Jahre nach der Flucht aus Wien von Walter Mehring haben er und Hertha Pauli in ihren jeweiligen Erinnerungen genau diese geschildert. Wer die beiden Texte nebeneinanderlegt, stellt fest, dass sie sich in einigen Details unterscheiden. Dass vermutlich die Erinnerung Walter Mehrings eher den Tatsachen und weniger der Dichtung entspricht, überrascht insofern, als in der Forschung bisher eher die Auffassung vertreten wurde, dass Mehring es umgekehrt sei. Und dass Mehring angesichts seines großartigen Erinnerungswerkes „Die verlorene Bibliothek“ eher zu einer dichterischen Betrachtung der realen Ereignisse tendiert habe.
Schlagwort: Hertha Pauli
„Kaum waren einige gerettet, drängten sich andere. In den Straßen Marseilles sah man immer mehr der unheimlichen Gestalten in langen grauen Mänteln und hohen schwarzen Stiefeln. Nur flüsternd gab der eine dem anderen die Kunde von dem unbekannten Amerikaner und seinem anonymen Komitee. Manchmal trafen die ersehnten Visen ein – für Tote. Für Ernst Weiß, für Walter Hasenclever. „Kann man uns vielleicht an ihre Stelle setzen?“ fragten Walter Mehring und Leonhard Frank. Nein – auch dazu benötigte man eine Genehmigung. Carl Einstein, der Poet und Theoretiker der Negerplastik, erhängte sich in Marseille, als man ihn von der Grenze zurückgeschickt hatte. In der „Bar Mistral“ saßen Mehring und Frank und rätselten über ein Telegramm von Hermann Kesten aus New York: „Das amerikanische Visum? […] Die Antwort? Von Thomas Mann? Nicht direkt. […] Der Satz, über den die Dichter grübelten, lautete: ‚Rescue visa following, by messenger maybe.‘ […] Frank starrte auf das Blatt. Messenger heißt Bote, das weiß ich schon. Was aber heißt maybe?’ Walter sprang ungeduldig auf und begann wie in einem Käfig auf und ab zu gehen. ‚Das habe ich Ihnen doch schon gesagt‘, rief er, ‚maybe heißt: kann sein – vielleicht.’ Frank folgte ihm mit seinem durchbohrenden Blick: ‚Vielleicht, jaja – mehr ja oder mehr nein?’ Mit einem Ruck blieb Mehring vor ihm stehen und erwiderte scharf: .Vielleicht’. Und Frank wiederholte hartnäckig: ‚Mehr ja oder mehr nein? Was heißt maybe?‘“
Der X. Brief aus der Mitternacht ist wohl der beeindruckendste des Gedichtzyklusses. Im Exil an seine Freundin Hertha Pauli geschrieben fassen die zwölf Gedichte die Stimmungslage und die Erlebnisse der Jahre 1940 und 1941 von der Flucht aus Paris bis zum Januar 1941 in Marseille zusammen. Von der Abreise nach Martinique und der Weiterreise in die USA ist in dem Zyklus noch nichts zu ahnen. Der X. Brief ist von einer traurigen, fast schon sprachlosen Erinnerung an zwölf inzwischen verstorbene Freunde und Kollegen geprägt. Wobei die Sprachlosigkeit natürlich in Worte gefasst ist. Sie ist der Eindruck, der beim Lesen, beim Hören entsteht, weil diese sprachmächtigen Freunde von Erich Mühsam über Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky, Ernst Toller, Joseph Roth über Ernst Weiss, Ödon von Horvath, Carl Einstein und Rudolf Olden, Walter Hasenclever bis zu Theodor Lessing ihre Sprache, ihr Leben verloren haben. Weil diese Schriftsteller von den Nazis ermordet oder auf der Flucht ihr Leben verloren haben, beziehungsweise sie es sich wie Ernst Toller nahmen, weil sie das Exil und die Aussichtslosigkeit nicht mehr ertrugen.
Anthony Heilbut, der Sohn emigrierter deutscher Eltern, hat 1983 eine große Monografie über die Emigration in die USA vorgelegt. In ihr bespricht er auch „Die verlorene Bibliothek“. Zwar stimmen nicht alle Fakten. So war Richard Huelsenbeck Herausgeber des Dada-Almanach von 1920. Er ist also nicht Walter Mehrings Buch, auch wenn Mehring Texte beisteuerte. Dennoch ist der Auszug aus dem 480 Seiten starken Taschenbuch lesenswert, weil er den Blick auf Mehring nicht mit der rein deutschen Brille wirft. Und in einem Jahr, in dem „Die verlorene Bibliothek“ neu im Elster-Verlag aufgelegt wurde, sind solche Fundstellen umso lesenswerter. (A.O.)
Den vielleicht wehmütigsten Abgesang auf die Emigrantenkultur stimmte unerwarteterweise Walter Mehring an. Im Unterschied zu den anderen Schriftstellern war er ein echter Berliner, dort geboren und Sohn des Zeitungsverlegers Franz Mehring, der einst Rosa Luxemburg unterstützt hatte [Mehrings Vater war Sigmar Mehring. Der Fehler steht so in Heilbuts Text.]. Sein kulturelles Debüt hatte Walter Mehring im Alter von zweiundzwanzig Jahren gegeben, als er zusammen mit seinem Freund George Grosz eine Dada-Matinee auf die Bühne brachte. Höhepunkt der Show war ein Wettrennen zwischen einer Nähmaschine und einer Schreibmaschine. Zwei Jahre später erschien, illustriert von George Grosz und verlegt von Wieland Herzfelde, sein Dada-Almanach von 1920. Mehrings Gedichte erinnern an Pop-Lyrik („Berlin, dein Tänzer ist der Tod – Foxtrott und Jazz -„), und das Kabarett war ihr Forum. Als Berlins führender Kabarett-Dichter fand Mehring bald Eingang in die Kreise um Brecht, Grosz und Reinhardt. Lange vor der überschätzten, unausgegorenen Pop-Poesie der sechziger Jahre schuf Mehring etwas wirklich Neues, verflocht Töne und Bilder zu Rhythmen seiner Stadt – ein Foxtrott am Rande des Abgrunds.
Mehrings Talent war nicht nur, wie Grosz vermerkte, beseelt von François Villon und Heine, sondern auch von anderen, überraschend literarischen Vorbildern. Der französische Vaganten-Dichter und der frankophile deutsche Jude waren in der Tat angemessene geistige Ahnen. Mehring selbst verbrachte die zwanziger Jahre zum großen Teil in Paris. Tucholsky pries ihn als den ersten, der Berlin so sehe, wie die Welt gewöhnt sei, Paris zu sehen. Anfang der dreißiger Jahre wollten die Nazis ihn verhaften. Sie fanden ihn wie gewöhnlich in einem Café, doch Mehring gab vor, nicht er selbst zu sein, entkam seinen Häschern und kehrte nach Paris zurück. Dort verlebte er die dreißiger Jahre inmitten seiner Mitexilanten, und der Galgenhumor, mit dem er sie unterhielt, ließ auch den alten Berliner Kabarett-Geist überleben. Während dieser Zeit entfremdete er sich zunehmend seinen marxistischen Freunden, die ihre Ideologie je nach Weisung Moskaus änderten. Der loyale Kommunist
Wieland Herzfelde hat Mehring die Abwendung von der Sowjetunion nie verziehen und warf ihm vor, deren Krieg mit Finnland (1939) ganz einfach mißverstanden zu haben. In einem Brief, den er Mehring zum fünfzigsten Geburtstag schrieb, nannte er ihn einen „bastard“.
