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1934

Kurt Tucholsky schreibt seinen letzten Brief an Mehring

An Walter Mehring. Lysekil, nach dem 28.7.1934

Lieber Mehring,

Kurt Tucholsky: Texte und Briefe, Bd. 20

vielen schönen Dank für Ihren werten Schrieb! Ich bin schrecklich neugierig: Haben Sie ein Heim? Wo wohnt das? Sieht man von da den sacré Kör? Haben Sie eine puanderie? Wie ist es überhaupt? Hei!

Des weiteren, lieber W. M. — ein chronischer Katarrh, wie er auf mir sitzt, mag ja das Weltbild stören. Aber jedennoch: so wenig wir von dem, was sich da ereignet, überrascht worden sind, je destoweniger kann ich noch mitmachen. Was die Nichtüberraschung angeht, so sehe ich uns noch beide schweren Schrittes auf der Gare St. Lazare herumstolpern, wir beredeten es alles, und es hatte etwas leicht Komisches: um uns brausten die Leute, und wir hattenes mit dem kl. Weltuntergang. Und wir haben doch recht behalten, ein größerer steht bevor, und so sehr ich gegen die Leute bin, die, wie der gute O. gesagt hat, „eine Villa mit prachtvollem Weltuntergang besitzen“, so klar sehen wir ja wohl, was nun kommen wird, von Rechts und Links. Ich meine, was wir uns da zu erwarten haben. Ich nichts …

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1977 Kabarett Lieder

Walter Stapper erinnert 1977 an „Die verbrannten Dichter“

1977 hat sich Walter Stapper an „Die verbrannten Dichter“ erinnert und ein Programm mit Liedern dazu erstellt. Walter Mehring, Kurt Tucholsky, Ernst Toller, Lion Feuchtwanger, Heinrich Heine, Bertolt Brecht, Irmgard Keun, Else Lasker-Schüler, Erich Mühsam, Hirsch Glik und Erich Kästner hatte Stapper für sein Programm ausgewählt. Zur Gitarre sang er zu Kompositionen von Hanns Eisler, Peter Janssens und Bela Reinitz dar. In Rezensionen aus dem Jahr 1977, etwa aus den „Nürnberger Nachrichten“, wird das Programm sehr positiv bewertet: „Langanhaltender Beifall dankte Walter Stapper für diese lebendige und farbige literarische Geschichtsstunde.“

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1936 1948 Biografisches Lyrik

PEM: WALTER MEHRING MACHT EIN GEDICHT AUF MICH

WALTER MEHRING MACHT EIN GEDICHT AUF MICH

Roland von BerlinNichts ist schwerer, als einen Artikel über sich selbst zu schreiben; aber in diesem Falle lohnt es sich. Wenn ich es nämlich nicht tue, so geht ein Gedicht verloren, das zu den  literarischen Kuriositäten gehört, denn in noch so „gesammelte Werke“ paßt es nicht hinein. Und es hat den besten Berliner Chansonnier zum Verfasser — Walter Mehring.
Das muß kurz nach dem ersten Weltkrieg gewesen sein, als wir uns trafen. Ich hatte schon reimlose Verse von Mehring in der „Aktion“ und in Mynonas „Der Einzige“ gelesen, und wie aktuell waren diese Gedichte:

 

____„Schon revoltieren die ersten amerikanischen Lebensmmittel
____im Magen der Kapitalisten.
____Berlin --
____Dein Tänzer ist der Tod.“

Dann gab es da eine illustrierte Zeitschrift „Bühne und Film“, in der Mehring zu schreiben begann. Einmal sandte man ihn zu einem Boxkampf, und er nahm sich, einen Zeichner mit, der seinen Artikel bebildern sollte. Der Chef warf ihn fristlos mit der Begründung hinaus:
„Wir brauchen keine Kinderzeichnungen“, und dieser Künstler war doch George Groß (sic!) gewesen. Ein paar Jahre später hörten wir Mehrings Chansons im „Schall und Rauch“; Gussy Holl und Paule Grätz waren seine Interpreten; und Spolianski, Holländer und Allen Grey seine Musikanten. Schließlich entdeckten ihn Maximilian Harden in der „Zukunft“ und Kurt Tucholsky in der „Weltbühne“ für eine größere Öffentlichkeit. Man stelle sich vor: Tucholsky, der selbst Chansons schrieb, entdeckte sich einen Konkurrenten…

Mehring schrieb viele, viele unvergeßliche Gedichte, die ich heute noch auswendig kann. „In Hamburg an der Elbe, gleich hinter dem Ozean …“ für Lambertz-Paulsen, und „In diesem Hotel der Erde, ist die Kreme der Gesellschaft zu Gast …“ für Kate Kühl.

Und nun also sitzt Walter Mehring in New York, und ich halte ein Gedicht in den Händen, das nirgends erschienen ist, weil es sehr privat ist. Wir sahen uns viel in Wien, wo wir im Exil lebten. Und zu einem meiner vielen Geburtstage brachte er mir ein Gedicht — und zur Erklärung habe ich nur zu sagen, daß ich in dem Ruf stehe, ein gutes Gedächtnis zu haben. Hier ist es, damit es nicht verlorengeht:

Unserem Eckermann Pem

Eviva Heil. Und Juden raus.
Noch ein Protest -- dann ist es aus.
__Dann wird es alles aufnotiert
__in Leder -- mehrfach illustriert.

