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1977 Kabarett Lieder

Walter Stapper erinnert 1977 an „Die verbrannten Dichter“

1977 hat sich Walter Stapper an „Die verbrannten Dichter“ erinnert und ein Programm mit Liedern dazu erstellt. Walter Mehring, Kurt Tucholsky, Ernst Toller, Lion Feuchtwanger, Heinrich Heine, Bertolt Brecht, Irmgard Keun, Else Lasker-Schüler, Erich Mühsam, Hirsch Glik und Erich Kästner hatte Stapper für sein Programm ausgewählt. Zur Gitarre sang er zu Kompositionen von Hanns Eisler, Peter Janssens und Bela Reinitz dar. In Rezensionen aus dem Jahr 1977, etwa aus den „Nürnberger Nachrichten“, wird das Programm sehr positiv bewertet: „Langanhaltender Beifall dankte Walter Stapper für diese lebendige und farbige literarische Geschichtsstunde.“

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1946 Lieder Lyrik

Erich Grisar hält Walter Mehring 1946 für tot

Erich Grisar (Hg.): Denk ich an Deutschland in der Nacht - Eine Anthologie deutscher Emigrantenlyrik Aber auch jene Dichter, die die Tiefe ihrer Gefühle hinter der strengen Sachlichkeit ihres Stils zu verbergen trachten, haben schwer an der Verlassenheit getragen, in die das Schicksal sie gestoßen. So bekennt Walter Mehring – der doch vor 1933 schon lange Jahre in Paris lebte und mit dieser Stadt so verwachsen war, daß er ihr einen Roman widmete -, daß er manchmal im Schlaf berlinert, und als man Alfred Kerr die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannte, dichtete er:

Deutschland, kein winselndes Abschiedsweh!
Liebe dich doch wie eh und jeh.
Bin aus dir (nicht von dir) verbannt,
Wende den Fuß nun anderwärts,
Bist du dereinst nicht Hitlerland,
Drück ich dich wieder ans Herz.

Es mußten viele Jahre voll schmerzlichen Geschehens vergehen, ehe diese Hoffnung sich erfüllen durfte. Mancher hat die Spannung der langen Trennung nicht ausgehalten und seinem Leben ein vorzeitiges Ende bereitet, wie Kurt Tucholski (sic!), Ernst Toller, Walter Mehring, Stefan Zweig und Ernst Weiß. Andere wie Max Hermann Neiße, Joseph Roth und Robert Musil sind gestorben, ohne die Heimat wiederzusehen, ein Schicksal, das ebenso Georg Kaiser und Franz Werfel widerfahren ist, wenn sie auch das Ende des Regimes, das sie aus dem Lande trieb, noch erleben konnten.

Wenn zu der hier getroffenen Auswahl noch einige Worte gesagt werden dürfen, so ist zu betonen, daß alle vorgelegten Gedichte aus der ersten Zeit des Hitlerreiches stammen. Das bedingt, daß manches von ihnen stofflich überholt ist. Doch eben das war der Grund, die
Gedichte, die bisher nur in Abschriften in Umlauf waren, neu vorzulegen; denn sie sind unverwischbare Zeugen einer Zeit, die uns damals unerträgliche Barbarei zu sein dünkte und die, wie wir zu unserem Leid erfahren mußten, doch nur das uns heute fast harmlos scheinende Vorspiel einer Epoche war, die Schuld und Verbrechen ins Maßlose häufte.

Die Art des Entstehens dieser Sammlung führte dazu, daß mancher bekannte Name fehlt, aber neben den Lücken wird der Leser auch auf manches Wertvolle Gedicht stoßen, das heute an keiner anderen Stelle mehr auffindbar sein dürfte; denn obwohl mehr als ein Jahr vergangen ist, seit der furchtbare Alp von uns gewichen ist, der länger als ein Dutzend Jahre auf uns allen lastete, ist doch (von Glaesers Roman „Der letzte Zivilist“ und Langhoffs Moorsoldaten“ abgesehen) noch so gut wie keins der Bücher, die in der Emigration geschrieben Wurden, in Deutschland neu herausgegeben worden. Dieser Tatsache entnehmen Verlag und Herausgeber die Berechtigung, diese kleine Sammlung vorzulegen, um dem deutschen Leser einen Hauch von jenem Geiste zu vermitteln, der jenseits der deutschen Grenzen lebendige Wirklichkeit gewesen ist und den die Menschen innerhalb der Grenzen so lange nicht mehr haben spüren können.
Dortmund, im Juli 1946.
ERICH GRISAR.

