Mit diesem Namen ist klar, worum es in diesen Songs ging: In ihnen wurden Schwarze verspottet und verunglimpft. Um dies deutlich zu machen, genügt es, die Titel einiger Coon Songs aufzuzählen: „A Trip to Coon Town“, „All Coons Look Alike to Me“, „Every Race Has a Flag But the Coon“. Die Tatsache, dass sich solche Songs vor hundert Jahren noch größter Beliebtheit erfreuen konnten – und dies auch über die Vereinigten Staaten hinaus -, ist erschreckend.
Ein rassistisches Machwerk bildet also den Ausgangspunkt der deutschen Songtradition. Aber was hat Mehring daraus gemacht? Etwas völlig anderes: Sein Text ist einer „white lady“ aus Amerika in den Mund gelegt, die ihre Lebensgeschichte im Stil einer Moritat erzählt, wobei sie sich hemmungslos rassistischer Vokabeln und Vorstellungen bedient. Sie erzählt, wie sie von einem Kellner, den sie als „niggerboy“ bezeichnet, bei verdunkeltem Mondlicht geschwängert wurde, wie sie gemeinsam mit ihm nach Europa floh, wie er sie dort betrog und sie ihn aus Rache umbrachte. Im Refrain des Textes wird jedesmal – und zwar auf Englisch – der Refrain von Fishers Song zitiert: In der ersten Strophe singt ihn der Kellner, in der zweiten Strophe geben ihn die Frau und ihr Geliebter zusammen in europäischen Varietés zum Besten, in der dritten Strophe wird er von einem Männerchor am Grab des ermordeten Geliebten gesungen, und in der vierten Strophe kündigt die Frau an, ihn nach ihrem Tod als „Halleluja-Song“ im Himmel anstimmen zu wollen. Und jedes Mal, versteht sich, wird der Gong dazu geschlagen.
Das aber heißt, dass es sich bei Mehrings Songtext um einen – wie man vielleicht sagen könnte – Metasongtext handelt: Denn in ihn ist ja ein weiterer Songtext integriert, wobei die beiden Texte in ein Spannungsverhältnis zueinander geraten, und dies schon im Hinblick auf die Musik. Um dies zu erkennen, muss man sich einen Leser vorstellen, der die Melodie von Fishers Song im Ohr hatte und dem sie folglich auch einfiel, wenn er Mehrings Text las; aufgrund der Bekanntheit des Songs und der Eingängigkeit der Melodie dürfte es vielen zeitgenössischen Lesern von Mehrings Gedichtband so gegangen sein. Die Melodie Fishers passt jedoch nur zu dem Teil des Refrains, in dem Fishers Song zitiert wird. Ansonsten aber hat Mehring eine völlig andere Form verwendet; die Melodie von Fishers Song lässt sich also nur bis zu einem bestimmten Punkt auf seinen Text übertragen. Auf diese Weise wird – sogar schon vor einer Vertonung – eine Reibung erzeugt zwischen dem deutschen Songtext und seiner amerikanischen Vorlage. Ohne Zweifel handelt es sich dabei um eine kalkulierte Reibung, durch die die Unterschiedlichkeit der beiden Texte von Anfang an kenntlich gemacht werden sollte.
Der erste Songtext in deutscher Sprache ist somit keine bloße Imitation eines amerikanischen Songtextes, sondern ein Text, der sich von der Tradition, aus der er stammt, distanziert und ihr etwas Eigenes entgegensetzt, und zwar in formaler und inhaltlicher Hinsicht gleichermaßen. Dem formal konventionellen Text Fishers setzt Mehring einen schon allein aufgrund der Sprachmischung viel komplexeren Text entgegen: der kommerziellen Massenware aus der Tin Pan Alley also einen individuellen modernistischen Songtext. Inhaltlich setzt er dem rassistischen einen amerikakritischen Text entgegen, in dem am Beispiel der „white lady“ in satirischer Überspitzung die Verblendung und Verlogenheit des gesellschaftlichen Kontextes vorgeführt wird, in dem das Genre des Coon Song erfolgreich war. Dass er dabei das rassistische Vokabular indirekt selbst verwendete, dürfte Mehring aufgrund des völlig anderen gesellschaftlichen Kontextes, in dem er schrieb, nicht als Widerspruch empfunden haben. Aus heutiger Perspektive ist diese Ambivalenz freilich nicht zu übersehen.
Während ein Songwriter wie Fred Fisher zweifellos nicht einmal im Traum daran gedacht hätte, einen solchen Text zu vertonen, gab es in Deutschland damals durchaus Komponisten, die sich für ihn interessierten. Er wurde sogar zweimal vertont: Das erste Mal, kurz nach seiner Entstehung, von Werner Richard Heymann, einem der erfolgreichsten Komponisten populärer Musik in der Weimarer Republik (von ihm stammt etwa die Musik zu „Ein Freund, ein guter Freund“). Wie es scheint, sind die Noten von Heymanns Vertonung leider jedoch verloren, und auch eine Aufnahme gibt es nicht. Das zweite Mal wurde der Text im Jahr 1930 von Erich Itor Kahn vertont, einem heute fast völlig vergessenen Musiker: Kahn war ein mit Adorno befreundeter Anhänger Schönbergs, der sich als Konzertpianist einen Namen gemacht hatte, bevor er als Jude und Interpret „entarteter Musik“ ins Exil gehen musste. Er ging – wie zeitweilig übrigens auch Mehring – nach New York, wo er zwar als Pianist erfolgreich war, sich als Komponist aber nicht durchsetzen konnte und bereits 1956 starb. Wie mag seine Vertonung von Mehrings Text wohl klingen? Das immerhin kann man herausfinden: Zwar existiert auch in diesem Fall keine Aufnahme, doch das Notenmaterial liegt im Nachlass Kahns in der Public Library in New York und kann dort eingesehen werden. Dass der erste Song in deutscher Sprache sich heute an einem Ort befindet, der nur wenige Blocks entfernt ist von dem Ort, an dem der amerikanische Song entstand, von dem er sich abgrenzte, das wird man nicht anders bezeichnen können als eine Ironie der Geschichte.
(Frieder von Ammon: Ein Song für den Gong; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. März 2017, S. 18. Der Text erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.)