Aus Frankreich entkam Mehring über Marseille und erreichte 1941 die USA. Er verbrachte die übliche unerfreuliche Zeit in Hollywood und ging dann nach New York, wo auch seine alte Freundin Hertha Pauli und ehemalige Dadaisten-Kollegen wie Huelsenbeck, Grosz und Herzfelde lebten. 1944 erschien eine Sammlung seiner Gedichte, illustriert von George Grosz und übersetzt von einem linken amerikanischen Freund Erwin Piscators. Vorübergehend arbeitete Mehring auch für die Propaganda-Abteilung des Office of Strategic Service und brachte sich später als Arbeiter in einer Fabrik auf Long Island durch.
1951 veröffentlichte er The Lost Library: Autobiography of a Culture, das er zum Teil auf der Tabakfarm eines Pazifisten und Jazzmusikers in New England geschrieben hatte. Wer hätte solch ein Buch von ihm erwartet? Mehring gedenkt der Berliner Bibliothek seines Vaters und bekennt sich damit zu der gelehrten humanistischen Tradition, der er entstammte und die er mit seinem eigenen populären Stil einst schmähte. Aber irgendwie brachte die amerikanische Umgebung eine Annäherung zwischen Vater und Sohn, hoher Kultur und Kabarett. Mehring beschwört die Tradition mit jenem echten Berliner Ton, keck, dicht und sehr smart. Wenn er will, weiß er mit literarischer Mimesis so sorgsam umzugehen wie Erich Auerbach. Doch öfter noch ist er von ganz erdgebundener Respektlosigkeit: Marx ist ein unlesbarer alter Langeweiler, Nietzsche und Schopenhauer hat die Syphilis den Verstand geraubt. Mit Melancholie hat er als typischer Emigrant nichts im Sinn. Gegen den Kummer über die verlorene Bibliothek empfiehlt er gute Laune und guten Sex, nicht ein besseres Buch, sondern einen besseren Orgasmus.
Doch trotz seines smarten Tons ist es kein glückliches Buch, und am traurigsten ist es da, wo Mehring in literarischen Schätzen schwelgt und zugleich erkennt, wie nichtig und ohne Wert sie in der gegenwärtigen Zeit waren. Als Kabarettdichter und -komponist verstand Mehring sich auf sprachliche Rhythmen. Er sah, daß sich eine Veränderung der Wirklichkeit in der Grammatik widerspiegeln kann, noch bevor die Betroffenen sie wahrnehmen. Sprache vermag nicht viel, aber sie kann den Leser auf das vorbereiten, was in der Zukunft auf ihn wartet. Davon war Mehring überzeugt, und darum nahm er auch gegen Gide Partei für Proust. Gide hatte dem Jüngeren „willkürliche Behandlung der Zeiten“ und „verschwenderischen Mißbrauch des Subjunctivs“ vorgeworfen. Gide, so Mehring, sah nicht, daß Proust der Grammatik und der Syntax von Weissagung und prophetischen Träumen folgte und daß sein Subjunctiv der „Subjunctiv des Zweifels“ war. Dieser letzte glänzende Gedanke ist nicht nur gültig für die Ereignisse in Prousts Roman, er trifft auch das Emigrantenleben, denn im Bewußtsein vergangenen Verrats und Betrugs – „der Korruption aller Bindungen“ – weckte jeder erfüllte Wunsch Argwohn. Der Subjunctiv des Zweifels mißbilligte sehnendes Verlangen und gestattete eine schützende Distanz zu der inneren Gewißheit, daß unsere Hoffnungen entweder banal oder zum Scheitern verurteilt sind.
Die Bibliothek ist verloren. Die Weisheit, die sie enthielt, ist verstreut in Zeit und Raum, unendlich weit entfernt von einer New-England-Farm des Jahres 1950. „All diese Dinge existieren nur noch im Plusquamperfekt oder in einem passé defini“: Die Angelegenheit hat ihre grammatische Form gefunden und ist damit erledigt. Kundig zu lesen sei des Emigranten größtes Talent, schreibt Mehring, doch gibt er zu, daß die Besinnung auf Vergangenes ein müßiges Unterfangen sei, obwohl doch sein Buch beweist, daß es gerade jene Besinnung war, die den Emigranten half, durchzuhalten. Was bleibt? Was hat noch Sinn? Politisches Engagement jedenfalls nicht, wenn es nach Mehring geht. Am besten ist es noch, nach „Korrektur seiner selbst“ zu streben: ein Rückzug oder Ausweg, der nicht weniger in die Enge führt als der Weg von Berlin auf eine Tabakfarm. Das Nächstbeste ist die Fähigkeit, andere zu unterhalten. In einer letzten Berliner Posse verrät man seine ernsthafte Seite und zieht sich auf die Komödie zurück. Einen Galgenhumoristen hängt man nicht: Die Emigration hat ihn gelehrt, daß es sich auszahlt, sein Innerstes zu verbergen.
(Anthony Heilbut: Kultur ohne Heimat – Deutsche Emigranten in den USA nach 1930; Reinbek: rororo 1991; S. 281-283).
Die letzten 24 Stunden in Wien waren für Walter Mehring sehr turbulent. Und wieder einmal sehr außergewöhnlich. Konnte er sich nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 durch seine Selbstverleugnung zum Bahnhof und von dort mit dem Zug nach Paris absetzen, so war er am 11. März 1938 in dirketer Nähe zu einem der wichtigsten Männer der österreichischen Nationalsozialisten, dem Innenminister, Zwei-Tage-Kanzler und dann Statthalter der Ostmark, Arthur Seys-Inquart. Nach der Begegnung im Café Herrenhof machte sich Walter Mehring auf den Weg in sein Zimmer im Hotel Fürstenhof am Westbahnhof. Dort wollte er seine Bibliothek zusammenpacken und sich auf die Flucht vorbereiten. Hertha Pauli und Carl Frucht sortierten in Paulis Wohnung die Manuskripte ihrer Literaturagentur.
Auf den Straßen Wiens sind überall Nazis, die in Österreich von 1933 bis in den Februar 1938 verboten waren. Da der Nationalsozialist Seys-Inquart Innenminister war, war die Polizei verunsichert. Sie sorgte nicht mehr für Sicherheit für jedermann. Wichtigstes Informationsmittel war in diesen Stunden das Radio. Den Rücktritt von Bundeskanzler Schuschnigg, der kein deutsches – und damit ist auch österreichisches – Blut vergießen will, erfahren sie über den Hörfunk. Und damit die Notwendigkeit schnell die Flucht vorzubereiten. Hertha Pauli ruft deshalb sofortaus einer Telefonzelle im Fürstenhof an, um Mehring zu warnen. Und um ihn zu sich zu bitten.