(Dieser Text von Erich Grisar ist ein Auszug aus dem Vorwort für die Anthologie „Denk ich an Deutschland in der Nacht, in der Lyrik aus dem Exil 1946 in Deutschland vorgestellt wurde. Erich Grisar zählt Mehring in dem Text zu denen, die sch im Exil das Leben nahmen. Dass ihm die Flucht über Frankreich in die USA geglückt war, war dem dem Dortmunder Autor, der während des Dritten Reichs ebenfalls mit Publikationsverbot belegt war, nicht bekannt. Etwas mehr als ein Jahr nach der Kapitulation ist der schmale Band erschienen und war einer der ersten, der sich mit dem Schaffen der Eimgranten beschäftigte.

Erich Grisar (Hg.): Denk ich an Deutschland in der Nacht – Eine Anthologie deutscher Emigrantenlyrik; Karlsruhe: Verlag Volk und Zeit 1946; hier: Nazi-Zoo, S.44 f; Das Tränenfass, S. 46 f., Ode an Berlin, S. 48 f., Erich Mühsam, S. 50.)

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1940 1941 Lyrik

Mehring liest einen Brief aus der Mitternacht

Der X. Brief aus der Mitternacht ist wohl der beeindruckendste des Gedichtzyklusses. Im Exil an seine Freundin Hertha Pauli geschrieben fassen die zwölf Gedichte die Stimmungslage und die Erlebnisse der Jahre 1940 und 1941 von der Flucht aus Paris bis zum Januar 1941 in Marseille zusammen. Von der Abreise nach Martinique und der Weiterreise in die USA ist in dem Zyklus noch nichts zu ahnen. Der X. Brief ist von einer traurigen, fast schon sprachlosen Erinnerung an zwölf inzwischen verstorbene Freunde und Kollegen geprägt. Wobei die Sprachlosigkeit natürlich in Worte gefasst ist. Sie ist der Eindruck, der beim Lesen, beim Hören entsteht, weil diese sprachmächtigen Freunde von Erich Mühsam über Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky, Ernst Toller, Joseph Roth über Ernst Weiss, Ödon von Horvath, Carl Einstein und Rudolf Olden, Walter Hasenclever bis zu Theodor Lessing ihre Sprache, ihr Leben verloren haben. Weil diese Schriftsteller von den Nazis ermordet oder auf der Flucht ihr Leben verloren haben, beziehungsweise sie es sich wie Ernst Toller nahmen, weil sie das Exil und die Aussichtslosigkeit nicht mehr ertrugen.

 

