Sein eigenes Theater war einige Jahre hindurch ein Berliner Ereignis allerersten Ranges: unvergeßlich – aber auf eine seltsam kühle Art unvergeßlich. Die Desillusionsbühne – ein kompliziertes Eisengerüst mit Vorsprüngen, Vorhängen, aus gesparten Räumen, Rampen, Gängen, Wendeltreppen – hatte er wohl von den frühen Theatermeistern des russischen „Proletkults“, Meyerhold, Tairoff und anderen übernommen. Was er damit anfing, war manchmal großartig. Ich erinnere mich an „Rasputin“ von Alexeij K. Tolstoj, an ein Drama von Leo Lanja, an Walter Mehrings „Kaufmann von Berlin“, vor allem an Tollers „Hoppla – wir leben! “, die penetrante Satire auf die Politiker der Weimarer Republik. Piscator spielte im Grunde auf einem Jahrmarktsgerüst, wie es Goethe vom echten Theaterleiter verlangt hatte. Aber er setzte mit seiner Riesenmaschinerie das Firmament, Sonne, Mond und Sterne, Erde und zuletzt den Höllenschlund in Bewegung, er arbeitete
mit mehreren Drehscheiben, mit versenkbarer Bühne, Wandelgürtel, Film, Scheinwerfern, Geräuschmusik . . . er ging auf die Nerven los, er hatte ein großartiges, unbesiegliches Bühnentemperament. In einer Vorstellung wie etwa „Rasputin“ begann er gleichsam mit der Schöpfung der Welt und des Klassenkampfes, dann kam Karl Marx, der Zar, Rasputin, Lenin, die Diktatur des Proletariats, die klassenlose Welt. . . es war eine abgekürzte Schulfibel der marxistischen Weltgeschichte. Aber es war ungemein interessant. Es war trotz allem dramatisch, theatralisch, zuweilen ganz hinreißend.
Schlagwort: Bertolt Brecht
Eines Abends, nach der Vorstellung, rief mich Walter Mehring in den leeren Zuschauerraum. Er stellte mit einen jungen Mann vor. Es war ein stiller, blasser Mensch, mit tiefliegenden dunklen Augen, vonspringendem spitzern Nasengiebel und einem sanften Mund. Dünn und schmal waren auch die
Hände, die aus der zu kurzen Jacke hervorschauten. Alles an ihm sah ärmlich und mager aus, und wenn ihn nicht Mehring persönlich angebracht hätte, ich hätte ihn Wohl kaum beachtet. »Herr Brecht spielt und singt zur Laute und möchte gern bei dir auftreten«, äußerte Mehring schlicht. »Ja?« fragte ich. Der junge Mann blieb weiter still, nur seine runden schwarzen Augen musterten mich abschätzend. »Wie wär’s also, wenn Sie mal an einem Donnerstag . . .«
››Nein«, unterbrach mich Mehring, »das geht nicht, wir werden zu dir in die Wohnung kommen.« – ››Na schön«, antwortete ich, »dann kommt mal an einem Sonntagvormittag, da habe ich mehr Zeit!«
1977 hat sich Walter Stapper an „Die verbrannten Dichter“ erinnert und ein Programm mit Liedern dazu erstellt. Walter Mehring, Kurt Tucholsky, Ernst Toller, Lion Feuchtwanger, Heinrich Heine, Bertolt Brecht, Irmgard Keun, Else Lasker-Schüler, Erich Mühsam, Hirsch Glik und Erich Kästner hatte Stapper für sein Programm ausgewählt. Zur Gitarre sang er zu Kompositionen von Hanns Eisler, Peter Janssens und Bela Reinitz dar. In Rezensionen aus dem Jahr 1977, etwa aus den „Nürnberger Nachrichten“, wird das Programm sehr positiv bewertet: „Langanhaltender Beifall dankte Walter Stapper für diese lebendige und farbige literarische Geschichtsstunde.“
Manuela Mühlethaler: Wann haben Sie den Text „Oratorium von Krieg, Frieden und Inflation“ geschrieben?
Walter Mehring: Das Oratorium war geschrieben für eine Aufführung im Piscator-Theater in Berlin. Und wurde von Eisler komponiert dort zum ersten Mal aufgeführt.
Manuela Mühlethaler: In welchem Jahr war das?
Walter Mehring: Das war 1929.
Manuela Mühlethaler: Und wann haben das Stück es geschrieben?