Adolf. Benito ... Wer war noch?
Ein großes Loch. Ein großes Loch.
__Wer war's, der in dasselbe kroch?
__Wen hat die Garbo einst umgarnt?
__Wer hat die Kohns beim Film getarnt? 

Wer wèiß, wie wirklich Bronnen hieß?
Wo stand der Stammtisch der Genies?
__Wer lebte im Exil? - Wovon?
__Ein Sternlein steht im Lexikon.

Als Quelle: Unter anderem
Besiehe PEM - Besiehe PEM.
Wann rückte Kerr aus - in den Krieg?
Wann war die deutsche Republik?
__Wann lebte Goebbels' Großmama?
__Wer siegte wann bei Adua?

Wer hat Teutschlands Geschick gelenkt?
Von wann bis wo? Geschenkt. Geschenkt.
__Doch wer hat ddauernd umgeschwenkt?
__Olympisch sich mit Ruhm bekleckt
__und ständig über's Ziel geleckt?

Wer hat sich gleichgeschaltet -- und
quatschte heroisch aus'm Mund?
__Wie lebt der Emigrant... wovon?
__Das steht dann nie im Lexikon...

Er lebt aus Dawke und Bestemm
Besiehe Pem - Besiehe Pem.

Mehring hat es 1936 in Wien geschrieben, und was für ein Prophet er war
____________________________________________________PEM (LONDON)

(PEM: Walter Mehring macht ein Gedicht auf mich; in: Roland von Berlin, Heft 39/1948 vom 26. September 1948; S. 22 f.; PEM ist das Pseudonym von Paul Marcus.)

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1936 Biografisches Rezensionen

Ulrich Tietze : Außer Reih und Glied

Ulrich Tietze

Außer Reih und Glied

Walter Mehrings Sprachgewalt als Waffe des Gejagte

Lutherische Monatshefte„Mehring hat Verse, Rhythmen, Assoziationen gefunden, die alles weit übertreffen, was mir je dazu eingefallen wäre.“ So kommentiert Kurt Tucholsky im Jahre 1929 Auszüge aus dem Buch „Die Gedichte, Lieder und Chansons des Walter Mehring“ und bemerkt dazu, daß dieses Buch mit seinen 252 Seiten „viel zu dünn“ sei.

Kurt Tucholsky, dem sprachliche und inhaltliche Unsauberkeiten bei anderen Schriftstellern selten entgingen, fand für Mehring so lobende Worte, wie sie ihm bei kaum einer anderen Gelegenheit in den Sinn kamen: „Dieser Dichter kann noch den Herzschlag seiner Leser beeinflussen, wenn er will . . .“, er habe „einen völlig neuen Ton in die Literatur eingeführt“, es handle sich um „herrlich gereimte Lieder, von einem in Deutschland fast nie gesehenen Wortreichtum, und diese Worte fliegen dem nur so zu“.

Mehr als fünfzig Jahre nach den Lobeshymnen Kurt Tucholskys kommt der Kabarettchronist Klaus Budzinsky in seinem Buch „Pfeffer ins Getriebe. Ein Streifzug durch 100 Jahre Kabarett“ zu einem ähnlichen Urteil. Bei ihm heißt es: „Mehrings Sprachgewalt und lyrische Potenz hob das Chanson im Kabarett auf ein Niveau, das vor ihm nur Frank Wedekind und nach ihm niemand mehr erreicht hat.“

Sicher ist, daß dieser Autor einen kaum zu überschätzenden Einfluß auf die satirische und kabarettistische wie auch auf die lyrische Literatur der zwanziger Jahre ausgeübt hat.

Walter Mehring, am 29 April 1896 in Berlin geboren, studierte Kunstgeschichte, veröffentlichte, kaum über zwanzig Jahre alt, expressionistische Gedichte und gehörte zu den Gründern des „Politischen Cabarets“ in Berlin. Für Max Reinhardts Kabarett „Schall und Rauch“ schrieb er ebenso Texte wie für andere Ensembles. Wie Kurt Tucholsky entdeckte auch Walter Mehring früh seine Liebe zu Frankreich: 1921 übersiedelte er in die Pariser Montparnasse-Cafés.

Seine vielfältigen Möglichkeiten in Form, Ausdruck und Inhalten zeigten sich vor allem in seinen Versen. Sein Schriftstellerkollege Eckart Peterich im Jahre 1963: „Rhythmus und Reim, die heute manchem als fragwürdig gelten, sind ihm natürlichste Freunde.“

Im „Ketzerbrevier“ von 1920/21, die Mehring eine „Seelenmesse für Agnostiker, Wortgläubige und unbekehrbare Freigeister“ nannte, findet sich eine geradezu unglaubliche Vielfalt lyrischer und satirischer Formen. Dabei hat der Autor hier immer wieder auch religiöse Motive benutzt, so etwa in der „Litanei“, in der es heißt: „Kyrie eleison – Alle Stätten/ die dich loben/ die uns ketten/ an das Droben/ mit Gelübden/ und Geboten/ in den Krypten/ der Zeloten/ von der Qual/ und allem Jammer/ in Spital/ und Folterkammer/ Alle, die dich loben, Gott,/ blutverwoben und bigott/ Herr, befreie uns davon -/ Kyrie eleison!

