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1938 Biografisches

Mehrings Vermieter hilft heute vor 80 Jahren bei der Flucht aus Wien

Jahre nach der Flucht aus Wien von Walter Mehring haben er und Hertha Pauli in ihren jeweiligen Erinnerungen genau diese geschildert. Wer die beiden Texte nebeneinanderlegt, stellt fest, dass sie sich in einigen Details unterscheiden. Dass vermutlich die Erinnerung Walter Mehrings eher den Tatsachen und weniger der Dichtung entspricht, überrascht insofern, als in der Forschung bisher eher die Auffassung vertreten wurde, dass Mehring es umgekehrt sei. Und dass Mehring angesichts seines großartigen Erinnerungswerkes „Die verlorene Bibliothek“ eher zu einer dichterischen Betrachtung der realen Ereignisse tendiert habe. 

Julo Formanek, der Erbe des einstigen Familienhotels „Fürstenhof“, in dem Walter Mehring zwischen 1934 und 1938 lebte, hat sich 2013 wie folgt erinnert: „Was ich aus Erzählungen meines Vaters (geb.1931) weiss ist folgendes: Walter Mehring war Stammgast im Fürstenhof und hatte mit meinem Grossvater der damals das Haus führte offensichtlich ein gutes Verhältnis. Ob er wirklich von 34 bis 38 dauerhaft bei uns wohnte weiss ich aber nicht. Was mein Vater mir erzählte, betraf die Abreise in letzter Sekunde im März 38. Angeblich hat mein Vater Hr. Mehring irgendwie in den Zug gebracht, was anscheinend nicht mehr so leicht möglich war. 1946 als mein Grossvater von den Allierten für einige Monate aus einem mir nicht bekannten Grund inhaftiert wurde, gab es eine Zeugenaussage von einer gewissen Hildegard Wondrak, die diese Begebenheit indirekt bestaetigte. Diese Zeugenaussage ist auch das einzige Dokument mit Bezug auf Hr. Mehring, dass ich jemals gefunden habe. Den Brief von Walter Mehring der in der Aussage von Fr. Wondrak ewaehnt wird, habe ich leider nicht gefunden. “ (Julo Formanek 2013 in einer Email an den Verfasser).

 

Offensichtlich verwechselt Julo Formanek Vater und Großvater in seiner Email, als es darum geht, wer Walter Mehring den Koffer gebracht hat. Es ist nicht davon aoszugehen, dass dies der zu diesem Zeitpunkt sechs- oder sieben-jährige Vater, sondern der Großvater war. Aber sowohl dieser Brief aus dem Jahr 1946 als auch die Erinnerung Julo Formaneks stützen die Erzählung Walter mehrings von seiner Flucht aus Wien.

In der Folge sind hier die entscheidenden Absätze aus den Erinnerungen von Walter Mehrings Flucht aus Wien von ihm selbst und dann von Hertha Pauli:

Walter Mehring in „Wir müssen weiter“

„Als der Tag verdämmert, gibt es Wien nicht mehr. Nie sah man so rapide Verwandlung. Der Hunneneinbruch, der Türkenansturm konnten nicht verheerender gewesen sein. Nie hatte Wien solch unartikuliert-deutsches Gebrüll vernommen.

Wo überall habe ich mich aufgehalten – in Gasthof-Aborten, im Badezimmer bei Bekannten, bei Ophelia (i.e. Hertha Pauli; A.O.) – bis ich im Dunkel den Bahnhof anschleiche. An der Bahnsteigsperre halten Totschläger Wache, mit schwarzen Kappen und breiten Kinnladen anstelle von Köpfen …

Zur Abfahrt des Zuges Istanbul-Paris ein Kordon österreichischer SA – »Letzter Zug nach Jerusalem verspätet!« -, der mich ausfragt:

»Wohin wollen S‘ denn?«

»Zu meinem Onkel nach Salzburg.«

»Wenn einer zum Onkel nach Salzburg will, so einen Trottel kann man laufen lassen.«

So gelange ich in den Pariser Zug, in dem sich die Großen der Wiener Caféhäuser drängen.

Die Fahrt durch die Nacht, die grell erleuchtet ist von den Panzerauto-Scheinwerfern und Lagerfeuem des ungehinderten Siegers, dauert viele Jahre …

An jeder Station fordert österreichische HJ »Ausweise vorzeigen!« Gerade Ausgebürgerte werden in die ›Heimat< zurückexpediert. Ich habe das Visum …

In Feldkirch, an der Grenze, kommandieren österreichische Braunhemden in den Korridoren: »Achtung, es wird scharf geschossen, alles raus!« – Die Nachtreisenden des Balkan-Expreß Istanbul-Paris glauben an einen Raubüberfall. In der Bahnhofshalle deutsche SS vor schwarzen Listen (alphabetisch und dick wie Telefonbücher). Sieben Stunden dauert die Naziinquisition: bis sich keine Widerstandsbewegung rührt … kein Mucks mehr laut wird neben dem Chorus

»Heute gehört uns Österreich
und morgen die ganze Welt!«

  • Welche? –

Die neutrale Schweiz wehrt sich mit der Armbrust des TELL gegen die Überfremdung ihres Heimaterdreiches und verbietet »jede Einmischung in die Hoheitsrechte eines Nachbarstaates«.