In ihrer Erinnerungen schreibt sie: „Nach neun Uhr kam Mehring, weiß wie die Wand. Die tobenden Horden hatten sein Taxi am Gürtel aufgehalten. Der Chauffeur war durch Seitengassen entkommen, schimpfte auf die ‚Saubagasch‘ und vermittelte die neuesten Nachrichten: im ersten Bezirk sei kein Durchkommen mehr, im Bundeskanzleramt säße die SS, Schuschnigg sei verhaftet. Mehring stürzte ans Telephon. ‚Wen willst Du anrufen?‘ fragte ich. ‚Paris. Einen Freund am Quai d’Orsay.‘ Seine Finger umklammerten schon den Hörer. Die ganze Nacht suchte er von meinem Telephon aus Paris zu erreichen. Daß dies für uns gefährlich sein könnte, war uns nicht klar; wir begriffen bloß, daß die Verbindung nicht zustande kam. Mit fieberhafter Hast taten wir sinnlose Dinge, ohne daß es uns bewußt wurde. Vielleicht einfach deshalb, weil das Leben seinen Sinn verloren hatte. Carli rannte unentwegt mit dem Anti-Nazi-Material hinunter, Mehring telephonierte, ich räumte alte Sachen um. Gegen Mitternacht meldete das Radio: ‚Bundeskanzler Seyß-Inquart hat zur Wiederherstellung der Ordnung in Berlin um den Einmarsch deutscher Truppen ersucht…‘ (…) Mehring wagte sich nicht mehr in sein Hotel: im Morgengrauen ging Carli hin, um ihm die nötigsten Sachen zu holen. Er kam mit einem Köfferchen und der Meldung zurück, daß Mehring bereits um zwei Uhr früh von der Gestapo gesucht worden war. Gott sei Dank nicht bei mir…“
Walter Mehrings Erinnerung an diese dramatischen Stunden ist etwas anders. Während Hertha Pauli meint, dass sich Mehring nicht mehr ins Hotel wagte, berichtet er selbst von einem Telefonat mit Julo Formanek, dem Eigentümer des Fürstemhofs, bei dem er gewarnt wurde: „In zwei Telefon-Anfragen entschied sich mein und meiner Bücher Schicksal. Ein Kollege – Arnold Höllriegel -, den ich in der Panik anrief, rief zurück: ‚Wien verloren! Die tschechische Grenze gesperrt! Retten Sie sich!‘ Und mein Wirt, den ich anrief, antwortete: ‚Sie kommen besser nicht mehr heim! Sie haben Besuch gehabt und Ihre Bibliothek hat er schon mitgenommen!‘ Niemals hatte ich meine Bibliothek so leibhaft Band für Band besessen wie in diesem Augenblick des Verlustes…“
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Es ist genau 75 Jahre her, dass der Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich Adolf Hitlers erfolgte. Für Walter Mehring und viele andere Exilanten war dies etwas mehr als fünf Jahre nach der Machtübernahme durch Nationalsozialisten ein neuer Schock. Sie mussten an dem 12. März erneut die Verhaftung befürchten – genauso wie die Sozialdemokraten, Kommunisten, Demokraten Österreichs. Wien war für Mehring in den Jahren zwischen 1934 und 1938 zu einer Art Heimat geworden. Im Hotel Fürstenhof lebte er inmitten der Bibliothek seines Vaters, die nach Mehrings eigener Erinnerung drei Wände des Zimmers komplett einnahm. Und da Mehring in Wien Hertha Pauli kennen- und lieben lernte, ist im Exil trotz finanzieller Schwierigkeiten und dem Verlust der deutschen Öffentlichkeit sogar von so etwas wie Glück zu Hause.
Hertha Pauli und Walter Mehring haben in ihren autobiografischen Erinnerungsbüchern die dramatische Situation geschildert, die zur Flucht Mehrings mit dem Zug vom Westbahnhof in Richtung Schweiz und Paris führte. Sie stimmen sich nicht in allen Punkten überein. Aber sie zeigen, wie nah Mehring und Pauli den Ereignissen waren. Und das ausgerechnet in einem Caféhaus, dem Café Herrenhof in der Herrengasse fast neben der Hofburg, in der Österreichs Kanzler und Teile des Kabinetts damals ihre Büros hatten und heute haben.
Hertha Pauli und Walter Mehring waren verabredet: „Ein Rendezvous im Café Herrenhof – nicht mit Seyß-Inquart, den ich weder kannte, noch zu kennen wünschte, sondern mit zwei guten Freunden. Ich musste mich beeilen, weil ich mich verspätet hatte.“ (HP) Seit dem 15. Februar war Arthur Seyß-Inquart Innenminister im Kabinett Kurt Schuschniggs. Auch dies erfolgte schon auf Druck Adolf Hitlers, der die Beteiligung der Nationalsozialisten an der Wiener Regierung ultimativ gefordert hatte. An diesem 11. März 1938 saß Seyß-Inquart nun im Café Herrenhof. „Wenn man sich beeilt, kann man das Café Herrenhof vom Bristol aus in weniger als zehn Minuten erreichen, nicht aber an jenem 11. März 1938. (…) An jenem Tag hielten mich Polizeisperren auf, weil junge Nationalsozialisten vor der Oper aufzogen. ‚Heil Hitler!‘ brüllten sie. Fragend wandte ich mich an einen der Polizisten. Der zuckte die Achseln, aber ein zweiter – Polizisten gehen gern paarweise um – sah mich plötzlich scharf an. (…) Als ich im Herrenhof auftauchte, fand ich die Freunde besorgt. Die ‚Heil Hitler‘-Rufe drangen wie ununterbrochenes Hundegekläff zu uns herein. ‚Auch die Polizisten sind Nazis‘, flüsterte ich atemlos und verstummte, weil der Ober zu uns trat.“ (HP)
Das Rendezvous, wie es Hertha Pauli nannte, war mit Walter Mehring und mit Carl Frucht. Der eine war ihr Geliebter, der andere ihr Partner bei der „Österreichischen Korrespondenz“, einer Literaturagentur. „’Was darf’s sein?‘ fragte er (der Ober; A.O.) wie immer. Ich bestellte eine Schale Gold – nur Kaffee, denn mir war der Appetit vergangen.
