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1998 Wissenschaft

Bettina Widner untersucht in ihrer Dissertation „Müller“

„Walter Mehring ist einer der sprachmächtigen Lyriker, Satiriker und Poeten der Weimarer Republik. Kurt Tucholsky beschreibt die Denkart Mehrings:

Wenn wirklich Philosophie, Ablehnung aller Metaphysik,
schärfste und rüdeste Weltbejahung einen Straßensänger
gefunden haben, der das alles in den Fingerspitzen hat, […]
wenn die neue Zeit einen neuen Dichter hervorgebracht hat:
hier ist er.

Das Werk Mehrings genießt während der Zwanzigerjahre Ansehen, 1933 folgt der Sturz in die Bedeutungslosigkeit. Der von Mehring lange prophezeite Siegeszug des NS und das Leben im Exil zerbrechen ihn192. Nach dem Krieg fasst er in Deutschland nicht mehr Fuß. Zu behaupten, Mehring habe schreibend „nicht die Wirklichkeit im Kopf, sondern die Wahrheit, seine Wahrheit, die Wahrheit des Dichters“, trifft zwar die ihm eigene Fabulierlust, ist aber vereinfachend. In „Opposition zu allen bestehenden Produktions- und Lebensformen“ trotzt Mehring zeitlebens gegen Monarchie und Militarismus, Justiz,
Kirche. Nach Meinung Frithjof Trapps beschreiben Mehrings Texte ein

„Höllensystem“, das Bezug nimmt auf das, was anderen „heilige Werte“ sind – Werte, die dem Satiriker selber, wie er sagt, „zuwider“ sind. Man kann auch sagen: Mehrings Welt, die er in unzähligen Texten nachzeichnet, ist nichts anderes als eine „Topographie der Hölle“, ein Bild der Gegenwart – und der Geschichte – im Spiegel endlos sich variierender Höllenvorstellungen. Mehring selber ist Insasse der von ihm beschriebenen „Hölle“: verdammt, schon zu Lebzeiten in der „Hölle“ zu leben und sie unter ständigem Zwang zu beschreiben.

Diese Charakterisierung scheint mir unter zwei Aspekten treffend zu sein. Die Empörung des Satirikers Mehring entzündet sich an einer ungenügenden Realität, sie schürt einen beinah ,heiligen‘ Hass, der während der Weimarer Jahre zu einer Existenzform gerinnt. Hier keimt der verbitterte Enthusiasmus späterer Jahre. Mehrings Texte betreiben Bilderstürmerei, doch zehren sie auch von den gestürzten Ikonen – der „Häretiker“ Mehring schöpft aus der Gewalt und der Macht herrschender Lehre: „Jeder Staat ist eine legalisierte Interessengemeinheit, die sich gegen das Individuum verschworen hat.“ <SN: 220> Der Radikaldemokrat Mehring wird nicht müde, den bürgerlichindividuellen Anspruch auf ein angemessenes Leben in Freiheit zu bekräftigen. Oder, um das Diktum Karl Kraus’ abzuwandeln, zu Hitler ist Mehring meistens etwas eingefallen.

1924 greift Walter Mehring über profan weltliche Bilder hinaus und lotet die „Topographie der Hölle“ (Trapp) aus. Daß solche Transzendenz wenig geeignet scheint im Kampf gegen die Nazis, wird Mehring spätestens im Exil bewusst. Der 1934 erschienene Gedichtband Und Euch zum Trotz wünscht sich die Aggressivität eines radikal diesseitig denkenden Satirikers zurück:

Daß diese Zeit uns wieder singen lehre
Die guten Lieder eines bösen Spotts
– Selbst wenn uns Herz und Sinn danach nicht wäre –
Nur Euch zum Trotz!
(Nur Euch zum Trotz …!) <SN: 15>

Der Roman Müller: Chronik einer deutschen Sippe (1935) mobilisiert noch einmal das hergebrachte Kompendium Mehringscher Satire und attackiert den „ewigen Spießer“. In dessen Spielarten „von Rechts bis Links“ <VB: 23>, erkennt Mehring seinen „wichtigsten Feind“. Der Dadaist und Anarchist Mehring erschafft in der Figur des Spießers und Untertanen ein negatives Abbild seiner selbst. Ausgangspunkt und Projektionsfläche seines satirischen Tadels sind nicht Machthaber – die in den Augen Mehrings unbelehrbar sind –, es sind die kleinen Leute. Mehring hält das épater le bourgeois für eine Verteidigung aufklärerischer Bürgerlichkeit am Leben. Unter dem Titel: „Vernunft: Knockout!“ markiert Mehring 1929 die Grenzen literarischen Protests: „Eins in die Fresse! ist ein Argument, / das ein Jahrtausend Weisheit überrennt“ <CL: 323>. Die Ratio, so Mehring, ist der Gewalt schutzlos preisgegeben und muß dem braunen Terror weichen. Mehring nimmt den Geistesschaffenden jede Illusion gegenüber dem nahen Ende der Republik – und der eigenen Rolle im Geschehen:

