„Wie es zu den geteilten Meinungen über das Eröffnungsprogramm unseres literarischen Kabaretts kam, will ich jetzt noch zu erklären versuchen. Nach meinem Wiener Gastspiel im Kabarett von Direktor Farkas fuhr ich nach Paris. Dort traf ich Dichters- und Malersleute, die mir das »richtige Paris« zeigten, das Paris der Midinetten, Chansonetten und Clochards und den Montmartre mit seinem berühmten Quartier Latin. Mein Freund, der Maler Kohlhoff, der Paris so gut einfing, kannte sich hier, an der »Wiege des Cabarets«, aus, und so zogen wir von einem Keller zum anderen. Es war vor allem das »Lapin agile«, das mich immer wieder anzog. Alle, die dort auftraten, richteten eine Front auf gegen das Spießertum.
Schlagwort: Wilde Bühne
Eines Abends, nach der Vorstellung, rief mich Walter Mehring in den leeren Zuschauerraum. Er stellte mit einen jungen Mann vor. Es war ein stiller, blasser Mensch, mit tiefliegenden dunklen Augen, vonspringendem spitzern Nasengiebel und einem sanften Mund. Dünn und schmal waren auch die
Hände, die aus der zu kurzen Jacke hervorschauten. Alles an ihm sah ärmlich und mager aus, und wenn ihn nicht Mehring persönlich angebracht hätte, ich hätte ihn Wohl kaum beachtet. »Herr Brecht spielt und singt zur Laute und möchte gern bei dir auftreten«, äußerte Mehring schlicht. »Ja?« fragte ich. Der junge Mann blieb weiter still, nur seine runden schwarzen Augen musterten mich abschätzend. »Wie wär’s also, wenn Sie mal an einem Donnerstag . . .«
››Nein«, unterbrach mich Mehring, »das geht nicht, wir werden zu dir in die Wohnung kommen.« – ››Na schön«, antwortete ich, »dann kommt mal an einem Sonntagvormittag, da habe ich mehr Zeit!«
Am 6. November 1921 ist ein Text von Joseph Roth mit dem einfachen Titel „Wilde Bühne“ im Berliner Börsen-Courier erschienen. In ihm beschreibt er einen Abend in dem Kabraett von Trude Hesterberg, das erst zwei Monate zuvor, am 5. September 1921, im Keller des Theaters des Westens eröffnet worden war. Trude Hesterberg selbst sang das „Börsenlied“ Walter Mehrings.
WILDE BÜHNE
Das literarische Kabarett Berlins fängt hier an, sich eine eigene Physiognomie zu schaffen. Noch ist jede einzelne Nummer ein Versuh. Noch schwankt man zwischen Wedding und Montmartre und schlägt zwischendurch einen harmloseren Ton an, den das Publikum auch gerne hört. Aber aus all den gepfeffert-erotischen, sozial-revolutionären und anspruchslos-heiteren Elementen entwickelt sich deutlich ein eigener deutscher Kabarettstil, weniger akademisch als der Morntmartre und dennoch literarisch wertvoll. Er bleibt der Wedekind-Tradition treu, ohne in ihr zu erstarren. Das deutsche Kabarett muß sich nun endlich entschließen, den didaktischen Ton abzulegen. Das Kabarett ist pointierte öffentliche Kritik, wie ein literarisches Witzblatt, und keine Besserungsanstalt.
Dem Novemberprogramm der „Wilden Bühne“ verleiht Leo Heller mit einigen Liedern aus der Welt des Nordens einen chrakteristischen Zug. Die „Berliner Moritat“ zum Beispiel, die Annemarie Hase zu einem scheußlich mißtönigen Leierkasten mit ironischer Realistik singt, hat alle Kennzeichen eines guten „Weddingliedes“. Es ist nicht stilisiert, sondern wahr. Es ist ohne Tendenz. Es trifft, ohne zu zielen. Trude Hesterberg singt das „Börsenlied“ von Walter Mehring. In diesem Lied ist schon der Krampf des Autors zu sehn: Er will unbedingt „der Zeit ihren Spiegel vorhalten“. Er übertreibt also – nicht künstlerisch, was selbstverständlich geboten wäre – , sondern sachlich. Trude Hesterberg schmettert (in einem ulkigen Börsenkostüm) diesen
Kampfgesang gegen die Börse mit erfrischender Sieghaftigkeit hinaus. Sie sieht dann in zwei andern Liedern („Die Knöpfelschuh“ von Heller und „Bein ist Trumpf“ von Radetzki-Janowitz) entzückend aus. Das ist gute, durch Literatur gemilderte und vertiefte Operettenkunst. Eine neue Nuance bringt Berthold Reißig mit „Liedern zur Laute“. Er hat noch etwas Provinz abzulegen. Maximiliane Ackers und Lotte Velden sangen und spielten (ein Ständchen aus dem 16.]ahrhundert, den Deutschen Tanz von Mozart). Maximiliane Ackers ist ein schelmisches Mädchen mit einer nicht immer ausreichenden Stimme, aber sehr viel Musikalität im Leibe. Ein „Racker“, der, ohne zu wissen, wie er ins Kabarett kam, nichts von Montmartre- und Weddingatmosphäre annimmt, sich selbst treu bleibt, mit frommer Fröhlichkeit zwitschert, wie’s kommt. Oh, Abwechslung und Labsal!