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Rezensionen Wissenschaft

Max Herrmann-Neiße stellt Kabarettdichter und Kabarettkomponisten vor

Die Textlieferanten der ersten Überbrettlära in Deutschland waren (wie gesagt) lyrische Limonadenfabrikanten wie Ernst von Wolzogen, Bierbaum, platte Bonmotdrechsler und Bonhomiesatiriker wie Pserhofer, Rideamus. Traten im Rahmen dieser Kabaretts wirkliche Dichter auf, so war das eine ganz unorganische Erscheinung, ihrer Art nach hatten diese Poeten (Hille, Liliencron, die Lasker-Schüler) nichts mit den besondren Anforderungen eines Kabaretts zu tun, sie schrieben nicht fürs Kabarett und sie schrieben auch nicht so, daß ihre Werke irgendeine Möglichkeit gehabt hätten, vom Kabarett aus zu wirken. Von wirklichen Künstlern gemachtes Kabarett, das eine Welt für sich darstellte, war eben erst das der »Elf Scharfrichter«, mit den Dichtern Wedekind, Lautensack, Greiner, Ludwig Scharf, Gumppenberg. Dann gab es in den drei, vier Jahren, die dem Weltkrieg vorausgingen, eine Dichtung, die zwar nicht direkt fürs Kabarett gemacht war, aber ihrer Struktur nach einem wirklich künstlerischen und selbständigen Kabarett sehr geeignetes Material geboten hätte – ein Material, das erst jetzt ein paar belangvolle Kabaretts zu benützen anfangen. Die impressionistisch-naturalistische Literaturepoche hatte es in ihrem Ausgang zur grotesken Dichtung gezogen. Nachdem die höchste Reife des formalen Niveaus erreicht war, konnte man akrobatische Wagestücke und verblüffende  Fingerfertigkeiten vorführen. Man hatte alles ausgekostet, alle Illusionen verloren, nun wurde man zuletzt artistischer Illusionist. Oder man hielt Berlins Großstadtsensationen in grotesk frisierter Verklärung lyrisch fest, dämonisierte die Vergnügungsmöglichkeiten, die Deutschlands Hauptstadt damals den Kapitalkräftigen bot. Die Reihe der Dichterexzentriks war groß und mannigfaltig, Scheerbart, Meyrink, Mynona waren ebenso darin wie Hardekopf, van Hoddis, Lichtenstein, Ernst Blass, Hugo Kersten und das Autorenterzett der Kriminalsonette (Ludwig Rubiner, Friedrich Eisenlohr, Livingstone Hahn). In der Öffentlichkeit dominierte gleichzeitig das durchschnittliche Vorkriegskabarett, das hauptsächlich von einer unreellen, kitschigen Nobelpikanterie zehrte, deren Personen der elegante Herr und sein Verhältnis waren, und die Erotisches mit einem schmalzigen, aber durchaus eindeutigen Schmus servierten. Dafür waren die gefragten Autoren beispielmäßig Eddy Beuth, Ralph Benatzky (Die kleine Pagode, Piefke in Paris, Die Marquise von Laualliere), die Lieblingskomponisten Rudolf Nelson, Bogumil Zepler, Bela Laszky, Harry Waldau, Nicklaß-Kempner, Rebner, Ehrlich, eine Reihe, die heut noch tätig und wirksam ist, da ja dieses Amüsiergenre immer bleibt, und sich fortsetzt in Autoren wie Wilczynski und Komponisten wie Stransky. Während des Kriegs lebte das Durchschnittskabarett natürlich von billiger Verunglimpfung der »Feinde«, gewürzt durch galante Tanzeinlagen. Nachher benötigte man eine revolutionäre Walze. »Soziales« dem Schieberpublikum der Neppetablissements mundgerecht aufzutischen, siedelte man es ausschließlich in der Sexualsphäre an. Man verabreicht Sektgästen kein Dynamit, sondern verhilft ihnen, wenn’s hochkommt, zum angenehmen sadistischen Kitzel, oft gar nur zur witzlosen Stammtischschweinerei, die durch den Gassendialekt Ursprünglichkeit vortäuscht. Da ist die Dirne nicht aus ihrem Wesen heraus gestaltet, sondern aus der falschen Vogelperspektive ihrer Gelegenheitsbesucher gutbürgerlicher Provenienz. Standpunkt des beschwipsten Zynikers, der voll beleidigender Bonhomie ein »fideles« Unterwelt-Gastsspiel gibt. Oder des Romantikers, der sich selber berauscht an seinem arroganten, bequemen Mitleid. Wedekinds dämonische Beschwörung dieser Sphären ist nicht beliebt, macht denen Unbehagen, die in ihrer Selbstgefälligkeit nicht gestört sein mögen und gewohnt sind, über Abgründe sich hinwegzuwitzeln. Nicht die erstarrte Maske, sondern der zwinkernde Rouéblick, nicht eines Dichters unerbittliche Stimme, sondern des Commis voyageurs fettes Schnalzen gilt. Beispiele für die erträgliche und die unerträgliche Manier solcher Kabarettliteratur bietet Leo Hellers Sammlung Aus Pennen und Kaschemmen. Goldschnittlyrik mit dem Thema: Berlin NO. Nur ein paar Nummern haben ihre Stärke in der Eignung zum Vortragsmaterial insofern, als sie von vornherein gestellt sind auf die besondere Situations- und Ausdruckszuspitzung, auf den eignen Tonfall der Brettl-Brauchbarkeit. Die Schwindelatmosphäre des Berliner Kriegs- und Nachkriegsbetriebs, diese Hochstapler- und Vabanquestimmung mit ihrem Gemisch aus Wüsten, Feilschen, Bluffen, Talmikavaliertum, Nuttigkeit, Versumpfung, Gezappel, nimmt die deutsche Abart des Dadaismus dann einfach als Technik auf, erbarmungslos, exakt, mit nötiger Kaltschnäuzigkeit, marsch artigem Draufloshämmern, marktschreierischer Inseratenstrophe, marionettenhafter Geschäftigkeit, im rechten Grammophonrhythmus, betreibt die Tollheit als Gewerbe und schafft so auch für ein selbstherrliches Kunstkabarett bizarre, klischeefeindliche Vorlagen, in Gedichten von George Grosz, Richard Huelsenbeck, Hans Arp, Kurt Schwitters und in hanebüchner Prosa von Raoul Hausmann. Die Reihe der Außenseiter-, Urwuchs-, Unbandpoeten, jener Dichter, die durch die Vogelfreiheit und Konventionslosigkeit ihres Werkes für ein geistiges, kämpferisches Kabarett wichtige Anreger bleiben, setzte sich inzwischen von Wedekind, Ludwig Scharf über den gesinnungsechten Barden Erich Mühsam, dessen Verse voll spontaner Explosion und bittrer Sachlichkeit sind, radikal ohne radikale Form allerdings, und über die lebensechte, ursprüngliche, schicksalhafte Bohemienhaltlosigkeit der Emmy Hennings fort bis zu Bert Brecht, dem dramatischen Gestalter von gesellschaftsfeindlichen, schwärmenden und wüstenden Urtumsexistenzen, dem erschütternden Bänkelsänger der wilden Moritat Apfelböck oder die Lilie auf dem Felde und der großartig aufreizenden Ballade vom toten Soldaten.