1933 zeichnete Mehring in einem seiner bekanntesten Gedichte, der „Sage vom Großen Krebs“ – die Vorlage dafür ist tatsächlich eine alte Sage -, die Gefahr einer Rückkehr in die mittelalterliche Barbarei der Folterkammern und Scheiterhaufen durch das NS-Regime in kunstvollen Versen. Wenn der am Boden des Mohriner Sees angekettete Krebs loskäme, „dann kreiste zurück die Jahrhundertuhr/ zur ewigen Mitternacht -/ und wenn die berauschte Kreatur/ vom Traum erwacht/ geht alles rückwärts und verquer, rückwärts und verquer/ zu Hexenbränden und Judenpogrom/ Hosiannah! Gott geb’s,/ daß nimmermehr loskom/ der Große Krebs!“ Dieses Gedicht erschien in der letzten Ausgabe der von Carl von Ossietzky herausgegebenen „Weltbühne“ am 27. Februar 1933, dem Vorabend des Reichstagsbrandes.

Walter Mehring entging, anders als andere bedeutende Antifaschisten, im letzten Moment den Nazis und ging ins Exil – zunächst nach Österreich. In einem chiffrierten Brief aus Deutschland wurde ihm die Nachricht übermittelt, daß die Gestapo seine Wohnung zerstört hatte: „… gestern hatten wir noch spät abends Besuch, der sehr ungehalten war, Dich nicht anzutreffen. Es ging recht ausgelassen zu, so daß wir heute früh uns sehr plagen mußten, um die Scherben und die Möbelfetzen und die Bibliothek Deines seligen Vaters wieder zusammenzuräumen.“

Der den Häschern und Folterern knapp Entkommene hatte in unzähligen Gedichten, Aufsätzen, Satiren vor dem Hitler-Faschismus gewarnt. Dies galt auch für andere Autoren, die dem Genre der „Neuen Sachlichkeit“ zugeordnet wurden, wie Tucholsky und Kästner. Aber Walter Mehring zeigte noch stärker als die anderen Schriftsteller anhand der Sprache der Nazi-Größen den fatalen Rückschritt in die längst vergangen geglaubten Zeiten. In einer der ersten Ausgaben der Exilzeitschrift „Das Neue Tage-Buch“ zu Beginn des Jahres 1933 erschien unter dem Titel „Der Hexenhammer“ ein Aufsatz Mehrings, der sprachliche, inhaltliche und ideologische Parallelen zwischen diesem spätmittelalterlichen Buch und den „Haupt-Büchern“ der NS-Bewegung, nämlich Hitlers „Mein Kampf“ und Alfred
Rosenbergs „Der Mythos des 20. Jahrhunderts“, verdeutlicht.

In seinem zuerst 1952 erschienenen Erinnerungsbuch „Die verlorene Bibliothek. Autobiographie einer Kultur“, das eine umfangreiche, weithin bissige und sicher in mancherlei Hinsicht auch ungerechte Auseinandersetzung mit Schriftstellern des 19. und 20. Jahrhunderts darstellt, deren Werke in der Bibliothek seines Vaters standen, die durch die Nationalsozialisten zerstört wurde, hat Mehring dargestellt, wie er den „Hexenhammer“ entdeckte. Dieses Buch habe, so schreibt er, „ein ungeheiltes Jugendtrauma, eine unvergeßliche Schockwirkung“ in ihm hinterlassen. Dabei hat er sich der vollständigen Lektüre dieses Werkes ausgesetzt, „wollüstig angeekelt die erpreßten, flagellantischen Selbstzerfleischungen genossen“, „diese Lektüre verschlungen“.

Mehring hat in seinem Aufsatz die Entsprechungen zwischen dem Geist der Hexenjäger und der Nazi-Ideologie dargelegt: „Den Hexenwahn hat der Rassemythos ersetzt.“ Wurden im „Hexenhammer“ die Hexen als Personifizierung des Bösen gesehen, so geschah Vergleichbares in Hitlers „Mein Kampf“ mit den Juden: Er sei „in seiner Gemeinheit so riesengroß, daß sich niemand zu wundern braucht, wenn in unserem Volke die Personifikation des Teufels als Sinnbild alles Bösen die leibhaftige Gestalt des Juden annimmt“.