Kurt Gerron erzielt mit seiner pointiert-intellektuellen Art, großstädtische Chansons vorzutragen, und mit seiner reichen, rein mimischen Begabung große Wirkung. Alfred Beierle spricht Wedekinds Ballade „Die Keuschheit“ mit großer Meisterschaft. Es gelingt ihm, den ganzen grausigen Weclekindhumor in einer einzigen Geste zu komprimieren, wenn er zum Beispiel eine Faust drohend emporstreckt, ehe er selbst hinter einer Stuhllehne zum Vorschein kommt. Sozusagen eine schauspielerische Pars pro toto. Ein fürchterliches Gelächter lebt in diesen Versen Wedekinds.
Wilhelm Bendow, der eine Dame von der Münchener Oktoberwiese darstellt, entfesselt mit treffenden satirischen Pointen Stürme der Heiterkeit. Er hat sich in seiner sachlich-ironischen Art zu einem Humoristen individueller Prägung entwickelt.
Marcel Glodki hat einige gute Bühnenbilder gezeichnet.
In ihrer kleinen Autobiografie „Was ich sagen wollte“, die 1971 im Henschelverlag in Ost-Berlin erschienen ist, erinnert sich Trude Hesterberg an die Gründung ihrer „Wilden Bühne“ 1921. Hier, im Souterrain des „Theaters des Westens“ etablierte sie ein Kabarett, für das Walter Mehring, Kurt Tucholsky, Klabund und andere Kabarettautoren schrieben.
„In der Zwischenzeit war ich nicht faul gewesen. Wo traf man sie alle, den »Tucho«, den Klabund und den Mehring? Natürlich in dem Künstlerlokal bei Schwannecke! So hockte ich also nächtelang dort herum, Pläne wurden gefaßt und wieder verworfen, Ideen wurden von allen Seiten beleuchtet und verschwanden wieder in der Versenkung, aber allmählich wurden die Umrisse präziser. Kurt Tucholsky sagte zu, den Prolog zur Eröffnung zu schreiben, und zwar als Parodie auf den Musikschlager »Ach, du mein schönes Sorrent«. Der überaus begabte Hans Janowitz wollte eine Ballade schreiben vom »Abgeschnittenen Zopf«, und Mehring war schon mit einem neuen Chanson »An den Kanälen« beschäftigt, das er für mich schreiben wollte. Noch einer gesellte sich zu dieser Runde, der aus Böhmen stammende Redakteur Leo Heller. Früher an Wolzogens Überbrettl, hatte er erkannt, daß hier eine neue Chance lockte. Er unterstützte meine Idee, mit Berliner Lokalkolorit zu eröffnen. Erstens, weil es ihm lag und zweitens weil er dieses »Milieu« durch seine Zeitungsabeit kannte Wie selten ein Nicht-Berliner. Etwaige Zweifel an dem Erfolg eines erstens Programms kamen uns gar nicht. Obwohl ich nun die grundlegenden und wichtigen Dinge, die Form und die Aussage, mit meinen Freunden durchgesprochen hatte und sie mir mit Handschlag zur Mitarbeit verpflichtet hatte – Geld hatten wir immer noch keins!
Als wir es endlich in der Hand hatten – ein bescheidenes Kapital von fünftausend Mark -, gingen wir energisch an die Vorarbeiten. Eine Bühne mußte gefunden werden. Nach langem Suchen fanden wir im Keller des »Theaters des Westens« in der Kantstraße den geeigneten Raum. Der war verpachtet an einen Restaurationsbetrieb und war eine ziemliche »Pleitebude«. Vor Jahren mußte es wohl mal eine Art Bar gewesen sein. Jedenfalls stand so etwas wie eine Theke im Wagnerstil herum. Früher war das »Theater des Westens« Oper gewesen, und ein Professor Sehering hatte als Hintergrund in Goldmosaik in Wagnermotiv an die Wand gepappt: Hagen mit Wurfspeer, Kriemhild mit Etzel und Siegfried mit einer Art Eierkörbchen. dem Nibelungenhort. Kitsch in Reinkultur. Aber unser Vertragspartner, das Ehepaar Jannuschewsky-Reiss, wollte das partout beibehalten, und wir mußten also »Goldlametta« und »Wagnermotiv« mit in Kauf nehmen. Wir waren den beiden übrigens hochwillkommen in der Hoffnung auf bessere Einnahmen. Walter Koppel, unser »Finanzier«, setzte den Vertrag auf und handelte zusätzlich für jedes Mitglied ein freies warmes Abendbrot aus. Wie sich später herausstellte, war das eine ganz großartige Sache. Die Inflation hatte uns bereits schwer in der Zange, der Wert des Geldes sank bald ins Uferlose, der Wert eines warmen Abendbrotes blieb dagegen krisenfest.