Der unnachahmliche Ausbund von einem lebensechten Vagantenpoeten aber ist Joachim Ringelnatz, heutiger Franccis Villon, der erschüttert, wie nur die Einheit von Dichter, Werk, Leben erschüttern kann. Ein Original, etwas herrlich Veralkeholisiertes, Urviechiges, mit dem niederträchtigen Dichterblick für die Kleinzüge allen Außenseitertums, dem etwas für sei nen Bezirk so Klassisches entstammt wie Noctambulatio. Einst war er nur ein Münchner Unikum, als Boetticher einer von den Hauspoeten im »Simplizissimus« der Kathi Kobus, der in Morgensternartigen Sächelchen wie der Schnupftabaksdose den Durchschnitt kaum überragte. Aber in den Turngedichten, in den Phantasien des Matrosen Kuddel Daddeldu und im Geheimen Kinder-Spiel-Buch schuf er sich dann eine ganz eigentümliche, barocke Ausdrucksform, einen Ton und Rhythmus, den nur er so hat, für eine ganz eigne Erlebniswelt. Das sind drei Maskierungen oder Demaskierungen ein und desselben Wesens. Dieser Seemann Kuddel Daddeldu, dieser Turnerschreck und dieser Wegweiser für Enfants terribles – es ist mehr als »ernsthaft selbstparodistische Laune«, es sind keine Fiktionen, keine »erdichteten Gestalten«, es ist der Zwang, seine verquere, verfahrene, halb lachhafte, halb melancholische Lebenschose in Zickzackbahnen zu erledigen. Alles ist gleich echt und verflucht schicksalhaft, der Ekel an der strammturnerischen Umwelt, daß man sich in nebulose seemännische Gruseligkeiten flüchtet, wo man von einst erlebten oder auch nur vorgestellten exotischen und erotischen Abenteuern träumt, und schließlich in allem als Kind dasteht, himmlisches, boshaftes Kind, dem alles nur Spiel ist und nach automatischem Widerpart und Schabernack der kaum von Trunkenheit zu unterscheidende Urweltschlaf kommt, der selig fallend von nichts mehr weiß.