Bekanntlich war es zu der Zeit, als die Hexenverfolgungen in massiver Weise einsetzten, die schlimmste Ketzerei und ein Zeichen für Besessenheit vom Teufel, wenn jemand nicht an Hexen glaubte. Hier zeigt sich eine Entsprechung im Denken Hitlers, der ohne allen Sinn für die Realität die Auffassung vertrat, der Jude „begründe(t) die marxistische Lehre“. Es sei daran erinnert, daß die vierzehn Jahre der Weimarer Republik von führenden NS-Ideologen als die Zeit des „Marxismus in Deutschland“ bezeichnet wurden. Wurde von den Autoren des „Hexenhammers“ den Hexen jede nur denkbare Gemeinheit, jede nur vorstellbare Bosheit zugetraut und auf sie zurückgeführt, jedes menschliche Leid als Untat der Hexen eingestuft – etwa Krankheiten, unerwartete Todesfälle usw. -, so argumentierte Hitler mit Blick auf die Juden ähnlich: Er diffamierte alles jüdische als „Pestilenz“ und als „giftige Seuche“ und behauptete, daß durch das Judentum „nur der Wahnsinn zur Wirklichkeit zu werden vermag, niemals die Vernunft“.

Ehrsame Burger

Die lange Zeit vernachlässigte Verarbeitung des Themas „Hexenverfolgungen“, die erst im Laufe der achtziger Jahre durch Publizierung einer Vielzahl von Büchern und Aufsätzen zum Thema korrigiert wurde, hat inzwischen zumindest deutlich werden lassen, daß diese Massenverfolgungen und -hinrichtungen System hatten. Was Walter Mehring –  bereits 1933! – über den „Hexenhammer“-Autor Heinrich Institoris schreibt, klingt heute wie eine nachträgliche Analyse des Terrors und staatlich legitimierten Massenmordes unter Hitler: Es sei „das Martern von Menschen in ein geregeltes System gebracht“ worden, und Institoris sei der „Vorgänger des hygienischen Mords. Die Pedanterie wurde bis zum Exzess betrieben. Denn all diese Henkersknechte waren ja nicht verhungerter, rachedurstiger Pöbel. Ehrsame Bürger waren sie; pflichttreue Schinder, gewissenhafte Akademiker der Bestialität“.

Auch in anderen schriftstellerischen Arbeiten schon zu Beginn seines Exils zeigte Mehring eine große Fähigkeit, die nationalsozialistischen Phrasen und den pathetischen Sprachstil zu entlarven. In dem 1989 erschienenen Sammelband „Zu Hitler fällt mir noch ein Satire als Widerstand“ gehören die Beiträge Mehrings sicherlich zu den interessantesten und wichtigsten Texten, so etwa seine im Jahre 1935 im „Neuen Tage-Buch“ erschienene Version vom Rotkäppchen-Märchen, das er in die Hitlerzeit verlegt und das er angesichts der für die Exilierten bedrückenden Erkenntnis der Unterstützung des Hitler-Staates durch viele Regierungen mit dem bitteren Satz enden läßt: „Und soweit sie nicht gefressen sind, kreditieren sie ihm noch heute.“ Einige Jahre später, im April 1939, veröffentlicht Mehring im „Neuen Tage-Buch“ eine Satire auf die Nazis unter dem Titel „Schema der nächsten tausend Reden“ – auch hier eine inhaltlich und stilistisch glänzende Parodie dessen, was etwa Goebbels regelmäßig von sich gab.

Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde Mehring, der den Nazis 1938 in Wien mit knapper Not entkommen war, in französischen Lagern interniert. Er entkam in die USA und kehrte erst 1953 nach Deutschland zurück. Aber die geringe Bereitschaft zur Aufarbeitung des Hitler-Terrors bei vielen Deutschen und das Gefühl, in diesem Land keine Heimat mehr zu haben, ließ ihn bald in die Schweiz übersiedeln.

Seine Odyssee als Exilant hat er – in Prosa und Versen -in dem Band „Topographie einer Hölle – Reportagen der Unterweltstädte“ dargestellt. Das Manuskript ging allerdings 1976 verloren, konnte jedoch anhand der (meist handschriftlichen) Erstfassung zum Teil rekonstruiert werden und erschien 1979 unter dem letztlich die ganze Problematik umfassenden Titel „Wir müssen weiter“. Es ist ein erschütterndes Dokument über das Schicksal eines Menschen, der permanent mit Blick auf das Schicksal von Freunden Nachrichten erhielt, in denen es hieß: „Verschollen! . . .  Verschleppt! . . . Ermordet!“

Am Ende dieses Lebens stand nicht der Haß, wohl aber die Verbitterung und die Einsamkeit. Am 3. Oktober 1981 stirbt der Dichter in einem Züricher Krankenheim. In seinem Zurückgezogensein wurde am Ende noch einmal das Lebensgefühl des Außenseiters deutlich, der zu Beginn seines schriftstellerischen Schaffens in einem Lied geschrieben hatte: „Doch trat ich außer Reih und Glied -/ ja, dann verzeiht!/ Hier steht ein Mann und singt ein Lied/ zum Trotz – am Rand der Zeit . . . “ 

(Tietze, Ulrich: Außer Reih und Glied – Walter Mehrings Sprachgewalt als Waffe des Gejagten; in: Lutherische Monatshefte H. 4/35. Jg. vom April 1996, S. 24f. Dem Autor vielen Dank für die Rechte, den Text hier veröffentlichen zu können.)