Nun hatte ich also gegründet. Das sagt sich so leicht, ist es aber nicht. Die eigentliche Arbeit begann erst. Den geschäftlichen Leiter Koppel hatte ich fest »am Bändel«, die künstlerische Leitung teilte ich mit Hans Janowitz, und Pressechef wurde Eugen Szatmary, der journalistisch noch wie Leo Heller für das »Acht-Uhr-Blatt« tätig war. Alle anderen waren
zunächst bei mir freie Mitarbeiter. Von allen diesen meinen Mitarbeitern sind Tucholsky, Mehring und Klabund der heutigen Generation als die Klassiker des deutschen Chansons bekannt. Viel weniger weiß man von Hans Janowitz, der mehrere gute Bücher und Chansons geschrieben hatte. Ein früher Tod setzte seinem weiteren Wirken ein Ende.“
(Trude Hesterberg: Was ich noch sagen wollte…; Ost-Berlin: Henschelverlag 1971, S. 78 – 80)
Marcellus Schiffer (1892 – 1932), einer der großen Chansontexter der 20er-Jahre, arbeitete bei einigen Kabarettprogrammen mit Walter Mehring zusammen. Am 20. Oktober 1922 hatte an der „Wilden Bühne“ von Trude Hesterberg (1892 – 1967) ein Programm Premiere, zu dem beide Texte beisteuerten. Der folgende Text ist ein Auszug aus Schiffers Tagebuch vom 20. Oktober 1922. Es enthält auch eine unverteilhafte Beschreibung Mehrings, die auch von Neid geprägt ist. Noch wenige Monate vorher, versuchte er sich mit Mehring gut zu stellen, weil er ihn als Fürsprecher benötigte. Die „Wilde Bühne“ hatte Trude Hesterberg 1921 im Souterrain des Theaters des Westens eröffnet. Am 24. Oktober 2011 entüllte Berlins Kulturstaatssekretär André Schmitz eine Gedenktafel an das Kabarett am Theater des Westens. In ihr werden viele Akteure, Texte und Autoren aufgeführt. Der Name des Berliners Walter Mehring fehlt in der Pressemitteilung der Staatskanzlei von Klaus Wowereit.
„Freitag, den 20. Oktober Kotzmiserabel und hoffnungslos. Alles scheint schiefzugehen wie gewöhnlich. Viel Ärger mit dem Engagement beim Rochus-Gliese-Film, das immer noch nicht zustande gekommen. Immer nur Versprechungen und sichere Zusagen, aber kein Vertrag. Wenn das wieder fehlschlägt, glaube ich an gar nichts mehr. Viele Proben in der Wilden Bühne, auch viel Ärger, weil unmögliche Menschen mit nicht gerade meinem Geschmack. Kein Wunder danach der Erfolg des Blauen Vogels. Von mir vier Couplets. Fliegentüten. Niveau für Dora Paulsen, eine eingebildete, mäßig begabte Anfängerin,
der es sich nicht einmal lohnt meine Meinung zu sagen, weil sie zu blöde ist. Charlot von Kate Kühl fabelhaft vorgetragen, und Die bessere Sache von Bendow unübertrefflich. – Walter Mehrings Sachen sehr gut – bis auf Gerrons, aber nach meinem Empfinden nicht so für Publikum geeignet. Man fragt: »Na und?« Bis auf Die kleine Stadt, die fabelhaft gemacht ist bis auf den letzten Vers, der sehr überflüssig und sentimental: alles schon dagewesen. Mehring selbst wie eine kleine Ratte oder so was, mißgünstig, ehrgeizig, unsympathisch, verbissen, verbittert, unzufrieden mit seinem Aussehen, wie mir scheint. Ein unsympathischer, aber fabelhaft begabter Mensch. – Heute abend ist Premiere des Programms. Sehr gespannt! Toi-toi-toi!“
Marcellus Schiffer: Heute nacht oder nie – Tagebücher, Erzählungen, Gedichte Zeichnungen hg. von Viktor Rotthaler; Bonn: Weidle Verlag 2003, S. 111.