Dieselbe göttliche Naivität herrscht in allen drei Büchern und überall grenzt sie nahe an die raffinierteste Bewußtheit exzentrischer Technik, aber darin ist kein Widerspruch, wer selbst ein vielfältiger, hin und her gerißner Dichtermensch ist, kennt das, wie man dicht nebeneinander lindeste Schwärmerei, schadenfrohen Zynismus, Liebenswertes und Selbstzerstörensches haben kann und muß. Dieselben Grundelemente finden sich in allen drei Werken: der energische Zugriff, das wurschtige Sichfallenlassen, die schnuppige, ruppige, weit absichtslose, so doch im letzten Sinne keusche Eindeutigkeit, die keine Zote ist, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der man auch diesen Dreck des Lebens, der einen immerzu plagt, hinschmeißt, und auch die scheinbare Herzlosigkeit und Grausamkeit mancher Verse ist kein Gefühls- oder Gewissensmangel, eher der Überfluß daran, der sich mit der faktischen Herzlosigkeit der tatsächlichen Majorität der Mitbürgerschaft zu deren Ungunsten ausgleicht. Heut tritt Ringelnatz in allen größeren Kabaretts Deutschlands auf, und wie er seine Dichtungen bringt, mit dem vollkommnen Eindruck des Improvisierens, schnapsselig über der Situation Stehens, großzügiger Liederlichkeit, das paßt so vorzüglich zu seinem Vortragsmaterial, daß aus Mensch, Poet, Rezitation und Carmen die komplette Einheit geschaffen ist. Wirklich heutigen Dichters Wesen kann nur sein die undefinierbare, im Grund doch grausliche und höllische Mittellage zwischen Tragik und (noch mit Tragik getränktem) Grinsen. Ringelnatz verkörpert sie auf eine ganz originelle Art, und wie er z. B. die Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument nicht vorträgt, sondern zu einem prägnanten Drama leibhaftigen Erlebens macht, muß auch dem Stumpferen beigebracht sein, daß des grotesken Dichters (wie jeglichen wahren Dichters) Element die Tragik, die unleugbare, unentrinnbare Daseins-Tragik bleibt.

Ein Dichter, der nie direkt fürs Kabarett schrieb und leider bis jetzt noch von keinem Kabarett gebracht wurde, dennoch für ein wirklich im Geistigen radikales Kabarett der Dichter von überlegner Originalität und Unnahbarkeit wäre, ist Gottfried Benn. Die Vehemenz seines Griffes ist ohnegleichen, und alles ist das schroffste Gegenteil von Sentimentalität. Die Gattung Couplet ist gesteigert ins schonungslos Vernichtende, daß die Fronde der besten bisherigen Angriffs-Chansons tief unter Benns Nihilismus bleibt, weil jene die Feindschaft innerhalb derselben Welt, Benns Dichtungen aber brückenlosen Bruch bedeuten. (Eine Wucht, die zu geißeln weiß, ohne in Eckengezänk zu vernörgeln, teilt ihre gut gezielten Bewegungen aus. Seine Dichtung, traditionslos heidnischen Geistes voll, bombardiert die Erstarrung, Stupidität, Verdünnung und Entblutung des Daseins. Und als Benn über ein Preisausschreiben »für das beste deutsche Chanson« als über ein Symptom der Zeit sich ärgerte, schrieb er einen Prolog- über einen deutschen Dichterwettstreit [Die Aktion, Jahrgang 12, Nr. 9/10], der ingrimmig das ganze Repertoire heutigen »Kultur«-Schwindels bucht und als Vernichtung durchschnittlich kabarettistischen Animierbetriebs zugleich das idealste Vortragsmaterial für ein faktisch gefährliches Revolte-Kabarett darstellt.)