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1956 1964 Brief Kabarett

Mehring bedankt sich für Geburtstagswünsche bei Willi Schaeffers

Zürich, 4. Mai 1956

Zur Erinnerung an Willi Sschaeffers

Lieber Willi,

heißen Dank für Ihren Händedruck zu meinem 60. Wiegenfest, dem alten Veteran, der sich, wie Sie, dunnemals tapfer geschlagen hat: im Café Größenwahn und bei Schwannecke ~ unter unserm dicken, prächtigen Brigadegeneral, Exz.
Tucho, der längst nun ins Walhalla a. d. Panke versetzt wurde und eine nachlebenslängliche Pension bezieht ~ wie sich das gehört. Und gedenken wir auch ernsthaft der gefallenen Kameraden Paule Grätz und Morgan und Grünbaum . . .
Es grüßt Sie mit Ihrem »Es lebe die (je nach Wunsch auszufüllende) Republik!«

Ihr old man Walter Mehring

(Traute Schaeffers und Peter Schaeffers (Hg.): „Wer darf sagen: ich liebe Dich-?“ – Zur Erinnerung an Willi Schaeffers; Berlin: Privatdruck 1964, S. 9.)

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1934 Lyrik

Mehring im niederländischen Exil-Band „Brandende Woorden“

Brandende Woorden uit DuitschlandGedichte von Erich Kästner, Walter Mehring, Ernst Toller, Erich Arendt, Max Ophüls, Alfred Kerr, Emil Ginkel, Kurt Tucholsky, Johannes R. Becher, Erich Weinert, Erhard Winzer und Oskar Maria Graf sind in dieser Anthologie deutscher Exildichtung aus den Niederlanden versammelt. Auf 47 Seiten Martien Beversluis eine einigermaßen repräsentative Auswahl nicht nur zusammengestellt, sondern auch übersetzt. „Brandende Woorden uit Duitschland“ heißt der Band – Verbrannte Worte aus Deutschland.

Beversluis (1894 – 1966) stammte aus einer Pfarrersfamilie. Er dichtete und engagierte sich für die sozialistische Sache. In dieser Phase entstand auch dieser Band bei den Buchfreunden Solidarität (Boekenvrienden „Solidariteit“) in Hilversum. Aber sein linkes Engagement blieb temporär. Später mutierte er zum Nationalsozialisten, für deren Partei niederländische Partei er sogar Bürgermeister einer Kleinstadt wurde. Seine eigene Dichtung schreckte in den 1940er Jahren, den Jahren der deutschen Besatzung auch nicht vor antisemitischer Hetze zurück.

Doch im Jahr 1934 war das noch nicht absehbar. Beversluis arbeitete damals beim Arbeiter Rundfunk Verein (VARA). Hier lernte er Heinhz Kohn kennen, dem er bei seinem Verlagsprojekt Boekenvrienden „Solidariteit“ unterstützte. Els Andringa führt in seinem Buch über das Geflecht der deutschen und niederländischen Verflechtungen des Exils allerdings aus, dass Beversluis trotz seines späteren Antisemitismus keinen seiner Bekannten aus seiner sozialistischen Phase verraten haben soll.

Ein gutes dreiviertel Jahr nach der Bücherverbrennung in Berlin war das kleine Buchprojekt durchaus wichtig. Es zeugte tatsächlich von Sildarität. Und es versuchte Interesse für die verbannten Autoren und ihre verbrannten Texte zu wecken.

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1935 1936 Biografisches Prosa Zeitschriften

Walter Mehring verabschiedet sich von Kurt Tucholsky

Abschiedsbrief an Kurt Tucholsky

Lieber Peter Panter,

Kurt Tucholsky in Paris 1928. Quelle: Wikipedia
Kurt Tucholsky in Paris 1928. Quelle: Wikipedia

nun schreibe ich Ihnen da zum letzten Male; und so sinnlos ist mir das Schreiben noch nie vorgekommen. Früher, wenn ich einen Brief an Sie in den Kasten warf – und als Sie in Ihrem Pariser Faubourg le Vésinet wohnten, ich in der Rue de Vaugirard, geschah das drei- bis viermal die Woche -, lächelte ich selig wie ein preußischer Säugling, dem man die erste Spielzeug-Handgranate ins Händchen gibt, im Vorgeschmack Ihrer Antwort. In deutscher Sprache hat keiner Briefe geschrieben wie Sie. Die an mich gerichteten hatte ich sorgfältig gesammelt, jedes Stück, jeden Zettel; auch jenes Couvert mit dem großen Tintenklecks drauf; Sie hatten ihn blau umrandet und dazu geschrieben: „Das hat die Post gemacht!“ Sie sind alle verloren! Es wäre einer der herrlichsten Tucholsky-Bände geworden.

Jede Zeile, jede Polemik von Ihrer Hand war ein Brief, gerichtet an die heroischen Dummköpfe, die Gangster mit Gymnasialbildung und die Sonnewendpriester in Gesundheits-Wollersatz-Wäsche. Die Adressaten konnten nicht einmal mogeln, sie hätten das Schreiben nicht erhalten. Es traf sie mit tödlicher Sicherheit. Man hat Ihnen den Empfang allseitig durch Ausbrüche zügellosen Hasses bestätigt.

