Berlin 1920
Unheimlich wuchtet dieses steinerne Meer in die rote Zeit. Schwingend in Tönen, flutend in elektrischen Farben, berstend von Geräuschen, ah eine dämonische Kulisse, schräg gegen den fahlen Horizont gestellt, in dem ein blauer Mond besoffen taumelt. Harfend der Dichter, auf Stahlsaiten, aufsteigend, Brennendes in sich fressend, Geräusche verschluckend, fürwahr ein Nachtwandler, ein grimmassierender Liebhaber.
Berlin – O magisches Zauberbecken, aus dem Wälder auftauchen, Banken, Bahnhöfe. Paläste, Flüsse, Hochbahnen, Automobile, Luftschiffe, Cadeten, und Bankdirektoren, Proleten, Pfaffen, Spaziergänger, Schauspieler und lachende Mädclıen. O Buntheit des einzigen Augenaufschlags, der das Blut in einem Rhythmus rinnen läßt, in einem neuen frechen Walzer . . . hörst Du? Schieber, Blut, Strolche, schüttelnde Feldgraue, Hasardeure in allen Farben . . . O, schon steigt der Päan aus Schmutz und Rhythmus, schon steigt er in die Sterne, die großen, betrunkenen, streikfreien Sterne der Weltmetropole, der geeinigten Kommune Groß-Berlin!
Auf dem Bauschutt zerbrochener, zertrümmerter Luftschlösser verbeugt sich der junge Cutaway mit dem spitzen Kopf, der von innerem Aufruhr geschüttelt Coupletverse herausschmettert, wie ein Hahn trompetet, der Wortfetzen von sich schleudert wie ein fanatischer Schwindsüchtiger den letzten Lungenrest – meine Damen und Herren in diesem stilvoll gewobenen Rahmen erlaube ich mir den jungen Diclıter Walther Mehring zu präsentieren, der eine besondere Gattung des politischen Couplets neu belebt, gelvanisiert, schicklich appretiert. Diese Couplets fassen mit spitzen etwas verdorbenen Fingern den kleinen Schaumrest von dem Weltmeer ab, der Berlin sich benennt, pusten ihn auf, größer, magischer, verwester spiegelnd, ein Embryo, riesenhafter Ballon, eine Nachtvisioıı mit Schatten, Gespenstern, spiegelnden Erlebnissen – und davon lebt das nun, dieser junge Dichter. Eine chemische Reinigung seines Vorbestellungsbestandes würde ergeben, daß er Mietherr im Kaschemmenviertel ist – aber das lassen wir wohl bleiben, das wollen wir wohl nicht: wir wollen die Romantik der allerrealsten Ereignisse, wir wollen den Dreck und das Brecheisen, das Polizeipräsidium und – natürlich – das Gleisdreieck.
Parbleu, dieses Berlin ist eine ganz neue Erfindung, letzte Neuheit nach dem letzten Streik, vornehmster neuzeitlicher Dessin, in einer halbseidenen Schieberdestille verstohlen herumgereicht. Das ist unser Berlin, in dem wir den Bolschewismus bekämpfen, mit roten Fahnen immer an die Wand lang für die Weltrevolution demonstrieren, Kinos besuchen, das schlankste Füßchen und die dickste Taille prämiieren – o Du herrliche Stadt mit der Sicherheitspolizei, Nachtlokalaushebungen, Schönheitstänzen und es lebe das natura Ballett! Das Alles, meine Damen und Herren, finden Sie bei Waltlıer Mehring. Nur, verstehen wir uns recht, nicht den Worten und Begriffen nach – das bringt die erste beste Lokalzeitung besser: 0 nein, keineswegs, vielmehr als Vorstellung ungewissester und doch präzisester Art, als schaukelnder Klangfetzen, zerbrochener Rhythmus, eckiger Schrei, als nachgeschleudertes Wort, als Vokalkette, als Konsonantencascade – lesen Sie sich das laut vor, meine Herrschaften, es ist einfach der gute Ton, über das Berlin von 1910 unterrichtet zu sein.
Wirkliclı: mein ganzes literarisches Milieu stimmt mich zur Seelenmanicure: hüten Sie sich vor der Rückständigkeit. Dadaistische Ausstellungen besuchen, ein bischen in expressionistische Filme gehen, der Consum des Großen Schauspielhauses, die Lektüre der Roten Fahne – gewiß, das ist alles schon sehr schön, aber fördert wirklich nicht
llıren seelischen Stoffwechsel wie es die Hygiene verlangt. Tun Sie etwas für Ihr darbendes Gehirn. Füttern Sie es mit Melıring. Sie werden begeistert sein von einer neuartigen, entscheidenden Reinigung der Gehirnbahnen. Sie werden den Kurfürstendamm und die lnvalidenstraße, Altmoabit und Bahnhof Alexanderplatz mit neueroberten seelischen Kräften erleben, die Sie selbst überraschen. Was ist Kola-Dultz, was ist Yohimbim dagegen! Versuchen Sie es! Vollziehen Sie Ihre innere Revolution! Man weiß ja nicht, was mit Berlin passiert! Man muß fest auf seinen Beinen stehen, muß auf Alles gefaßt sein, was ein sozialistischer Magistrat in die Welt befördert, muß nicht erschreckt sein, wenn der Magistrat morgen mit schwarzweißroten Fähnchen durch die Friedrichstraße zieht. Verschaffen Sie sich unter allen Umständen einen archimedischen Punkt, einen topographisch sicheren Standort in der geistigen Siedlungsfläche Großberlins. Eine
ernste Lektüre der Mehringschen Couplets bewerte ich wie sieben halbtiefe Kniebeugen. Gehen Sie an die Arbeit.
(Richter, Ernst: Berlin 1920; in: Schall und Rauch, 1. Jg/Nr. 2 vom Oktober 1920; S. 1 f.
Diese Rezension ist einer der ersten Texte, der über ein Buch Walter Mehrings erschienen ist. )