Ein Chanson zu schreiben, das sich vollkommen mit dem deckt, was die Gattung fordert, ist eine Aufgabe, deren Schwierigkeit man nicht unterschätzen darf. Autoren, die das konnten und sich auf die spezifischen Bedürfnisse des Kabaretts bewußt einzurichten verstanden, direkte Kabarettautoren von wirklichem Rang gab es in Deutschland lange nicht. Um 1919 erst existieren zwei Leute, die als Kabarettautoren ernsthaft in Betracht kommen: Kurt Tucholsky und Walter Mehring. Kurt Tucholsky, unter diesem Namen und unter den Pseudonymen Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger Hauptmitarbeiter der Jacobsohnschen »Weltbühne«, hat eine Fülle witziger Couplets geschaffen, die das bis dahin übliche Niveau noch überragen. Sie sind meist angriffslustig in einer gewissen Texten versorgen kann, daß eine gute Humoristin alten Stils, etwa Else Ward, und die Repräsentanten neuster Ausdrucksform (die Holl, die Ebinger, Paul Graetz) seine Chansons bringen. Er hat oft sehr gut den rechten Berliner Ton getroffen, in der Dame mit’n Avec und in den Soloszenen, die er für Graetz schrieb. Eine neue Art Chanson, eine ganz dem Rhythmus der Zeit und dem Rhythmus heutigen Kabaretts entsprechende Coupletkunst begründete Walter Mehring. Er begann damit, die alte Berliner Gassenhauer-Tradition mit neuster Ätzung und Wuppdizität zu beleben. Da gelangen ihm so vorbildliche Treffer wie Deutscher Liebesfrühling 1919, ‚Fräulein lrene, Couplet en voltige. Was Mehring vor allem zu seinem Metier befähigt, ist eine rhythmische Feinfühligkeit, eine Treffsicherheit, den richtigen Vortrags-Schwung jedem einzelnen Couplet gleich mitzugeben, daß schon im Takt die Situation sich ausdrückt und Melodik und Stimmung sich vollkommen decken. Dabei ergibt sich für die verschiednen Gelegenheiten eine dementsprechende Abwechslung: eine Ahnung vom Tonfall Bruantscher Schreckenslieder (Die Kartenhexe, Zum blauen Affen, Cabaret Schwalbennest, die Kehrreimweise Moralisches Glockengeläute, Kinderlied), eine Simultanität, die von der »Fortgeschrittnen Lyrik« manches nutzte (Graduale) und schließlich das originellste Produkt eines freien Rhythmusses der Couplet-Technik, wie es beispiellos leuchtet in Die Reklame bemächtigt sich des Lebens. Es muß noch einmal gradezu konstatiert werden, daß der nun so oft dünner nachgemachte Vortrags-Elan, der die rasende Mechanik des Großstadtbetriebes exakt ausdrückt und so etwas wie einen Expressionismus der Brettl-Dichtung, eine im Automobiltempo losgelassene, gebremste und Kurven nehmende Momentaufnahme, zuerst und am intensivsten moussierte in solchen Mehringoriginalen wie Achtung Gleisdreieck, Sensation, Salto mortale. Er erwischt alte und neue Medien grade im rechten Moment, ladet sie mit seiner Elektrizität, und die eigne tadellos funktionierende Walze ist perfekt. Er würfelt die ulkigsten Reime erster und zweiter Ordnung durcheinander, macht aus überstürzendem Radebrechen eines liebestollen Fremdlings die Note des Kaukasierliedes, mixt aus Niggersong, Ragtime und Operettenrefrain eine Jazzband, eine mit Sätzen verübte Tanzorgie, und kurbelt die gute alte Popularität des Berliner Volkslieds in eine ganz gegenwärtige Vehemenz. Diejenigen haben aber Unrecht, die den Mehring nur als den poetischen Lokalreporter möchten gelten lassen, wenn er auch, unter anderm, den Jargon des »Berliner Schlagers« wie kein zweiter Meister, ihn für modernste Force gebrauchsfertig machte mit all seinem Mutterwitz, seinen pfiffigen Worteinfällen, dem derben Rotwelsch seiner Respektlosigkeit. Aber Mehrings Bezirk ist nicht bloß ein Rummelplatz, Pficht nur der größre Rummelplatz Berlin, sondern die heutige Erdoberfläche schlechthin, Mehrings Sujets sind international, er beherrscht viele Register, und er läßt sich auch nicht einmal auf ein einziges Temperament, auf eine einzige Gefühlsnuance festlegen. Mokante Kaltschnäuzigkeit, absolute Gemütslosigkeit ist die Signatur, mit der man ihn abstempelt, aber dann wird man bei ihm auf einmal von Sachen beunruhigt, die so gar nicht ins Schema passen, wie Die Kiilte oder Die roten Schuhe, wo ein schnoddriger Spötterpoetisch kommt. Ein Grundzug Mehrings ist schon die blutige Skepsis, die sich von keiner Illusion mehr zur Ehrerbietung anführen läßt (und auf die Kaffrigkeit der lieben Umwelt spuckt), aber schonungslosen Zynismus und krasse Verachtung bringt erst der auf, der im Tiefsten einer zarteren Anbetung tödlich enttäuscht wurde. Solches Getroffensein wächst zum diabolischen Aufschrei des Puppenspiels Weiße Messe, zu den »Geißelliedern« Lita nei und Schwarze Ostern. Mehrings Schöpfungen haben ihren Platz im Repertoire der wesentlichen neuen Kabarettkünstler (Gussy Holl, Rosa