Seit drei Jahren sind diese Briefe an die uns aufgezwungenen Zeitgenossen ausgeblieben; und vor einem Jahr kam der letzte private an mich. Hätten Sie gewußt, wie wir alle darauf gewartet haben; wie wir uns gesehnt haben, zu wissen: Was sagt Peter Panter dazu? Es hätte nichts mehr an dieser zum Zeitgeist beförderten dementia geändert. Aber wir wären jedesmal für ein paar Stunden den Albdruck losgeworden: Nein, wir träumen nicht! Es gibt noch ein gesundes Hirn, eine unbestechliche Vernunft!

Dank Ihnen waren wir ja nicht überrascht! Wer je Sie gelesen hatte, mußte wissen, daß es so und nicht anders kommen würde. Darf ich Sie zitieren?

„Lieber Mehring,
vielen schönen Dank für Ihren werten Schrieb! Ich bin schrecklich neugierig: haben Sie ein Heim? Wo wohnt das? Sieht man von da den sacré Kör? Haben Sie eine puanderie? Wie ist es überhaupt? Hei!

Des weiteren, lieber W. M. – ein chronischer Katarrh, wie er auf mir sitzt, mag ja das Weltbild stören. Aber jedennoch: so wenig wir von dem, was sich da ereignet, überrascht worden sind, je desto weniger kann ich noch mitmachen. Was die Nichtüberraschung angeht, so sehe ich uns noch beide schweren Schrittes auf der Gare St. Lazare herumstolpern, wir beredeten es alles, und es hatte etwas leicht Komisches: um uns brausten die Leute, und wir hatten es mit dem kl. Weltuntergang. Und wir haben doch Recht behalten, ein größerer steht bevor, und so sehr ich gegen die Leute bin, die, wie der gute O. gesagt hat, „eine Villa mit prachtvollem Weltuntergang“ besitzen, so klar sehen wir ja wohl, was nun kommen wird …“

Nein, ich zitiere nicht weiter. Es hören Leute zu, die darauf lauern, Ihre sublimsten Worte kotig zu interpretieren. Für solche Umwelt, mit der man sich erst wieder über das ABC
verständigen muß, war Ihre Schreibweise – zum höchsten Ruhme sei es Ihnen gesagt – nicht bestimmt. Und darum schwiegen Sie. Es sind Ihre Einwände:

„Denken Sie sich bitte, wir gingen noch einmal an unserer alten Penne vorbei, also jetzt, heute – und da seien durch ein Wunder noch dieselben Pauker am Werk. Wir kommen gerade in die Pause. Und wir hören die Gespräche: ,Au – Mensch – heute gibt er die Hefte zurück? Ob er sie zurückgibt? Ich habe sicher eine IVI“ usw. Also gut, wir grinsen ein bißchen wehmütig oder amüsiert- aber es ist doch ganz und gar ausgeschlossen, daß Sie oder ich mehr als eine kleine Anregung für ein paar Verse mit nach Hause nehmen. Es ist doch ganz und gar ausgeschlossen, daß wir das nochmal ernst nehmen könnten! Könnten wir? Sicher nicht…

Und nun soll ich das immer weitermachen? Immer wieder diesen albernen Jargon bewitzeln, über den ich auch in der Karikatur nicht mehr lachen kann  Mein Herz schlägt nicht mehr schneller. Ich lese nicht mehr die deutschen Zeitungen, seit Monaten habe ich keine mehr in der Hand gehabt. Es reizt mich gar nicht mehr. Ich weiß kaum mehr, wie die maßgebenden Schießbudenfiguren heißen …“

Sie würden sich eins lachen über die Punkte, durch die ich schamhaft einige Ihrer Sätze ersetze. Ich möchte nicht an Ihrem Grabe das Gemurmel mancher Leidtragender hören: also doch ein Drückeberger! Aus der Reihe getanzt! Haben Sie das gehört: Wir gingen ihn nichts mehr an! Die ganze Terminologie des Kasernenhofes, die so Viele mit auf die große Reise genommen haben.

Sie haben es mir immer und immer wieder bestätigt, daß das neue falsche Pathos Sie ebenso angeekelt hat wie das alte. Es ist, um einem noch die ganze Emigration zu verleiden! (Das sage ich nur hier, an Ihrem Grabe, Peter Panter! Es spitzen schon wieder die Unberufenen die Ohrenl) Sie haben es hinter sich! Und wir wissen nicht, was wir vor uns haben! Aber eins weiß ich, daß noch einmal – in zehn, in zwanzig Jahren – dieselben Leute, die Ihnen diese Konsequenz Ihres unbeirrbaren Verstandes heute ankreiden möchten, entdecken werden: Wie prophetisch recht hat Peter Panter damals gehabt, als er schrieb: „Und dann wieder alles, wie wenn nichts gewesen Wäre? Und so: ,Ach, wissen Sie, ich war ja im Herzen immer gegen Hitler – aber sehnsemah, die Umstände – – -.““