La Plus Grande France, die Front Populaire, hat »seit Mitternacht jede Einreise von Ausländern untersagt« – wie schon einmal für die spanischen Genossen über die Pyrenäen …

Die Großmächte halten sich – bis auf den Waffenhandel – strikt an ihre Friedensabkommen, wollen nichts gehört, nichts gesehen, von nichts etwas gewußt haben: »Strikte Nichteinmischung in peinliche Fremdstaatenverhältnisse«.

Aus Zürich telegraphiere ich an Hertha Pauli ( = Ophelia) wie verabredet »Grüße von Onkel«. Einige Tage später reist auch sie nach Paris ab und zieht mit mir in das ›Hôtel de l’Univers«, Rue Monsieur le Prince, eine verwinkelte Exilherberge.““
(W.M.: Wir müssen weiter – Fragmente aus dem Exil; S.36 ff.)

Hertha Pauli in „Der Riss der Zeit geht durch mein Herz“:

Wir drückten uns in eine dunkle Ecke in einem Döblinger Café. Der Ober brachte uns zwei Zeitungen, von denen eine schon längst als Naziorgan
bekannt war. „Die anderen sind beschlagnahmt“, sagte er. „Die Deutschen kommen.“

Mehring bestellte Cognac statt Kaffee. Den Ober wunderte nichts mehr. „Walter“, sagte ich, „wir müssen dich dann gleich zur Bahn bringen“, worauf er noch einen Cognac bestellte. Carli und ich tranken schwarzen Kaffee.

Wir zahlten und gingen. „Fahren muß jeder von uns allein“, meinte Carli auf dem Weg. „Erst Sie, Mehring, dann die Hertha – dann ich.“ Es war die Reihenfolge unserer Gefährdung. Keiner widersprach. Allein war man wohl sicherer.

Am Westbahnhof sahen wir schon von weitem die schwarzen Uniformen um den Haupteingang. Mehring kehrte um: „Ich kann nicht . . .“

Wir gingen ziellos umher; unversehens gerieten wir fast zu nahe an Walters Hotel. „Du mußt fahren“, flüsterte ich ihm zu. Ein hoffnungsloses  Achselzucken war die Antwort.

Ich redete weiter auf ihn ein. „Wir werden bei mir auf Nachricht von dir warten – wenn bis Abend kein Telegramm aus Zürich kommt, suchen wir dich – wenn
es eintrifft, kommen wir nach . . .“

„Was soll ich denn telegraphieren?“ fragte Walter tonlos.

Wir einigten uns auf „Grüße, Onkel Emil“ – der Name fiel uns aus Kästners „Emil und die Detektive“ ein. Durch einen unbewachten Seiteneingang kamen wir in den Bahnhof. Carli ging zum Schalter; ich plauderte mit Mehring auf französisch, weil er statt eines Passes nur ein französisches Reisepapier bei sich trug. Auf dem Perron wartete schon der Zug.

Mit dem kleinen Koffer reichte Carli Mehring seine Fahrkarte. „Schnellzug Wien-Zürich-Paris, einsteigen!“ rief der Schaffner. Mehring ging auf den Perron hinaus, da trat ein SS-Mann auf uns zu, und im Schatten der schwarzen Uniform schien die Filigranfigur des Dichters vollends einzuschrumpfen.

„Wer sind Sie?“ fragte der SS-Mann und wies auf Mehring.

Carli trat dazwischen. „Das ist unser Französischlehrer“, sagte er rasch und hielt dem Nazi wie zum Beweis seine Studentenkarte hin.

„Unser Französischlehrer“, wiederholte ich beflissen. Der Uniformierte wandte seine Aufmerksamkeit uns zu. Bösartig musterte er den Ausweis. Ich hörte ein
schwaches Geräusch, und ein Blick aus dem Augenwinkel bestätigte mir:  Mehring war verschwunden. Der Zug stieß einen schrillen Pfiff aus. Eine schmale Gestalt sprang in den letzten Wagen. „Aufhalten!“ schrie irgendwer.

Wir erstarrten. Aber die SS-Leute stürzten sich auf eine kleine Gruppe, die noch einsteigen wollte. Carli hatte recht: Gruppen sind gefährdeter – sie waren
umstellt und wurden abgeführt, während der Zug sich langsam aus der Bahnhofshalle ins Freie bewegte und das Rattern der Räder mit dem Donner der über uns kreisenden deutschen Flugzeuge verschmolz.

(Hertha Pauli: Der Riss der Zeit geht durch mein Herz; S. 22 f.)

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