Walter Mehring: Wenn man das ein Stück nennen kann. Es war eigentlich ein episches Theaterstück, das ich schon 1925 im ersten Wurf fertig gestellt hatte. Dann wurde es von Piscator im Theater am Nollendorf Platz in der Werkstatt aufgeführt, allerdings in einer sehr veränderten Form, als ich es ursprünglich beabsichtigt hatte. Es war das erste Mal in Berlin, dass die SA das Theater gestürmt hatte und dass die erste Aufführung – die anderen folgten dann doch – nicht zu Ende geführt werden konnte.
Am 8. Oktober 1977 ist die Bundesrepublik im Bann des Terrorismus. Die Schlagzeilen werden von der Entführung von Hanns Martin Schleyer dominiert. Schon im Juli war Jürgen Ponto ermordet worden, und im August scheiterte eine Anschlag auf die Bundesanwaltschaft. Manuela Mühlethaler ist zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt. Sie besucht einer Berufsaufbauschule , um die Mittlere Reife nachzumachen. Hier wird ihr die Aufgabe gestellt, ein Referat über einen Schriftsteller zu halten. Da sie durch den Liedermacher Walter Stapper mit Gedichten und Texten von Francois Villon, Kurt Tucholsky, Bert Brecht und Walter Mehring in Berührung kam, hatte sie sich eine Ausgabe von Mehrings «Großem Ketzerbrevier» gekauft.
Ein Song für den Gong
Wie kam der Begriff des Songs in die deutsche Kultur? Der Mann im Mond spielte eine zentrale Rolle dabei – und leider auch ein rassistisches Machwerk, zu dem der Reimvirtuose Walter Mehring 1920 einen gewitzten Gegengesang anstimmte.
Auf die Frage, wer den ersten Songtext in deutscher Sprache geschrieben habe, würden die meisten Menschen wohl ohne zu zögern antworten: Bertolt Brecht. Doch er stammt nicht von ihm, sondern von einem heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Schriftsteller der Weimarer Republik, der für die Literatur dieser Epoche gleichwohl eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat: Die Rede ist von Walter Mehring, einem der faszinierendsten Autoren der zwanziger Jahre. In diesem Jahrzehnt war er, zumal in Berlin, sehr erfolgreich: Einige seiner Gedichte, darunter „Heimat Berlin“ und „Hoppla! Wir leben!“, waren damals in aller Munde, und mit seinem Stück „Der Kaufmann von Berlin“ löste er im Jahr 1929 einen der größten Theaterskandale der Weimarer Republik aus. Kein Wunder, dass aufstrebende jüngere Autoren sich an ihm orientierten: Der junge Brecht etwa ist bei Mehring in die Schule gegangen.
Mehr als die Hälfte des Programms sind Lieder Walter Mehrings. Nicht umsonst hatte Gisela May das Chanson-Programm „Hoppla, wir leben“ genannt. Im Januar 1974 wurden zwei Aufführungen in der Ost-Berliner „Distel“ mitgeschnitten und schließlich auch als Schallplatte veröffentlicht. Diese ist mehr als ein Zeitdokument. Sie ist auch mehr als 40 Jahre später noch frisch. Wer erleben will, dass die Texte Walter Mehrings für die Musik gemacht sind, wird sie immer wieder auflegen.
An Walter Mehring. Läggesta, 25.5.1929
Post: Weltbühne
25-5-29
Lieber Walt Merin,
ich bin zwar schon ganz rammdösig vom Tippen – aber das wollen wir doch noch mal. Item:
Schönen Dank für Ihren Brief. Um Gussys Anblick habe ich Sie sehr beneidet – ich hoffe immer noch im stillen, daß die heilige Familie hier raufmacht, wo ER ungeheuer pompulehr ist – dann führe ich sofort nach Stockholm.
Ja, Bronnen. Also Sie sollten, wenn man überhaupt soll – daran knabbere ich noch. Nicht etwa wegen Rowohlts; der ist darin sehr anständig, er weiß, daß ich das Buch ablehne. Nein – wegen des Helden selbst. Ist das eine Reklame für ihn? Im Waschzettel «Ein umstrittenes Buch» Andererseits: mich juckt es furchtbar. Meine Notizen sind in Ordnung, aber ich weiß noch nicht. Daher kann ich nicht so ohne weiteres Ihnen zuraten – obgleich Sie das besser machen als ich: Sie haben für diese Fälle eine pfeifende, tödliche Ironie, die in meinem Fett nicht wohnt ~ da bleibt dann aber wirklich kein Auge trocken. Wenn Sie es tun, dann schlagen Sie zu, daß die Fetzen fliegen. Sie brauchen nicht lange zu suchen – das Buch besteht nur aus „Stellen“ – es ist beispiellos: an innerer Verlogenheit; an Gemeinheit; an sexueller Schweinerei – das ist wirklich eine, wo man sich die Nase zuhält – von mir aus kann in jeder viel gevögelt werden … aber das ist nur zum Speien. Eine tolle Nummer.