Und trotzdem: „Rheinsberg“ und das „Pyrenäenbuch“, „Mit 5 PS“ und „Lerne lachen ohne zu weinen“. – Das soll es nicht mehr geben? Lächelt die Mona Lisa nicht mehr? Verstummt Wendriner, unser Berliner Don Quixote? An den Sie mehr Herz verschwendet haben, als die meisten ahnten? …Kein Satz mehr des Wrobel, kein Vers mehr des Tigers, der uns verblüffend das Wort von der Zunge nahm? Andere betätigen sich als Gedankenleser ~ das ist ein einträgliches, weil unkontrollierbares Gewerbe. Sie lasen die Hintergedanken! Da gab es keine Ausflucht.

Dem kleinen Mann, dem Wedding-Knoten, dem Wendriner und dem General haben Sie aufs Maul gesehen! Und haben das Gröbste durch Ihren Geist geadelt! Berlin war nur einmal Weltstadt! Als Sie es schrieben!

Lieber Peter Panter!
Es ist plötzlich ganz dunkel um uns geworden, hier
draußen!
Ich schließe, wie Sie Ihren letzten Brief schlossen:

„Als Ihr guter, getreuer und herzlichst grüßender“
Walter Mehring

(Dieser Text ist im Neuen Tage-Buch am 6. Januar 1936 erschienen. In einem Radioessay aus den 1960er-Jahren erinnerte sich Mehring, wie er vom Tod Kurt Tucholskys erfahren hat: „In Wien, Dezember 1935, traf mich die telegraphische Nachricht des Pariser Neuen Tage-Buchs: ‚Tucholsky verstorben – Erwarten Nachruf‘. Die Wiener Weltpresse meldete sesantioneller: ‚Selbstmord eines bekannten Exilautors in Schweden…‘ (…) Der Selbstmord ist eine schleichende Gemütskrankheit, scheint mir, die letzte Ausflucht aus dem Ich-Selbst, und ein exitus letalis des Exils, den dreißig namhafte deutsche Schriftsteller nachher gewählt haben.‘ (Walter Mehring: Kurt Tucholsky; Berlin: Friedenauer Presse 1985, S. 13))

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1921 1961 Prosa

Walter Mehring: Tucholsky, der Vamp und die Canaille

René Droz (Hg.): Marlene Dietrich»Das Wort Vamp wurde erst Mode, als es die Frauen, die es bezeichnen
sollte, schon nicht mehr gab …«
Walter Mehring

Als ich Walter Mehring fragte,wie er den Vamp definierenwürde, lächelte er milde und sagte, daß selbiger nicht zu definieren sei. »Der Vamp, den Ihr Jungen von der Leinwand kennt, ist ja ohnehin nur ein Abklatsch. Damals in Berlin … da stand er vor uns, auch wenn wir dieses Schlagwort nicht dafür brauchten. Diese Künstlerinnen waren so einmalig, daß sich jeder Versuch, sie unter einen Sammelbegriff einzuordnen, von selbst verbot … Damals gab es auch noch Schriftsteller, welche diese Individualität zu schildern vermochten. Wenn ich nur an Valeska Gert denke und an die großartige Charakterisierung, welche Tucholsky von ihr gegeben hat …« Vielleicht besitze er das Heft der »Weltbühne« noch. Dann würde er es mitbringen. Tucholsky habe in wenigen Worten das Wesen des Vamps für immer festgehalten, und dies zu einer Zeit, wo der Vamp, ohne daß er diesen Namen trug, eine lebendige, künstlerische Realität war…

Die erwähnte Kritik hat Kurt Tucholsky 1921 geschrieben, und dort liest man folgende Sätze:

»In den Lichtbogen schlurft eine Schlampe in Schwarz, der rote Halsbesatz deckt den Kopf ab – einen verluderten, unfrisierten Kopf. Wer ist das? Was ist das für ein Gesicht? Die ,Vorstadtdirne‘ von Toulouse-Lautrec ist eine Gräfin dagegen – gegen diese Nutte. Gleichgültig schieben sich die Schulterblätter hoch – gleichgültig schiebt sich das gemietete Stück Fleisch aus der Auslage durch die Straße. Und wird von einem Kerl ergrifien – und produziert das Frechste, was wohl je auf einer Bühne gemacht worden ist. Die Beine öfinen und schließen sich. Und Gleichgültigkeit, Krampf – dennoch Krampf! – und Geldgier schütteln den ausgeschaukelten Körper: eine Lues und die Heilsarmee kämpfen mit gleicher Inbrunst um diese arme Seele. Wer sich je bei den ,berüchtigten Berliner Nackttänzen‘ nach dem Laster gesehnt hat: hier ist es. Und noch nie habe ich so verstanden, wie Lust und Qual auf demselben Loch gepfiffen werden. Und dann haucht sie die letzte Lust aus, spuckt aus, ohne es zu tun – und versinkt.

