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2012 Wissenschaft Zeitschriften

Ulrich Tietze würdigt Mehring im Deutschen Pfarrerblatt

Im „Deutschen Pfarrerblatt“ (Nr. 5, 2012) hat Ulrich Tietze einen längeren Text über „Kriegstheologie und ihre Satiriker“ veröffentlicht. In ihm gibt es auch eine Passage über Walte Mehring, die hier zitiert wird. Der gesamte Text findet sich hier…

3.3. »Seelenmesse für Agnostiker, Wortgläubige und unbekehrbare Freigeister« – Walter Mehring

Zweifellos war Walter Mehring einer der interessantesten und auch begabtesten der Satiriker in dieser Zeit; der Kabarett-Chronist Klaus Budzinski schreibt über ihn: »Mehrings Sprachgewalt und lyrische Potenz hob das Chanson im Kabarett auf ein Niveau, das vor ihm nur Frank Wedekind und nach ihm niemand mehr erreicht hat.«34 Mehring hat, vielleicht mehr als andere Autoren der »Neuen Sachlichkeit«, religiöse Formen und Überschriften benutzt: eines seiner Bücher (eine Zusammenstellung von 1966, die Formen stammen aus der Weimarer Zeit), noch heute erhältlich und in vielfacher Hinsicht unvermindert lesenswert, trägt den bezeichnenden Titel »Neues Ketzerbrevier«35 mit dem Untertitel »eine Seelenmesse für Agnostiker, Wortgläubige und unbekehrbare Freigeister« und beinhaltet tatsächlich eine Vielzahl von religiösen Anspielungen und – natürlich satirisch verfremdeten – Formen. Beispiele: »Litanei« mit den Versen »Kyrie eleison – / alle Stätten / die dich loben / die uns ketten / an das Droben / mit Gelübden / und Geboten / in den Krypten / der Zeloten / von der Qual / und allem Jammer / in Spital / und Folterkammer / Alle die dich loben, Gott, / blutverwoben und bigott, / Herr, befreie uns davon – / Kyrie eleison!«36 Wird hier auf das Auseinanderklaffen der Lehre Jesu und der kirchlichen Praxis angespielt, so lässt sich diese Kritik auch in anderen Versen Mehrings entdecken.

Verdienstvoll bleibt aus meiner Sicht bei diesem Schriftsteller insbesondere eines: er stellte einen schlüssigen Zusammenhang zwischen dem »Hexenhammer« und Hitlers »Mein Kampf« her. In der Bibliothek seines Vaters, genauer in der Abteilung »Giftschrank«, fand Mehring den »Hexenhammer«. Er las ihn »wollüstig angeekelt«, verspürte allerdings »eine unvergessliche Schockwirkung«37 und unterzog ihn später einer gründlichen Analyse, bei der er weitgehende Parallelen zum Hitler-Buch fand: »Den Hexenwahn hat der Rassemythos ersetzt«; der Jude sei »in seiner Gemeinheit so riesengroß, dass sich niemand zu wundern braucht, wenn in unserem Volke die Personifikation des Teufels als Sinnbild alles Bösen die leibliche Gestalt des Juden annimmt.«38 Mehring sah viel früher als viele andere, dass sowohl durch die Hexenjagden als auch durch die NS-Verbrechen »das Martern von Menschen in ein geregeltes System gebracht« wurde – und er sah vor allem: »… all diese Henkersknechte waren ja nicht verhungerter, rachesüchtiger Pöbel. Ehrsame Bürger waren sie; pflichttreue Schinder, gewissenhafte Akademiker der Bestialität.«

Im Grund stellt sich auch bei Mehring die Frage nach dem Verhältnis von Gehorsamsforderung durch Staat, Kirche, Militär – und dem Recht auf eine eigene Meinung. Dass Mehring Deutschland nach Hitlers Machtantritt unter Lebensgefahr verlassen musste, gehört, wie bei vielen der besten Schriftsteller damals, zu den tragischen Aspekten des Lebens dieses Autors. Er selbst hätte diese Zeit in Deutschland kaum überlebt. Seine Schriften bleiben aktueller, als er selbst es wohl für möglich gehalten hat.

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