Ich fand Kerrs Angriff gegen diese ganze Gesellschaft prachtvoll bei allen Einwänden – er ist ja doch einer. Was ist das für eine Umfrage, bei der Sie auch geantwortet haben? Kann ich die mal haben – ich schicke sie sofort zurück.
Daß Brecht Sie vernichten will, ist in Ordnung. Ich hoffe, in Ihrem Sinne gehandelt zu haben – ich habe mal meinen ganzen Kummer herauslaufen lassen. Sie kommen natürlich auch drin vor.
Was ist das nun -: mir hat nie einer was getan; der Doktor Klein hat mich geschäftlich äußerst korrekt behandelt, sogar mehr als das; von Piscator und Gasbarra bekomme ich nur diskutierbare und anständig gemeinte Vorschläge … und ich kann nicht. Ich danke immer dem lieben Gott, daß ich kein Talent fürs Theater habe – es wäre mir unmöglich, auch nur zwei Stunden mit diesen Menschen zusammenzuarbeiten. Nicht nur wegen der pekuniären Unzuverlässigkeit – aber diese Atmosphäre von Betrug, Hysterie, Wahnwitz, Weiberkram – also ich nicht. Mein Leben verläuft anders. Jeder seins.
Und Ihr -? Kaufmann von Berlin? Geht das Buch bei Fischer gut? Was tut sach sonst?
Das teile mal an einem schönen Sommerabend mit
Ihrem ergebenen
Mitglied des Reichs-Wildschützen-Vereins
Kassenführer im Verband Deutscher
päpstlich geweihter Präservativfabriken
The Weill Party
The 20th Century’s Most Influential Composer Turns 100
By Michael Feingold Tuesday, Mar 7 2000
Fill in the missing term that links each of the following pairs: Ferruccio Busoni and Fred MacMurray; Jean Cocteau and Lee Strasberg; Fritz Lang and Langston Hughes. Hint: It’s a composer whose music has been recorded by rock groups, avant-garde ensembles, lounge acts, Broadway stars, opera houses, and Anjelica Huston’s grandfather. Second hint: I’m writing this on his 100th birthday. Final hint: Most people, misguidedly, only think of his name as coming immediately after „Bertolt Brecht.“ A hundred years ago, on March 2, 1900, Kurt Julian Weill was born in Dessau, a midsize city in eastern Germany.
Since another of Brecht’s major musical collaborators was a composer named Dessau, you might say that the ironies and confusions around Weill began at his birth. But Paul Dessau did not write the tune of „Mack the Knife“—nor, for that matter, did Bertolt Brecht, though in later life he enjoyed hinting he’d had a hand in it. That sums up, in a way, the struggle Weill’s had establishing his reputation: His tremendous force and originality as a composer were only equalled by his ability to subsume himself, as any theater artist must, in the collaborative act. He changed the face of theater music, and permanently altered the way we think about music in general, but people still think first of „Brecht and Weill.“ And yet he wrote with over 25 other lyricists, an astonishing array that includes everyone from Cocteau and Hughes to the Berlin cabarettist Walter Mehring and the Tin Pan Alley scribbler Sam Coslow. Brecht’s may be the most lasting theatrical voice among Weill’s librettists, but the others—Georg Kaiser, Franz Werfel, Jacques Deval, Maxwell Anderson, Alan Jay Lerner—make up a list from which you could easily build a course on the modern history of the popular stage. Wherever you go in music theater, from mass spectacle to surrealist caprice, Weill was there ahead of you, humanizing the didactic and bringing depth to the divertissement. „He was an architect,“ Virgil Thomson wrote when he died, „a master of musico-dramatic design, whose works, built for function and solidity, constitute a repertory of models.“ And he did it all in 50 years: The centennial of Weill’s birth is also the 50th anniversary of his death (April 3, 1950, of heart failure). The ongoing celebration of his work is both a birthday party and a memorial.