Diese ,Canaille‘ ist eine wahrhaft geniale Leistung …« [1921]

Aus: René Droz (Hg.): Marlene Dietrich; Zürich: Sanssouci Verlag 1961, S. 17 f. Das Zitat findet sich in: Kurt Tucholsky: Valeska Gert; in: Die Weltbühne, 17. Jahrgang, Nr. 7, S. 204.

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1929 Brief

Kurt Tucholsky schreibt Mehring über Brecht, Bronnen und Kerr

An Walter Mehring. Läggesta, 25.5.1929

Post: Weltbühne

25-5-29

Lieber Walt Merin,

ich bin zwar schon ganz rammdösig vom Tippen – aber das wollen wir doch noch mal. Item:

Schönen Dank für Ihren Brief. Um Gussys Anblick habe ich Sie sehr beneidet – ich hoffe immer noch im stillen, daß die heilige Familie hier raufmacht, wo ER ungeheuer pompulehr ist – dann führe ich sofort nach Stockholm.

Ja, Bronnen. Also Sie sollten, wenn man überhaupt soll – daran knabbere ich noch. Nicht etwa wegen Rowohlts; der ist darin sehr anständig, er weiß, daß ich das Buch ablehne. Nein – wegen des Helden selbst. Ist das eine Reklame für ihn? Im Waschzettel «Ein umstrittenes Buch»  Andererseits: mich juckt es furchtbar. Meine Notizen sind in Ordnung, aber ich weiß noch nicht. Daher kann ich nicht so ohne weiteres Ihnen zuraten – obgleich Sie das besser machen als ich: Sie haben für diese Fälle eine pfeifende, tödliche Ironie, die in meinem Fett nicht wohnt ~ da bleibt dann aber wirklich kein Auge trocken. Wenn Sie es tun, dann schlagen Sie zu, daß die Fetzen fliegen. Sie brauchen nicht lange zu suchen – das Buch besteht nur aus „Stellen“ – es ist beispiellos: an innerer Verlogenheit; an Gemeinheit; an sexueller Schweinerei – das ist wirklich eine, wo man sich die Nase zuhält – von mir aus kann in jeder viel gevögelt werden … aber das ist nur zum Speien. Eine tolle Nummer.

Ich fand Kerrs Angriff gegen diese ganze Gesellschaft prachtvoll bei allen Einwänden – er ist ja doch einer. Was ist das für eine Umfrage, bei der Sie auch geantwortet haben? Kann ich die mal haben – ich schicke sie sofort zurück.

Daß Brecht Sie vernichten will, ist in Ordnung. Ich hoffe, in Ihrem Sinne gehandelt zu haben – ich habe mal meinen ganzen Kummer herauslaufen lassen. Sie kommen natürlich auch drin vor.

Was ist das nun -: mir hat nie einer was getan; der Doktor Klein hat mich geschäftlich äußerst korrekt behandelt, sogar mehr als das; von Piscator und Gasbarra bekomme ich nur diskutierbare und anständig gemeinte Vorschläge … und ich kann nicht. Ich danke immer dem lieben Gott, daß ich kein Talent fürs Theater habe – es wäre mir unmöglich, auch nur zwei Stunden mit diesen Menschen zusammenzuarbeiten. Nicht nur wegen der pekuniären Unzuverlässigkeit – aber diese Atmosphäre von Betrug, Hysterie, Wahnwitz, Weiberkram – also ich nicht. Mein Leben verläuft anders. Jeder seins.

Und Ihr -? Kaufmann von Berlin? Geht das Buch bei Fischer gut? Was tut sach sonst?

Das teile mal an einem schönen Sommerabend mit

Ihrem ergebenen

Mitglied des Reichs-Wildschützen-Vereins
Kassenführer im Verband Deutscher
päpstlich geweihter Präservativfabriken

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1940 1941 Lyrik

Mehring liest einen Brief aus der Mitternacht

Der X. Brief aus der Mitternacht ist wohl der beeindruckendste des Gedichtzyklusses. Im Exil an seine Freundin Hertha Pauli geschrieben fassen die zwölf Gedichte die Stimmungslage und die Erlebnisse der Jahre 1940 und 1941 von der Flucht aus Paris bis zum Januar 1941 in Marseille zusammen. Von der Abreise nach Martinique und der Weiterreise in die USA ist in dem Zyklus noch nichts zu ahnen. Der X. Brief ist von einer traurigen, fast schon sprachlosen Erinnerung an zwölf inzwischen verstorbene Freunde und Kollegen geprägt. Wobei die Sprachlosigkeit natürlich in Worte gefasst ist. Sie ist der Eindruck, der beim Lesen, beim Hören entsteht, weil diese sprachmächtigen Freunde von Erich Mühsam über Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky, Ernst Toller, Joseph Roth über Ernst Weiss, Ödon von Horvath, Carl Einstein und Rudolf Olden, Walter Hasenclever bis zu Theodor Lessing ihre Sprache, ihr Leben verloren haben. Weil diese Schriftsteller von den Nazis ermordet oder auf der Flucht ihr Leben verloren haben, beziehungsweise sie es sich wie Ernst Toller nahmen, weil sie das Exil und die Aussichtslosigkeit nicht mehr ertrugen.