Valetti, Trude Hesterberg, Blandine Ebinger, Kate Kühl, Erika von Thellmann, Mady Christians, Kurt Gerron, Fritz Kampers, Gustav von Wangenheim sangen sie), man kann ein ganzes ideales Kabarettprogramm allein aus seinen Büchern zusammenstellen mit Berlinischem, Ländlichem, Internationalem, mit Sentimentalem und Aggressivem, Zärtlichem und Barschem, Schwärmerei und Abfuhr, wobei für Ankurbelung, Atemholen, Steigerung und radikal brüsken Ausklang bestens gesorgt wäre. Da gäbe es pompöse Monstrestücke wie die Arie der großen Hure Presse und Blocksberg, Bravournummern wie Dressur, Der Rattenfänger von Hameln, Amerikanisches Riesenspielzeug, Balladen wie die vom Abenteurer und vom Highwaymann, hinterhältige Romanzen wie Mein Herz, unscheinbare, sanfte, dennoch mit geheimer Schadenfreude geladne Liedchen wie Die kleine Stadt und Bergerette. Dann ganz große, Stimmung der Weltstadt in unendlicher Schwermut gestaltende Dichtung Wenn wir Stadtbahn fahren, radikale Attacke Die Maschinen, wundervoll grinsende Ironie Ziehende Schafherde, bestes Tingeltangel If the man in the moon, robustes Chanson Die Gardekiirassiere, schnuppige, unbürgerliche, vagabundenfrohe Justamentstrophen Die vier auf der Walze und Choral für Seemannsleute und schließlich die beiden besten kabarettgemäßen Persiflagen, die ich kenne, die Oberammergau-Parodie und den Russischen Holzschnitt. Mehring-Nachahmer und -Epigonen gibt es nun schon die Masse (man findet sie sogar in den Animierkabaretts der Friedrich- und Jägerstraße, wo die Sache allerdings ganz verplattet und veräußerlicht wird). Noch verhältnismäßig selbständig dagegen bediente sich Hans Janowitz des Mehringstils, indem er ihn mehr mit seiner weicheren, laueren, gefälligeren Art durchtränkte und plausibel machte. (Das ergab Sachen wie den Nachtspaziergang 1921 bis zu so nichtssagenden Massenartikeln wie Wenn der Morgen graut, nimm dir keine Braut dem Autobus-Chanson und dem Javalied.).
Der Schauspieler Hermann Vallentin kommt aus seiner eignen temperamentvollen Menschlichkeit und Drastik und aus einer gewissen verständnisinnigen Lebensbeobachtung zu ein paar Couplet-Texten voll Mutterwitz und echt Berlinischer Mischung aus Rührung und schlagfertiger Laune. Sein Dornröschen auf dem Wedding wurde von Blandine Ebinger gesungen, Wenn der Frühling in die Höfe steigt von Annemarie Haase, Sind’s die Augen, geh‘ zu Buhnke leider nur von einer matten Kopie der Ebinger. Das Lied von der republikanischen Droschke, Eine Viertelstunde Zeitgeist, Der Mann ohne Namen trug er selbst vor. Klabund, der alles kann, hat eigentlich auch in seinen Kabarett-Texten keine eigne Note, nur, daß es immer gefällig brauchbar gemacht ist, sei es ein Hamburger Hurenlied (das die Häusinger zur Laute sang), eine Soloszene Der Spieler (vom Schauspieler Hubert von Meyerinck gestaltet) oder zuerst von der Ebinger gesungne Piecen wie Deutsches Volkslied oder die kessen Chansons Wo andre gehrt, da muß ich fliegen und Ich baumle mit de Beene. Jetzt beliefert am eifrigsten die Kabaretts mit Texten Marcellus Schiffer. Der ist schon sozusagen ein Routinier des Chansontextes, aber in einer mittleren Position, zwischen dem Kabarett – Dichter Mehring und über den vielen kleinen Zufall-Schreiberchen, die glauben, sich den Kabarettstil angeeignet zu haben, wenn sie in schwüler Stimmung oder in kesser übertriebenheit versiert sind. Schiffer hat wirklich eine direkte Kabarettbegabung, seine Texte sind oberflächlicher als die Mehrings, nicht so unterirdisch gefährlich, nicht so mit Sprengstoff geladen, aber doch meist mit dem Zynismus eines überlegnen Intellekts gespeist, der sich nicht düpieren läßt. Auch er beherrscht mancherlei Walzen: kann zierliche, kunstgewerbliche Reizsächelchen machen wie Chinoiserie, derbe Humoresken wie Immer Emma, hat immer wieder zeitgemäße Einfälle, läßt einmal eine Midinette, einmal eine Hoteldiebin, einmal einen wohnungssuchenden »möblierten Herrn«, einmal eine Fliegentütenjungfrau, einmal ein Fräulein Raffke erscheinen. Die Schlagworte und Modesprüche bringt er sofort geschickt in der richtigen sarkastischen Umformung unter: Jeder Mann sein eigenes Niveau, Verständigungspolitik, Ick hab mir jarnischt bei jedacht. Schließlich die Höhepunkte seiner Produktion sind jene hemmungslosen Persiflagen erotischen Schwindels: Eine beßre Sache, Die Perverse, Die Linie der Mode, Die Minderjährige und die Kinderlieder.) Auch sein Schaffen ist nicht auf einen einzigen, in einer bestimmten Linie talentierten Künstler zugeschnitten: es gab so verschiednen Temperamenten und Typen wie Bendow, Benofsky, Rose Müller, Dora Paulsen, Annemarie Haase, Kate Kühl, Margo Lion den grade für sie richtigen Stoff.