Im Kreis meiner Freunde erholte ich mich. (…) ‚Du mußt jetzt rasch fort‘, riet ich ihm (Walter Mehring; A.O.) im Herrenhof. Seine Ausbürgerung stand auf der ersten Goebbelsliste, was ihn mit Stolz erfüllte. ‚Und du?‘ fragte er mich. ‚Bei uns ist es -doch etwas anderes‘, erwiderte ich, und Carli setzte hinzu: ‚Wir müssen am Sonntag wählen.'“ (HP)
Carl Frucht und Hertha Pauli glaubten zu diesem Zeitpunkt noch, dass der Einmarsch der Deutschen und damit der Anschluss Östrerreichs durch den für den zwei Tage später angesetzten Wahltermin verhindert werden könnte. In Walter Mehrings Erinnerung liest sich das so: „Am Freitag morgen, einem anachronistisch strahlenden Vorfrühling, marschierte noch unentwegt weiter das alte Wien. Aber schon nahte der Termitenfraß der Nazifizierung dem Abschluß. Schon waren bis auf eine hauchdünne Zelluloseschicht die Mauern achthundertjähriger Kultur zerfressen. Die VF, die ‚Vaterländische Front‘, schien mit Fahnen, Abzeichen und Enthusiasmus die Stadt zu beherrschen. Doch nicht die Straße ist das Barometer, sondern das Caféhaus, das Wien dem vorletzten Barbarenansturm, der Türkenbelagerung, verdankt. Der größte Cafépalast der Innenstadt, Treffpunkt der Literaten, liegt zur Mittagsstunde wie verödet. Zwei Stammgäste nehmen am Nebentisch Platz. Seyß-Inquart und Glaise-Horstenau, der gerade aus Deutschland eintrifft. Der Ober, dessen Wohlwollen alle Gäste besonnt, Legitimisten und Illegale, Nazis und Juden, flüstert: ‚Der Seyß hat nur a Suppen bestellt. Jetzt, da wird’s ernst.'“ (WM) Und an einer anderen Stelle noch die Ergänzung: „Und Göring hat aus Berlin angerufen!“ (WM)
Hertha Pauli hat noch eine weitere Erinnerung an diesen Mittag im Café Herrenhof: „Unser Gespräch wurde plötzlich unterbrochen. ‚Herr Dr. Seyß-Inquart, bitte‘, rief der Ober. ‚Berlin am Apparat!‘ Am Nebentisch erhob sich ein Herr und ging dicht an uns vorbei zum Telephon in die Garderobe. In diesem Augenblick wurde mir plötzlich bewußt: diesem Mann untersteht jetzt unsere Polizei! Auf dem Sims hinter unserm Ecktisch standen liebliche Barockengelein aus Bronze. Auf einen davon zeigend, flüsterte ich Mehring ins Ohr: ‚Soll ich ihn damit erschlagen?‘ Walter schüttelte den Kopf. ‚Hilft nichts – es sind zu viele.‘ Der Innenminister kam an seinen Tisch zurück, zahlte und eilte hinaus. Besorgt blickte der Ober ihm nach. ‚Sehr nervös, der Herr Doktor‘, bemerkte er vertraulich zu uns. ‚Dem schmeckt heut‘ net amal sei‘ Apfelstrudel.’“ (HP)
Die Passagen von Hertha Pauli sind in „Ein Riss der Zeit geht durch mein Herz“ von Hertha Pauli erschienen. Die von Walter Mehring in „Wir müssen weiter“.
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Vom Westbahnhof sind es nur einige Meter bis zum Hotel Fürstenhof. Es liegt am Neubaugürtel 4. Als Walter Mehring im September 1934 aus Paris kommend mit dem Zug in die österreichische Hauptstadt einfuhr, hat er als erste Unterkunft eine naheliegende Adresse gewählt. Aber offenbar hat es ihm in dem von Inhaber Julo Formanek in einem schönen Jugendstilhaus geführtem Hotel so gut gefallen, dass er dort blieb. Und das für immerhin dreineinhalb Jahre.
Vielleicht waren es anfangs auch ganz praktische Überlegungen, die ihn in den Fürstenhof führten. Dank der Nähe zum Bahnhof war der Weg für den Transport seiner Bibliothek nicht weit. Denn nach Wien wurde ihm die Bibliothek seines Vaters, die „Verlorene Bibliothek“, aus Berlin nachgeschickt – „ins Exil gerettet dank der Komplizität der Berliner Tschechoslowakischen Gesandtschaft, dank der Kollegialität ihres Attachés, des Lvrikers Camill Hoffmann (aus der Prager Dichterrunde der Werfel, Mevrink, Kafka, Capek, die alle etwas kabbalistisch angehaucht waren), – ihn aber hat man später in einem Brandofen vernichtet.“ (Walter Mehring: Die verlorene Bibliothek, Düsseldorf: Claassen Verlag, S. 17)
Nachdem Mehring in der Nacht des Reichstagsbrandes von Berlin nach Paris floh, war die Ankunft in Wien mehr als eineinhalb Jahre später wieder eine Rückkehr in den deutschen Sprachraum. Das Hotel Fürstenhof war auch deshalb mehr als ein Aufenthaltsort: „Gewohnt habe ich zum letzten Male wohl in Wien, bevor es stürzte. Denn dort hatte ich noch alle Bücher um mich, aus meines Vaters Bibliothek, und konnte mich zu Hause fühlen.“ (ebda.) Einen gewissen Anteil hat wohl auch der Fürstenhof daran gehabt. Das Leben im Hotel war für Mehring nichts ungewöhnliches, den größten Teil seines Lebens hat er so gelebt. Im Fürstenhof hat er nicht nur in einem Zimmer gehaust. Er hatte quasi Familienanschluss, denn es war damals üblicher, in Hotels zu leben. Pensionen und Hotels, in denen die Gäste richtig lebten, beschreibt zum Beispiel auch Joseph Roth in seinem Roman „Kapuzinergruft“.
Das Einwohnermeldeamt der Stadt Wien (Auskunft vom 23. Januar 2013) vermerkt fünf Meldeperioden Walter Mehrings im Fürstenhof. Vom 26. September 1934 bis zum 3. Januar 1935 währte der erste Aufenthalt. Vom 21. Februar bis zum 26. Mai 1936 war er wieder im Fürstenhof gemeldet. Ab dem 26. August desselben Jahres folgte bis zum 13. August 1937 , die nur vom 14. Januar bis zum 15. Februar 1937 unterbrochen wurde, die dritte Periode. Ein viertel Jahr später war er in Wien zurück. Vom 19.November 1937 bis zur Flucht aus dem nun nationalsozialistischen Wien am 11. März 1938 folgte der letzte Aufenthalt in dem Hotel gegenüber vom Westbahnhof. Die Zwischenzeiträume hat Walter Mehring in Paris verbracht. Das zumindest hat er bei den Wiener Meldebehörden angegeben.
