Ein Zivildienstleistender versucht Dichter zu werden. Das ist der Stoff des Romans „Was dann nachher so schön fliegt“ von Hilmar Klute. Die Geschichte spielt in den 1980er-Jahren in Westdeutschland Volker Winterberg versucht sich buchstäblich einen Reim auf das Leben, das Alter, die Welt zu machen. Dabei steht ihm manchmal seine Bildung im Weg, manchmal eröffnet sie aber auch die Phantasie. Als er zu Beginn seiner Dienstzeit die Männer im Altenheim vorgestellt bekommt, beginnt die Phantasie zu fliegen…
„Ich hatte vor Kurzem Jürgen Serkes Buch »Die verbrannten Dichter« gelesen – großartige Porträts von Schriftstellern, die von den Nationalsozialisten verfolgt und vertrieben worden waren. Als ich Herrn Pachtzins gegenübersaß, musste ich an Serkes Kapitel über den alten Walter Mehring denken, wie der da in einem elenden Zürcher Altenheim auf seinem großen alten Koffer saß und hustete wie ein Drache, weil seine Lunge ganz kaputt war vom Rauchen und vom Seufzen. Allein dieses Foto von dem alten Mann in seiner schäbigen Jacke; er redete und redete von den verfluchten Nazis, die ihn um alles gebracht hatten, was seinem Leben einen Sinn gab, die Bücher, die Cabarets, das Berliner Leben, sein Werk, das in Trümmern lag; niemand wollte mehr etwas wissen von seinen zynischen, formstrengen Couplets, den feurigen Balladen über das exzentrische Leben derer, die zwischen sozialdemokratischem Spießertum und bürgerlichem Hass noch ein anderes Fass aufmachen wollten, nein, kein Fass: eine Flasche Champagner, aus der statt süßem Schaum ein fulminanter Feuerregen auf die Welt niederging. Ich hatte mir in einem Antiquariat seine Gedichte gekauft: Staatenlos im Nirgendwo und war sofort verloren an diese wütenden Elegien, diese zornigen Abschiedsarien. ››Vom Bahnhof angeschwemmt im Strom der Massen / Fiebernd von Schwindsucht deines letzten Gelds / Treibst du durch Reusen immer engrer Gassen / Die abzweigen / Zu den Absteigen zu den kleinen Hotels.« Musste man nicht so sein, als Dichter? Durch die Welt getrieben, von der Welt verachtet und am Ende doch mit einem Königreich ausgestattet, in welchem man seine Heimatlosigkeit in Gedichte ummünzen konnte?
Irgendwo hatte ich gelesen, dass Walter Mehring Anfang der fünfziger Jahre vor der Gruppe 47 seine Texte vortrug. Mit hoher Stimme, deklamatorisch und direkt ins Ohr des Publikums gesprochen, ganz nach der Manier der Kabarettisten der zwanziger Jahre. Der Kritiker Joachim Kaiser hat ihn damals in Grund und Boden analysiert – zu feuilletonistisch, zu sehr auf Wirkung bedacht sei alles, was Mehring schrieb. Für Mehring bedeutete das die letzte große Klatsche, die das Land ihm verpasst hatte. Er war fassungslos, dass ihm die Schnösel, die in Deutschland geblieben waren und denen seine Todfeinde Lesen und Schreiben beigebracht hatten – dass diese Karriere-Zyniker ihn jetzt noch einmal mit Spott und Hohn übergießen durften. Wie gerne wäre ich Zivi in diesem Zürcher Altenheim gewesen, wie gerne hätte ich dort ››die Männer gemacht«, und wie gerne wäre ich auch nach dem Dienst beim alten Mehring sitzen geblieben und hätte mit ihm überlegt, wo der verdammte Roman abgeblieben sein
konnte, den er auf der Flucht vor den Nazis in Frankreich verloren hatte. Wir hätten jeden Monat rekapituliert, jede Eventualität abgewogen und am Ende wäre ich in irgendein altes Pariser Hotel gefahren und hätte den kleinen staubigen Koffer in einer vergessenen Asservatenkammer gefunden. Die Sensation: Der Jahrhundert-Roman
von Walter Mehring, tausend Seiten dick, die Literaturgeschichte musste umgeschrieben werden – und ich hätte zufällig Zeit dafür gehabt.
Aber ich War nicht in Zürich, ich war nicht in Paris. Ich war hier im Altenheim am Glockenberg und ließ mir von der großschnäuzigen Pflegediensthelferin Maria erklären, wie man die Betten macht.“
„Hilmar Klute. Was dann nachher so schön fliegt; Berlin: Galiani Verlag 2018; S. 81 f.