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1940 1941 Lyrik

Mehring liest einen Brief aus der Mitternacht

Der X. Brief aus der Mitternacht ist wohl der beeindruckendste des Gedichtzyklusses. Im Exil an seine Freundin Hertha Pauli geschrieben fassen die zwölf Gedichte die Stimmungslage und die Erlebnisse der Jahre 1940 und 1941 von der Flucht aus Paris bis zum Januar 1941 in Marseille zusammen. Von der Abreise nach Martinique und der Weiterreise in die USA ist in dem Zyklus noch nichts zu ahnen. Der X. Brief ist von einer traurigen, fast schon sprachlosen Erinnerung an zwölf inzwischen verstorbene Freunde und Kollegen geprägt. Wobei die Sprachlosigkeit natürlich in Worte gefasst ist. Sie ist der Eindruck, der beim Lesen, beim Hören entsteht, weil diese sprachmächtigen Freunde von Erich Mühsam über Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky, Ernst Toller, Joseph Roth über Ernst Weiss, Ödon von Horvath, Carl Einstein und Rudolf Olden, Walter Hasenclever bis zu Theodor Lessing ihre Sprache, ihr Leben verloren haben. Weil diese Schriftsteller von den Nazis ermordet oder auf der Flucht ihr Leben verloren haben, beziehungsweise sie es sich wie Ernst Toller nahmen, weil sie das Exil und die Aussichtslosigkeit nicht mehr ertrugen.

 

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1937 Biografisches Brief

Aus einem Brief Walter Mehrings an Rudolf Olden

Brief Walter Mehring an Rudolf Olden, Wien 30. 5. 1937

[…]

Nun bin ich, soviel ich weiß, noch immer Mitglied des Pen-Clubs, dem ich vor neun Jahren Beitrat. Doch im Exil – mittellos und ohne die Möglichkeit, die Reisespesen zu tragen – hatte ich keine Gelegenheit mehr, seinen Sitzungen beizuwohnen.

Ich hätte trotzdem, weil ich schon ganz außer Kontakt geraten bin, keiner der sich befehdenden Exilgruppen zugehörig, wohnhaft in einer Stadt, wo ich abseits und nicht bodenständig herumschriftstellere, gern diesen nächsten Kongreß genutzt, um wieder einige Beziehungen zu knüpfen, um mich in notwendige Erinnerung zu bringen.

Das Programm freilich zeigt mir, daß die Erörterungen über die „Possibilites et modes d’expression du collectif dans la litterature“ nur für Auserwählte bestimmt sind. Eine „tenue de soiree“ und „cravate blanche“ gehört nicht mehr zum Handwerkszeug eines exilierten Literaten.

Könnten Sie mir dennoch einen Rat geben, wie ich ohne allzu große Kosten zu einer Beratung über das mir am Herzen liegende „Schicksal der Poesie in der modernen Welt“ Zutritt fände?

[…]

In: Werner Berthold und Britta Eckert: Der deutsche PEN-Club im Exil 1933 – 1948, Katalog zur Ausstellung in der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main; Frankfurt am Main: Buchhändler-Vereinigung 1980 (= Sonderveröffentlichungen der Deutschen Bibliothek; Nr. 10)