Ein Brief von Henri Lichtenberger
In Nr. 31 des NTB besprach Walter Mehring das neueste Buch Henri Lichtenbergers, des bedeutenden Germanisten der Sorbonne, in dessen Schule eine ganze Generation von Franzosen über das klassische und moderne Deutschland unterrichtet wurde. Mehring hatte, wie den Lesern erinnerlich sein wird, die Arbeit betrübend einseitig gefunden. Jetzt ist ihm ein Brief des Gelehrten zugegangen, der veröffentlicht zu werden verdient.
Lieber Herr Mehring,
von einer Reise zurückgekehrt, finde ich auf meinem Arbeitstisch den Artikel, den Sie meinem Buche „La Nouvelle Allemagne” gewidmet haben. Er überrascht mich nicht. Während ich das Buch schrieb, hatte ich selbst das Empfinden, dass ich nicht genügend Platz jenen einräumte, die die Opposition gegen Hitlerdeutschland verkörpern. Um „gerecht“ zu sein (wie ich das Wort verstehe), hätte man tatsächlich zwei Bände schreiben müssen: einen über die Legende des Nationalsozialismus, so wie ich es unternommen habe, sie wiederzugeben und darzustellen, – den andern über das Deutschland der Emigration und über jenes Deutschland, das schweigt und wartet. Von diesen beiden Büchern habe ich nur das erste geschrieben, und zwar zunächst, weil mein Werk nicht einen gewissen Umfang überschreiten durfte, sodann aber, weil gerade Hitlerdeutschland bedeutend schwerer für uns Franzosen zu begreifen ist (ich trug Sorge, eine ganze Reihe
von Punkten aufzuzählen, in denen es mir unanwendbar – „inassimilable“ – für uns scheint). So habe ich mir den Anschein gegeben, den Leiden, den Gewissenskonflikten des anderen Deutschlands nicht genügend Rechnung getragen zu haben. Ich begreife, dass man mir das vorwirft. Und Sie haben tausend Mal recht, ein Buch wie: Das Deutsche Volk klagt an” als notwendige Ergänzung zu dem meinen zu bezeichnen.
Bleibt die Frage zu erörtern, ob das meine deswegen als nutzlos oder tendenziös zu gelten hat. Eine tragische Frage, gewiss, und schwer zu lösen! Ist das Hitlertum eine vorübergehende Krise der deutschen Seele, ohne Zukunft? (Und lohnt also aus diesem Grunde nicht der Versuch, es begreifen zu wollen, sondern ist in erster Linie von Bedeutung, es zu bekämpfen?) Oder ist das Hitlertum eine Enthüllung gewisser sehr charakteristischer Züge der deutschen Seele (in welchem Falle es verdiente, studiert und nicht nur widerlegt zu werden) ?
Ich bin pessimistisch genug, mindestens die Möglichkeit der zweiten These in Betracht zu ziehen und zu erweisen, dass, um Deutschland zu kennen, es nicht genügt, Lessing, Goethe und Nietzsche zu kennen, sondern dass es wesentlich ist, auch Wagner und Chamberlain, ja selbst Rosenberg, Schacht und Hitler nicht zu übergehen. …Es handelt sich da nicht um Sympathien, um Wahlverwandtschaften (Sie Wissen sehr gut, auf Welcher›Seite die meinen sind). Die Frage, um die es geht, ist, die Bedeutung eines Faktums abzuschätzen (möge dieses Ihnen nun behagen oder nicht behagen, das spielt keine Rolle).
Habe ich es nötig, Ihnen zu sagen, dass ich es nicht im geringsten bedauern würde, wenn die Ereignisse meinem Pessimismus Unrecht gäben, und wenn meine „objektive“ Studie in einigen Monaten oder einigen Jahren definitiv ungültig geworden wäre?
Mit allerherzlichstem Gedenken
Henri Lichtenberger.
22. Oktober 1936.
(Lichtenberger, Henri: Ein Brief, in: NTB H44/4.Jg. vom 31. 10. 1936; S. 1077.
Henri Lichtenberger bezieht sich auf Mehrings Rezension Die Objektivität (in NTB H. 31/4. Jg. vom 01. 08. 1936, S. 738-740))