Wien aber blieb der Ort, indem er Hertha Pauli kennen- und lieben lernte. Und die Stadt, in der Walter Mehring in der Bibliothek seines Vaters lebte. Drei der vier Wände seines Zimmers im Hotel Fürstenhof waren nach eigener Darstellung voller Bücherregale. Die Bücher gaben ihm Zuflucht. Und die Erinnerung an das Auspacken uns Lesen der Bücher in Wien ist der Ausgangspunkt für seinen autobiografischen Band „Die verlorene Bibliothek – Autobiografie einer Kultur“: „Ausgeleert, Kiste um Kiste – Pandorabüchse des NachDenkers Epimetheus (mit einem trüben Bodensatz Hoffnung) – spukte ihr Inhalt auf den abgeschrubbten Dielen, dem ungemachten Hotelbett, dem rußigen Fensterbrett in der Lesegruft meines Wiener Voruntersuchungsexils.“ (ebda, S. 189)
Und der Moment der Wiederbegegnung mit diesen Büchern bleibt ihm so in Erinnerung: „Den ganzen ersten Tag über, vom Morgengrauen an, seit ein paar verdrossene Transportarbeiter Kiste auf Kiste abgeladen hatten, die sie wahrscheinlich in ihrer Wiener notleidenden Einbildung mit materiellen Genuß- und Luxusartikeln angefüllt glaubten, las ich mich sinnlos voll . . . Man kann dem Lesen so gesundheitsschädlich verfallen wie jedem anderen Rauschmittel, besonders als Europäer, der ja durch lange erbliche Belastung im gleichen Prozentsatz alkohol- wie büchersüchtig ist. Man greift zum Buche wie zum Glase, um sich über die deprimierende Nüchternheit der Zeitungssensationen – hinwegzutrinken, um den widerlichen Nachgeschmack der Medizinen, die man uns in den Spitälern der Zwangs-Heil- versuche eingibt, herunter zu spülen. Und nichts hilft so wie ein süffiges Getränk -, wie Genuß von abgelagertem Pathos, vorzüglich in Versen konzentriert, um sich gleich edler und erhabener zu fühlen. Doch hält man sich nicht lange an die guten, erlesenen Jahrgänge. Und beim Lesen wie beim Trinken steigert man allzu rasch den Spiritusgehalt, man sucht nach Selbstbekräftigung und zugleich nach genereller Absolution. Abnorme Gelüste, deren man sich wie eines versteckten Geburtsfehlers, wie einer krankhaften Veranlagung geschämt hatte, findet man bei erhabensten Genies im Schaffensrausche ausgeplaudert.“ (ebda. 24)
In seiner Biografie „Der Orientatlist – Auf den Spuren von Essad Bey“ schildert der Amerikaner Tom Reiss, wie sich der „Anschluss“ Österreichs auf den in Wien lebenden Walter Mehring auswirkte. Reiss beschreibte zudem, wie Mehring mit Hertha Pauli, der damaligen Agentin Essad Beys, nach Frankreich und weiter in die USA floh:
„In seinem Buch Die verlorene Bibliothek schrieb Levs Freund Walter Mehring, dass Wien und die gesamte Doppeladlermonarchie in der Gefahr schwebten, von einer Lawine verschüttet zu werden. In dem Buch erfindet er eine imaginäre Bibliothek, die seines Vaters, die all die Werke jener Kultur birgt, die von den Nationalsozialisten und ihrer totalitären Revolution zerstört wurden:
Als Wien noch die Weltstadt war, in der das Haus Habsburg und der Walzerkönig regierten, spielte auch das Wiener Kaffeehaus eine ganz andere Rolle. Hier traf sich die große Welt, hier wurden Ideen geboren, Entscheidungen gefällt und Hoffnungen begraben. Im Kaffeehaus spiegelte sich wie auf einem kleinen Welttheater der Wandel der Zeiten. Die Figuren an den Stammtischen, Politiker, Dichter oder Schachmeister, traten entsprechend auf und ab. Die beiden berühmtesten Cafés aus der guten alten Zeit lagen nahe der Hofburg: das Café Herrenhof und das Café Central. Im Herrenhof traf sich Kronprinz Rudolf einst inkognito mit liberalen Journalisten, und im Central spielte vor dem Ersten Weltkrieg ein Herr Bronstein täglich seine Schachpartie, bis er in einem versiegelten deutschen Militärwaggon als Leo Trotzki in die Weltgeschichte einfuhr. Vor dem Zweiten Weltkrieg frühstückte ein neues Regierungsmitglied gern im Herrenhof. Jeder gute Ober kennt die Lesegewohnheiten seiner Stammgäste, und so legte er Dr. Seyß-Inquart stets geflissentlich die Zeitungen aus Deutschland auf den Tisch. War doch der Herr Minister 5sterreichs offizieller Verbindungsmann mit dem Dritten Reich.
Am Freitag, dem 11. März 1938, hatte ich gegen Mittag ein Rendezvous im Café Herrenhof — nicht mit Seyß-Inquart, den ich weder kannte, noch zu kennen wünschte, sondern mit zwei guten Freunden. Ich mußte mich beeilen, weil ich mich verspätet hatte. Ich war im Hotel Bristol von der amerikanischen Verlegerin Blanche Knopf empfangen worden, di sich zu meiner Freude für meine kürzlich erschienene Biographie von Bertha von Suttner interessierte.
Dieses Buch war in Deutschland ebenso schnell verboten worden wie das Buch der Friedensnobelpreisträgerin selbst, „Die Waffen nieder“. Aber auch in Wien hatte die Suttner-Biographie einen kleinen Wirbel verursacht: als ich im Rundfunk daraus vorlas, warfen Nazi Stinkbomben in das Studio. Blanche Knopf aber wollte die Biographie nach Amerika mitnehmen, obwohl es zur Zeit kaum erfolgversprechend schien.
Wenn man sich beeilt, kann man das Caf6 Herrenhof vom Bristol aus in weniger als zehn Minuten erreichen, nicht aber an jenem 11. März 1938. „Wenn man am Ring nimmer durchkommt, haben wir Revolution“, sagen die Wiener seit 1918. An jenem Tag hielten mich Polizeisperren auf, weil junge Nationalsozialisten vor der Oper aufzogen. „Heil Hitler!“ brüllten sie.
Fragend wandte ich mich an einen der Polizisten. Der zuckte die Achseln, aber ein zweiter — Polizisten gehen gern paarweise um — sah mich plötzlich scharf an. Was soll denn das heißen, dachte ich, während ich mich aus dem Staub machte. Die Polizisten folgten mir, und in meiner Angst geriet ich fast unter die Nazi-Demonstranten. Doch die ließen mich laufen, weil die Polizei hinter mir her war. Ich schlüpfte in den Eingang eines Durchhauses und konnte durch den Ausgang auf der anderen Seite unbemerkt entkommen.
Als ich im Herrenhof auftauchte, fand ich die Freunde besorgt. Die „Heil Hitler“-Rufe drangen wie ununterbrochenes Hundegekläff zu uns herein. „Auch die Polizisten sind Nazis“, flüsterte ich atemlos und verstummte, weil der Ober zu uns trat.
„Was darf‘s sein?“ fragte er wie immer. Ich bestellte eine Schale Gold — nur Kaffee, denn mir war der Appetit vergangen.
Im Kreis meiner Freunde erholte ich mich. Der eine war Dr. Carl Frucht, heute Informationschef der UNO-Weltgesundheitsorganisation in New Delhi, damals noch Student. „Carli“, wie wir ihn einfach nannten, war Mitbegründer der „Österreichischen Korrespondenz“, meiner literarischen Agentur, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, vor allem österreichische Autoren zu verbreiten.
Der zweite war Walter Mehring. Der in Paris lebende deutsche Dichter war 1934 für ein paar Tage nach Wien gekommen und ein paar Jahre geblieben. Unsere höfliche Anfragen nach seinen Werken hatte er zunächst unbeantwortet gelassen. Schließlich wurden wir auf einer Gesellschaft einander vorgestellt, und er schaute mich lachend an: „5 i e sind die Österreichische Korrespondenz?“ Er hatte offiziellen Herren ausweichen wollen, nicht einer höchst unoffiziellen jungen Dame. Noch heute spricht er manchmal von dem großen Bänderhut, den ich damals trug.
„Du mußt jetzt rasch fort“, riet ich ihm im Herrenhof. Seine Ausbürgerung stand auf der ersten Goebbelsliste, was ihn mit Stolz erfüllte. „Und du?“ fragte er mich. „Bei uns ist es doch etwas anderes“, erwiderte ich, und Carli setzte hinzu: „Wir müssen am Sonntag wählen.“ Für diesen Sonntag, den 13. März — das Datum machte mich abergläubisch —‚ hatte Schuschnigg die allgemeine Volksbefragung angesetzt: Ja oder Nein, für oder gegen ein freies, unabhängiges Osterreich. Das zu erwartende Ja schien uns über jeden Zweifel erhaben. Bekannte aus politischen Kreisen bekräftigten uns darin; nicht nur Guido Zernatto, Generalsekretär der Vaterländischen Front, Staatssekretär und einer unserer Autoren, prophezeite einen überwältigenden Sieg; auch Vizebürgermeister Ernst Karl Winter, Mehrings Verleger, der als Sozialist nach einer Anti-Nazi- Einheitsfront rief. Und der deutsche Botschafter von Papen hatte Alma Mahler-Werfel anvertraut, daß nicht einmal mehr die österreichischen Nazis öffentlich für den Anschluß eintreten konnten, da ja die Unterschrift des Führers seit der Zusammenkunft mit Schuschnigg in Berchtesgaden unsere Unabhängigkeit garantierte.