Komponisten des heutigen Kabaretts sind Friedrich Hollaender, Werner Richard Heymann, Mischa Spoliansky, Victor Heermann, Stefan Meisel, Allan Gray, Clauberg, Michael Krauss, Hermann Krome. Victor Heermann hat eine Süße, etwas Lyrisches, das ein Altes Rokokolied besonders einprägsam macht oder Schiffers Chinoiserie oder zierliche Gedichte von Franz Hessel. Gelegentlich kann er allerdings auch etwas Robusteres (Wozu in’n Kintopp?) sachgemäß vertonen. Seine beste Interpretin bleibt seine Schwester Belly. Mischa Spoliansky stellt am schmissigsten den grotesken, vigilanten und prägnanten Rhythmus des modernen Getriebes dar. So brachte er Schiffers Frozzeleien, Vallentins Wenn der Frühling in die Höfe steigt, den Matrosensang und meine eigne Rummelplatz-Persiflage vom Wilden Mädchen Kuddly auf die wirksamste Pointe. Werner Richard Heymann ist ein Musiker von vielen Graden. Er hat die Melodie, die verführerische, einschmeichelnde, manchmal bis ins fast Süßliche entschwebende Melodie! Und er hat auch die Fähigkeit zur großen ernsthaften Aufmachung. So gab er die einfache Weise zu Ottakring, Ich und mein Freund, Cascan, Wiegenlied, die graziöse zu Kleine Stadt, Midinette, Schattenfox, den Aufwand für die Arie der gro(3en Hure Presse und das Lied der Fürstin Trubetzkoi, das Balladeske für Charlot und den Abenteurer, das Parodistische für Lulaley, Zirkus, Madagaskar. Mehring erklärte mir, der völlig adäquate Komponist für seine Dichtungen sei noch nicht gefunden. Trotz Friedrich Hollaender, der für mein Gefühl bis jetzt am sichersten einen eignen Brettlstil schuf, Texte von Mehring, in der Spannungsweite von Blocksberg bis Mein Herz mit reinster Einfühlung vertonte und oft mit Erfolg sein eigner Autor war. Amerikanisches Riesenspielzeug, Rattenfänger, Russischer Holzschnitt, Kleine Internationale sind auch vom Komponisten aus so gut bedacht, daß sie mit dem richtigen Schwung und soviel farbiger, graziöser Tonmalerei, wie jedes von ihnen bedarf, zum Gesamtkunstwerk von holdem „Wuchs sich runden. Und einmal haben Walter Mehring, Blandine Ebinger, Friedrich Hollaender miteinander das Idealkabarett doch zumindest vorgezeichnet.