Der vollständige Artikel der Village Voice…
„Die Gedichte, Lieder und Chansons des Walter Mehring„, die 1929 bei S. Fischer erschienen sind, gefallen nicht jedem. Walter Benjamin schreibt in seiner Rezension, dass ihm das „Unvernünftige, Verbissene, Herbe, Verächtliche, Heimweh und amor fati des Verrufenen“ fehlen. Anders als bei Brecht sei die Lyrik Mehrings nicht wirklich groß. De facto bewertet Benjamin die Lyrik Mehrings aber nicht wirklich nach der Qualität der Texte. Es geht ihm vielmehr um die Desavuierung eines Dichters, der sich explizit der kommunistischen Partei verweigerte. Anders als Brecht. Die Wahl einer Textstelle, die tatsächlich nicht zu den starken zählt, ist deshalb weniger Beleg für die Argumentation, als vielmehr Beleg für die Polemik. Und die Suche nach einer so schwachen Textstelle muss Walter Benjamin angesichts der vielen treffenden und sprachlich kraftvollen Texte einige Mühe gekostet haben. Und so erledigt sich die Kritik selbst, da sie nur von Ideologie geprägt ist. (A.O.)
Gebrauchslyrik? Aber nicht so!
Das Chanson, wie es vom Montmartre zu uns heruntergekommen ist, war ein Feuer, an dem der Bohemien sich den Rücken wärmte, jederzeit bereit, einen Scheit zu ergreifen und ihn als Brandfackel in die Palais zu schleudern. Weil aber der Arme alles verkaufen muß, so mußte er’s auch dulden, daß der Reiche sich Zutritt zu seinem Asyl erzwang und sich’s bei einem Feuer gemütlich machte, das darauf brannte, ihn zu verzehren. Das ist der Ursprung des Kabaretts. Schwer ist es den Schülern Aristide Bruants nicht geworden, sich auf die soziale Zweideutigkeit der Gattung einzulassen. Die sexuelle findet sich schnell dazu. Aber auch die Zote war noch Revolte, Aufstand des Sexus gegen die Liebe, und bei Wedekind geht es hart her. Erst recht geht es hart her bei Brecht, dem besten Chansonnier seit Wedekind, und dem lehrreicheren, weil bei ihm um den Waagebalken der Not die beiden Schalen Hunger und Geschlecht gerechter spielen. Mit Brecht hat das Chanson sich vom Brettl emanzipiert, die Decadence begann historisch zu werden. Sein Hooligan ist die Hohlform, in die dereinst mit besserem, vollerem Stoff das Bild des klassenlosen Menschen soll gegossen werden. Damit fand die Gattung ihre scharfe aktuelle Bestimmung. Es reicht nicht mehr aus, Gaunersprache und Platt, Argot und Slang zu parlieren, um hier mitreden zu dürfen. Und, die Wahrheit zu sagen: nie hat es ausgereicht. Wenn es in den Kreisen der »Vaterlandslosen«, »Entwurzelten« so etwas wie Heimatkunst gibt, dann ist es das Chanson, das aus dem engen rauchgeschwärzten Kneipenwinkel kommt. Und wo dergleichen Weisen etwas taugen, da haben einmal Männer beisammen gesessen. Mehring 1) mag allerlei Qualitäten haben, mag der Sprache rabeleske Toupets, balladeske Tollen oder bierbaumsche Schmachtlocken drehen – er hat nie an ungehobelten Tischen gesessen. Das Unvernünftige, Verbissene, Herbe, Verächtliche, Heimweh und amor fati des Verrufenen sind ihm fremd – trotz »Ketzerbrevier« und »Legenden«. Sein Chanson ist ein Esperanto der Dichtung, der Effekt ist sein letztes Wort und niemals liegt er in der Nuance. Ein Mann wie Brecht kann das Massivste anheben, wir werden immer unsere Freude daran haben, wie zart er es niederlegt. Mehring kann gar nicht athletisch genug stemmen, aber wenn man dagegen klopft, klingt es so hohl wie dies:
Und acherontisch donnert der Métrozug,
Apokalyptisch reist der Passagier.
Die Überlieferungen der Decadence sind gerade in Deutschland zu schwer erkauft und zu lauter – man braucht hier nur den Namen Hardekopf zu nennen –, um sich diese akademische Kopie gefallen zu lassen, der ihre Herkunft aus dem Amüsierbetrieb der Großstadt an der Stirn geschrieben steht. Diese Sachen haben keine verändernde Kraft; sie werden keine Umgruppierung verschulden. Denn sie sind nicht von der Niedertracht, sondern vom Masochismus eines bürgerlichen Publikums inspiriert.
Walter Benjamin: Gebrauchslyrik? Aber nicht so; in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt/Main: 1972, S. 183f.