Der volle Preis dieser sogenannten „weiteren Normalisierung der österreichisch-deutschen Beziehungen“ war uns nur gerüchtweise bekannt. Die veröffentlichten Punkte schienen schlimm genug. Seyß-Inquart wurde Innenminister, andere Nationalsozialisten erhielten Schlüsselstellungen, und für Naziverbrecher, wie die Dollfußmörder, gab es eine Generalamnestie.
Als die Nachricht von Schuschniggs Canossagang bekannt wurde, hatte ich Zernatto in der Vaterländischen Front angerufen. „Der Bundeskanzler in Berchtesgaden?“ rief ich entsetzt. „Wie konnte er nur?“ „Das hab ich ihn auch gefragt“, antwortete der Staatssekretär.
„Bis hierher und nicht weiter“, erklärte Kurt von Schuschnigg nach seiner Rückkehr. Er sprach im Parlament, neben der Büste seines Vorgängers Engelbert Dollfuß, der 1934 ein Opfer der Nazis geworden war. Die große Kampfansage war erst vorgestern erfolgt, als Schuschnigg in Innsbruck, seiner Tiroler Heimat, verkündet hatte: „Man‘der, s‘isch Zeit! Am Sonntag wird abgestimmt“ — und mit dem Ruf schloß: „Rotweiß-rot bis in den Tod!“
Brausender Jubel war ihm gefolgt. „Rot-weiß-rot bis in den Tod!“ Wenn wir auch den Feind schon in den eigenen Reihen wußten, wir wollten kämpfen. Wir wollten die Mörder überrumpeln, ihnen keine Zeit zum Gegenschlag geben. Die Wahl sollte ihnen den Wind aus den Segeln nehmen.
Selbst Mehring, der Schwarzseher, mochte keine Warnungen hören und blieb. Hatte man ihm nicht schon 1934 in Paris von der Fahrt zu den „Austrofaschisten“ abgeraten? Im Zug nach Wien erzählte ihm dann ein Mitreisender, daß sein neuer Gedichtband „Und Euch zum Trotz“ in Österreich verboten worden sei. Der Herr trug das Buch bei sich und bat voll höflicher Bewunderung um ein Autogramm. „Wer sind Sie denn?“ wollte Mehring wissen.
„Ich bin der Zensor“, kam es zurück.
Später, beim Heurigen, bezeichnete Walter sich manchmal als „Wahl-Wiener“. Jetzt schien ihm, nach dem alten Witz aus dem Ersten Weltkrieg, unsere Lage „hoffnungslos, aber nicht ernst.“
„Ich lasse euch nicht allein“, erklärte er an jenem März- morgen im Herrenhof. Wenn alle Stricke reißen sollten, glaubte er nämlich, uns nach Frankreich retten zu können. Er hatte gute Beziehungen zum Quai d‘Orsay.
Unser Gespräch wurde plötzlich unterbrochen. „Herr Dr. Seyß-Inquart, bitte“, rief der Ober. „Berlin am Apparat!“
Am Nebentisch erhob sich ein Herr und ging dicht an uns vorbei zum Telephon in die Garderobe. In diesem Augenblick wurde mir plötzlich bewußt: diesem Mann untersteht jetzt unsere Polizei!
Auf dem Sims hinter unserm Ecktisch standen liebliche Barockengelein aus Bronze. Auf einen davon zeigend, flüsterte ich Mehring ins Ohr: „Soll ich ihn damit erschlagen?“
Walter schüttelte den Kopf. „Hilft nichts — es sind zu viele.“
Der Innenminister kam an seinen Tisch zurück, zahlte und eilte hinaus. Besorgt blickte der Ober ihm nach. „Sehr nervös, der Herr Doktor“, bemerkte er vertraulich zu uns. „Dem schmeckt heut‘ net amal sei‘ Apfelstrudel.“
Was hinter den Kulissen vorging, erfuhr ich erst viel später von Guido Zernatto im Exil. Seyß-Inquart begab sich nach diesem Anruf aus Berlin ins Bundeskanzleramt, wo man ihn schon überall gesucht hatte. Weder in seinem Büro noch in seiner Advokatenkanzlei war er zu finden gewesen; auch in der früher illegalen Landesparteileitung in der Seitzergasse konnte man ihn nicht erreichen. Nur sein Wagen parkte davor.
Indessen liefen im Bundeskanzleramt immer bedrohlichere Meldungen ein. An der bayrischen Grenze und in München sammelten sich deutsche Truppen; in der Grenzstadt Passau wurden im Laufe des Tages Militärtransporte mit 40.000 Mann erwartet, und in Niederösterreich und Wien rotteten sich SA- und SS-Verbände zusammen.
Man hoffte, Seyß-Inquart werde beruhigend eingreifen. Noch tags zuvor, am Donnerstag, dem 10. März, hatte er sich bereit erklärt, für Schuschniggs Volksabstimmung im Rundfunk zu sprechen. Daß er unterdessen im Herrenhof — einem gut gewählten, neutralen Ort — mit Berlin telephonierte, kam erst heraus, als er mit seinem Kabinettskollegen, dem Minister ohne Portefeuille Glaise von Horstenau, nun endlich im Bundeskanzleramt erschien.
Die beiden Herren überbrachten ein Ultimatum. Der Führer wünschte eine Verschiebung der Wahl um vier Wochen; dann sollte sie unter der Leitung von Seyß-Inquart vor sich gehen. Wurde das Ultimatum abgelehnt, würden die beiden Minister demissionieren und jede weitere Verantwortung ablehnen. Sie gaben dem Bundeskanzler für seine Entscheidung bis ein Uhr mittag Zeit. Eine knappe Stunde also.
Eine Absage der Wahl schien Schuschnigg unmöglich. Er könne die technischen Vorgänge ändern, nicht aber den Termin verschieben, erklärte er und gab Zernatto den Auftrag, mit den beiden Herren wegen einer Fristverlängerung zu verhandeln. Indessen wollte er die Lage mit Bundespräsident Miklas besprechen.
Dr. Seyß versicherte, er habe bezüglich der Frist bereits sein möglichstes getan, doch ließ er sich schließlich herbei, Berlin zurückzurufen, und kam mit einer Verlängerung um eine weitere Stunde zurück.
Im Vorzimmer des Bundeskanzleramtes wartete eine schweigende Menschenmenge, während unausgesetzt die Telephone klingelten. So verging die Zeit, die letzte Frist, die Seyß-Inquart gewährt hatte. Zernatto redete auf ihn ein, diese Taktik, diese Politik könne unmöglich von ihm ausgehen — sie stehe in völligem Widerspruch zu seiner bisherigen Haltung . . . Der Innenminister nickte. Es liege nicht mehr bei ihm, meinte er. Die Entscheidung falle jetzt anderswo.
„Wo?“
„In Berlin.“
„Oder auf den Barrikaden“, erwiderte Zernatto.
