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1918 Biografisches

Erwin Blumenfeld erinnert an eine Orgie bei George Grosz

Erwin Blumenfeld ist am 17. November 1918 aus dem Ersten Weltkrieg nach Berlin zurückgekehrt. Nach zwei Jahren in der Etappe hinter der Westfront machte er sich zügig auf den Weg, um Bekannte und Freunde aus dem Café Größenwahn zu finden. In seinem Erinnerungsband „Einbildungsroman“ schildert er die Ankunft in Berlin und die wenigen Tage, bis er nach Holland zu seiner Verlobten aufbrach. Die war mit Paul Citroen verwandt, dem Nachbarn, Kindheits- und Jungendfreund Mehrings:

„Zu Haus war niemand. Ich hatte keinen Schlüssel, saß im Schnee auf der Straße, bis der Portier mich, als es tagte, in unsere verlassene Wohnung ließ. Mama in einer Lungenheilanstalt bei Hannover, Annie als Polizeiassistentin in Hamburg. Um mich zu wärmen und gleichzeitig zu entlausen, verbrannte ich meine Uniform: Kaisers stinkenden Rock. Nichts zu fressen. Ich schlief erst mal mehrere Tage besinnungslos und erwachte fiebernd mit wolfsheulendem Husten. Als »Unerlaubt entfent vom Truppenteil« verweigerte man mir Lebensmittelkarten. Überall huschten Gerippe, die mit Karten am Verhungern waren. Ich ging auf Nahrungssuche und fand mit zwei silbernen Leuchtern eine Kartoffel. Mir fielen die legendären Hochzeitsweine meiner Eltern ein, die im Keller der Luitpoldstraße seit fünfundzwanzig Jahren hinter Schloß und Riegel darauf warteten, getrunken zu werden. Mit Hilfe von George Grosz schob ich an die sechzig Flaschen, in Säcken verborgen, auf einer Handkarre zu seinem Atelier. Da brieten wir meine Kartoffel, aßen dazu eine gelbe Wachskerze und probierten ein paar Pullen des edlen Nasses, wie im tiefen Frieden. Grosz pinselte ein Plakat: »Wohlgebaute junge Damen der Gesellschaft mit Filmtalenten werden zum Atelierfest bei Maler Grosz gebeten, acht Uhr abends, Abendtoilette! Olivaerplatz 4.« Mit diesem an einen Besenstiel genagelten Plakat promenierten wir als Sandwichmänner den Kurfürstendamm auf und ab. Zum Fest kamen elf Männer: Mynona, Grosz, Piscator, Huelsenbeck, Mehring, das Siebenmonatskind (der spätere Pipi-Dada), Benn, Gumpert, Yomar, Förste, Wieland und Muti Herzfelde (Monteur-Dada) und ich. Als mehr als fünfzig Damen auftauchten, mußten wir wegen
Überfüllung schließen. Der alte Mynona (schon über 40!) hatte angedeutet, daß in seiner Hosentasche ein halbes Pfund Cacao verborgen sei, und aller Damen Hände waren in seinen Hosentaschen. Ich beneidete diesen Roué! Um das Fest in Schwung zu bringen, schlugen wir vor, man solle sich entkleiden. Wir Männer zogen uns in die Küche zurück und beschlossen, unentkleidet zu bleiben. Als wir ins Studio zurückkamen, war die Damenwelt nackend und die Orgie begann. Alles besoff sich, die leeren Flaschen flogen durchs Glas
des Atelierfensters auf die Straße. Scherben, Schreie, Krach. Während alle jubelnd Takt schlugen, holte sich Grosz auf einer Chaiselongue in der Mitte des Studios bei Mascha Beethoven n Trippa. Mynona hat diesen historischen Abend in einem Roman, dessen Titel mir entfallen ist, verewigt. Zwei Tage danach erwachte ich erfroren in Groszens Badewanne, meinen blauen Anzug hatte man mir gestohlen.“

Zitiert aus: Erwin Blumenfeld: Einbildungsroman; Frankfurt/Main: Eichborn Verlag 1998, Die Andere Bibliothek, Bd.162, S. 248 f. 

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