Nach kurzem Überlegen entschloß Seyß-Inquart sich zu einem weiteren Gespräch mit Göring, der drüben die Zügel führte. Dieser Anruf wurde in der Bundes- zentrale abgehört. Wie sich später herausstellte, entsprach es den Tatsachen, was Seyß-Inquart darüber berichtete: erst habe Göring ihn warten lassen, um mit dem Führer zu reden; dann habe der Marschall das Ultimatum für verfallen erklärt und hinzugefügt:
„Teilen Sie das Schuschnigg mit.“
Seyß-Inquart wandte sich an Zernatto. „Wollen wir dem Bundeskanzler die Nachricht überbringen?“
Der österreichische Staatssekretär antwortete: „Das ist Ihre persönliche Aufgabe.“
Der Innenminister zuckte die Achseln. „Ich habe nur die Nachricht zu überbringen, aber keinen Einfluß. Ich bin nichts als ein historisches Telephonfräulein.“
Österreichische Propagandaflugzeuge flogen über den Himmel, und Millionen von Wahl-Flugzetteln flatterten auf die Straßen von Wien herab, in wilde Tumulte hinein. Als wir aus dem Herrenhof kamen, gerieten wir zwischen schreiende Fronten.
„Rot-weiß-rot bis in den Tod!“ schallte es aus unseren Sendern. „Heil Hitler!“ gellte es dazwischen. Ich pfiff die Marseillaise vor mich hin, aber es hörte mich keiner. Meine Kampflust übertraf meine Furcht. Noch immer siegesgewiß, zogen Carli und ich durch das Gewühl, während Mehring sein Hotel am Westbahnhof aufsuchte, um wenigstens seine Bibliothek zusammenzupacken. Was gleichzeitig im Bundeskanzleramt vor sich ging, ahnten wir nicht.
Wir gelangten heil in unser „Büro“, das nur aus einem Zimmer meiner Mansardenwohnung in einer CottageVilla bestand. Hier war es noch ruhig, als sei nichts geschehen. Friedlich lagen die Manuskripte unserer Autoren in den Fächern eines hohen Regals. Sämtliche politische Richtungen von links nach rechts waren vertreten; nur die nationalsozialistische fehlte.
Wir waren stolz auf unsere Liste. Sie reichte vom Dichter Franz Theodor Csokor, der als Vertreter Österreichs am P.E.N.-Kongreß in Dubrovnik für den Ausschluß der Nazis gestimmt hatte, über Alfred Polgar und Egon Friedell bis zu den Auslandsrechten von Schuschniggs „Dreimal Osterreich“.
An jenem Freitagnachmittag arbeiteten wir wie immer, weil es uns am wichtigsten schien, Ruhe zu bewahren. Abends wollte ich meinen Vater besuchen, der mit seiner jungen Frau im 9. Bezirk wohnte, in der Nähe des Biochemischen Instituts, seiner Arbeitsstätte. Meine Mutter, einst Mitarbeiterin der Neuen Freien Presse, Frauenrechtlerin und Pazifistin, lebte schon lange nicht mehr.
Von der Straßenbahn aus schien alles ruhiger, denn wir berührten die inneren Bezirke nicht. Mein Vater empfing mich bedrückt, die Stiefmutter kampflustig. Wir drehten das Radio an. Nach sieben Uhr sprach unser Bundeskanzler:
„Der heutige Tag hat uns vor eine schwere und entscheidende Situation gestellt. Ich bin beauftragt, dem österreichischen Volk die Ereignisse des Tages zu berichten. Die deutsche Reichsregierung hat dem Herrn Bundespräsidenten ein befristetes Ultimatum gestellt, nach welchem der Herr Bundespräsident die Regierung nach den Vorschlägen der deutschen Reichsregierung zu bestellen hätte, widrigenfalls der Einmarsch deutscher Truppen für diese Stunde in Aussicht genommen wurde. Ich stelle fest, vor der Welt, daß die Nachrichten, die in t3sterreich verbreitet wurden, daß Ströme von Blut geflossen seien, daß die Regierung nicht Herr der Lage wäre und aus eigenem nicht hätte Ordnung machen können, von A bis Z erfunden sind . . .“
Ich atmete auf.
„Der Herr Bundespräsident beauftragt mich, dem österreichischen Volk mitzuteilen, daß wir der Gewalt weichen. Wir haben, weil wir um keinen Preis, auch in dieser ernsten Stunde nicht, deutsches Blut zu vergießen gesonnen sind, unserer Wehrmacht den Auftrag gegeben, sich ohne Widerstand zurückzuziehen …“
In meinen Ohren brauste mein nicht-deutsches Blut, so daß ich nur mehr den Schluß hörte.
„So verabschiede ich mich in dieser Stunde von dem österreichischen Volk mit einem deutschen Wort und einem Herzenswunsch: Gott schütze 3sterreich!“
„Gott“, sagte meine Stiefmutter.
Aus dem Radio klang Musik, vertraute Klänge von Joseph Haydn. Mein Vater schien plötzlich erleichtert. „Es kann doch nicht so schlimm sein“, meinte er. „Die spielen ja unsere Kaiserhymne.“
Ich schaute ihn nur an. Seit dem Zusammenbruch der Monarchie war das „Gott erhalte“ nicht mehr gespielt worden. Wohl aber sang man dieselbe Melodie mit anderem Text: „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt . . .“
Wäre es nicht zum Weinen gewesen, ich hätte gelacht. Doch mir kamen auch keine Tränen. Ich starrte ins Leere. Ein neues Lied kam durchs offene Fenster: „Brüder, wir marschieren, bis alles in Scherben fällt“, sang und klang es da draußen, „heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt!“
Ich wollte fort — wohin? „Wiedersehen jenseits der Grenze“, formten meine Lippen.
Papa schloß das Fenster. „Um Gottes willen, wenn dich einer hört“, flüsterte er. Und dann: „Ich bleibe.“ Nur meine junge Stiefmutter rief mir nach: „Denk an uns, wenn du an der Grenze bist!“
Später ging dann mein Vater über die Grenze — sie blieb.
Auf der Straße rings um mich brüllende Stimmen. „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ Es gibt keine Barrikaden.
Ich drücke mich in eine Telephonzelle. Die Verbindung klappt. „Komm gleich zu mir“, sage ich zu Mehring. „Ja“, antwortet er und hängt ein. Oder sind wir unterbrochen? Ich bin plötzlich allein. Nur Walters Stimme klingt mir noch im Ohr: „Gott geb‘s, daß nimmermehr loskomm‘ der große Krebs . .
Seine „Sage vom großen Krebs“ hatte er schon vor dem Reichstagsbrand geschrieben — jetzt kam der Krebs auf mich zu: „Wenn die berauschte Kreatur vom Traum erwacht“ — Schritt für Schritt — „geht alles rückwärts und verquer, rückwärts und verquer zu Hexenbränden und Judenpogrom . . . ! !“
Der Krebs hat plötzlich viele Gesichter. „Nieder mit euch“, schreit er. „Hör mich, Volk, welch‘ du hier lebst .. .“ Die Volksgenossen umringen mich, tanzen, singen: „Wenn‘s Judenblut vom Messer spritzt, dann geht‘s noch mal so gut“ — das Horst-Wessel-Lied. Ich laufe, laufe schneller als heute mittag — „dann kreiste zurück die Jahrhundertuhr zur ewigen Mitternacht“ — er kommt hinterher, hinterher. .. „Es geht um, es geht um, der große Krebs“ … Gott schütze Österreich. Hinter mir fällt die Tür ins Schloß. Ich bin zu Hause. Auf dem Boden türmen sich verstreute Manuskripte. Es ist still. Dann nimmt mich jemand in die Arme, als sei ich aus der Hölle wiedergekommen.
„Daß du nur da bist“, sagte Carli dann, und wir schauten uns an.
„Was machst du denn hier?“ fragte ich. „Die Manuskripte einpacken.“
„Die können wir doch nicht mitnehmen — ?“
„Wollen wir auch nicht“, erklärte er mir. „Sie müssen aus dem Haus, wenigstens die gefährlichsten.“
„Und wohin?“
„Ins Gebüsch, über die Gartenmauer. Da sieht sie lange keiner.“
Die Idee schien gut, denn verbrennen konnten wir nichts; wir hatten eine Gasheizung, keinen Ofen. „Nur laß mich jetzt nicht allein“, bat ich. Und Carli blieb. Nach neun Uhr kam Mehring, weiß wie die Wand. Die tobenden Horden hatten sein Taxi am Gürtel aufgehalten. Der Chauffeur war durch Seitengassen entkommen, schimpfte auf die „Saubagasch“ und vermittelte die neuesten Nachrichten; im ersten Bezirk sei kein Durchkommen mehr, im Bundeskanzleramt säße die SS, Schuschnigg sei verhaftet … Mehring stürzte ans Telephon. „Wen willst du anrufen?“ fragte ich.
„Paris. Einen Freund am Quai d‘Orsay.“ Seine Finger umklammerten schon den Hörer.
Die ganze Nacht suchte er von meinem Telephon aus Paris zu erreichen. Daß dies für uns gefährlich sein könnte, war uns nicht klar; wir begriffen bloß, daß die Verbindung nicht zustande kam.
Mit fieberhafter Hast taten wir sinnlose Dinge, ohne daß es uns bewußt wurde. Vielleicht einfach deshalb, weil das Leben seinen Sinn verloren hatte. Carli rannte unentwegt mit ‘dem Anti-Nazi-Material hinunter, Mehring telephonierte, ich räumte alte Sachen um.
Gegen Mitternacht meldete das Radio: „Bundeskanzler Seyß-Inquart hat zur Wiederherstellung der Ordnung in Berlin um den Einmarsch deutscher Truppen ersucht . . .“ Wir wollten es nicht glauben und fingen an herumzutelephonieren. Bei Zernatto hob niemand ab; wahrscheinlich war auch er schon verhaftet. Wir versuchten noch andere Leute anzurufen. Csokor meldete sich: „Packt ein“, sagte er. „Wir sprechen uns morgen.“ Wir saßen mitten unter den restlichen Manuskripten und rührten uns nicht. Mehring wagte sich nicht mehr in sein Hotel: im Morgengrauen ging Carli hin, um ihm die nötigsten Sachen zu holen. Er kam mit einem Köfferchen und der Meldung zurück, daß Mehring bereits um zwei Uhr früh von ‘der Gestapo gesucht worden war. Gott sei Dank nicht bei mir
Als Morgengruß schmetterte uns der Rundfunk entgegen: „Die erbetenen deutschen Truppen haben die Grenze überschritten. Reichsführer Himmler ist im Hotel Imperial eingetroffen, der Führer nach Wien unterwegs.“
Wann würde die Gestapo bei mir auftauchen?
Wir schlichen uns auf die Straße. Deutsche Bomberbrausten mit Donnerhall und aufgemalten Hakenkreuzen über den Himmel, so dicht, daß für uns die Sonne nicht aufging. Wir drückten uns in eine dunkle Ecke in einem Döblinger Caf6. Der Ober brachte uns zwei Zeitungen, von denen eine schon längst als Naziorgan bekannt war. „Die anderen sind beschlagnahmt“, sagte er. „Die Deutschen kommen.“
Mehring bestellte Cognac statt Kaffee. Den Ober wunderte nichts mehr. „Walter“, sagte ich, „wir müssen dich dann gleich zur Bahn bringen“, worauf er noch einen Cognac bestellte. Carli und ich tranken schwarzen Kaffee.
Wir zahlten und gingen. „Fahren muß jeder von uns allein“, meinte Carli auf dem Weg. „Erst Sie, Mehring, dann die Hertha — dann ich.“ Es war die Reihenfolge unserer Gefährdung. Keiner widersprach. Allein war man wohl sicherer.
Am Westbahnhof sahen wir schon von weitem die schwarzen Uniformen um den Haupteingang. Mehring kehrte um: „Ich kann nicht . . .“
Wir gingen ziellos umher; unversehens gerieten wir fast zu nahe an Walters Hotel. „Du mußt fahren“, flüsterte ich ihm zu. Ein hoffnungsloses Achselzucken war die Antwort.
Ich redete weiter auf ihn ein. „Wir werden bei mir auf Nachricht von dir warten — wenn bis Abend kein Telegramm aus Zürich kommt, suchen wir dich — wenn es eintrifft, kommen wir nach . ..
„Was soll ich denn telegraphieren?“ fragte Walter tonlos.
Wir einigten uns auf „Grüße, Onkel Emil“ — der Name fiel uns aus Kästners „Emil und die Detektive“ ein. Durch einen unbewachten Seiteneingang kamen
wir in den Bahnhof. Carli ging zum Schalter; ich plauderte mit Mehring auf französisch, weil er statt eines Passes nur ein französisches Reisepapier bei sich trug. Auf dem Perron wartete schon der Zug.
Mit dem kleinen Koffer reichte Carli Mehring seine Fahrkarte. „Schnellzug Wien—Zürich-—Paris, einsteigen!“ rief der Schaffner. Mehring ging auf den Perron hinaus, da trat ein SS-Mann auf uns zu, und im Schatten der schwarzen Uniform schien die Filigranfigur des Dichters vollends einzuschrumpfen.
„Wer sind Sie?“ fragte der SS-Mann und wies auf Mehring.
Carli trat dazwischen. „Das ist unser Französischlehrer“, sagte er rasch und hielt dem Nazi wie zum Beweis seine Studentenkarte hin.
„Unser Französischlehrer“, wiederholte ich beflissen. Der Uniformierte wandte seine Aufmerksamkeit uns zu. Bösartig musterte er den Ausweis. Ich hörte
schwaches Geräusch, und ein Blick aus dem Augenwinkel bestätigte mir: Mehring war verschwunden. Der Zug stieß einen schrillen Pfiff aus. Eine schmale Gestalt sprang in den letzten Wagen. „Aufhalten!“ schrie irgendwer.
Wir erstarrten. Aber die SS-Leute stürzten sich auf eine kleine Gruppe, die noch einsteigen wollte. Carli hatte recht: Gruppen sind gefährdeter — sie waren umstellt und wurden abgeführt, während der Zug sich langsam aus der Bahnhofshalle ins Freie bewegte und das Rattern der Räder mit dem Donner der über uns kreisenden deutschen Flugzeuge verschmolz.
Dieser Auszug stammt aus dem Buch „Der Riss geht durch mein Herz“ von Hertha Pauli. In ihm beschreibt sie ihre Flucht aus Österreich und Frankreich, die sie zusammen mit Walter Mehring unternahm. Der ganze Band ist ein Muss für alle, die mehr über Walter Mehring erfahren wollen.