Nach dem Rezept von Euren Denkernächten / streng theoretisch
hat man Blut verspritzt! Ja glaubt Ihr denn, daß man
ein Leben schone, / Weil einer ein Atom zerspalten hat? /
Man nützt es auch! Doch glaubt: es geht auch ohne, / Und
ohne Denken wär die Rechnung glatt. <CL: 323>

Die Intellektuellen jener Jahre tragen, so Mehring, an einer doppelten Bürde: Sie sollen sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stellen und gleichzeitig der Erkenntnis beugen, dass sie der Mahlstrom der Realpolitik mundtot macht. Im Licht einer beispiellos rohen Zukunft wirkt die Vergangenheit kostbar, als ein Jahrtausend „Weisheit“, das es, als vergangenes, zu verteidigen gilt. Das Aufkommen und die Existenz der Nazibewegung als „Nichtdenken“, als „Irratio“ abzutun, hat Folgen: Daß Mehring die Vergangenheit adoriert, ist für einen inkonzilianten Satiriker ein denkbar ausgefallenes Geschäft. Die hergebrachte Geist-Macht-Antinomie greift nicht mehr.

Die Faktizität des Jahres 1933 setzt einen weiteren Akzent:

Diejenigen Autoren, die ihrer Zeit einen Spiegel vorgehalten hatten, damit diese sich in dem geschärften Abbild, das der Spiegel wiedergab, besser erkennen konnten – sie mußten einsehen, daß das satirische Zerrbild die Welt in Wahrheit geschönt hatte. Was vor 1933 Übertreibung gewesen zu sein schien, erwies sich nach 1933 als Untertreibung. <Trapp, S. 19>

Mit dem Müller–Roman betätigt sich Mehring als Chronist und schreibt eine zweitausendjährige Vergangenheit unter der Maßgabe der Nazigegenwart um. Der Satiriker erneuert damit seine Aufgabe zu übertreiben – indem er untertreibt. Die deutsche Geschichte wird dargestellt als eine unübersehbar lange Abfolge von Zufall und Unglück, die Diktatur scheint jetzt nur ein episodischer Nullpunkt historischer Entwicklungen zu sein.

Auch der Beitritt zum „Bund Freie Presse und Literatur“ im Jahr 1937 öffnet dem polarisierenden Mehring keine Tore. Der Bund tritt gegen die herrschenden Kräfte des NS-Exils an, vor allem den kommunistisch dominierten „Schutzverband Deutscher Schriftsteller“.

Das Selbstwertgefühl Mehrings versiegt mit den Jahren im Exil. So soll die Empfängerin der 1941 beendeten Briefe aus der Mitternacht mehr als das Verlangen nach ihrer Nähe stillen; die Projektion ihres Gegenübers stählt die auktoriale Existenz und beglaubigt das im Umhergetriebensein gefährdete Ich des Dichters. Der Eros soll hier Wunderheiler
sein vom „Herzasthma des Exils“ (Thomas Mann). Walter Mehring ruft sich eigene Versäumnisse in Erinnerung. Gesellschaftliche Visionen hätten vor allem dem Hochgefühl des Weltverbesserers selbst gegolten:

Zur Freiheit! Edel war der Rausch … / Was aber gaben wir in
Tausch? / Zu Menschenrechten! Selbst: Zu Gott! / Das letzte
Wort sprach das Schafott! / So haben wir mit Feur und
Schwert / … niemals geliebt, nur … stets bekehrt – […] <KB: 154>

Bedauernd konstatiert Mehrung, hinter der Fahne des Fortschritts sei so oft die Inquisition marschiert. Mehring betrauert auch das versunkene „Ithaka“ <BA: 180>: Der Tod der Boheme-Freunde löscht die geistige Heimat Mehrings aus.

Elende Jahre in den Vereinigten Staaten verstören Mehring. 1951 legt er noch einmal ein Buch, Die verlorene Bibliothek: Autobiographie einer Kultur, vor. Dass er die väterliche Buchsammlung zurücklassen musste, machte den Flüchtling wehrlos:

Ich ließ den Schutzwall hinter mir, den einst mein Vater mir errichtet hatte – aus Tausenden von Bänden –, jeder ein Anathema seiner weißen Aufklärungsmagie, kraft der er, der fortschrittsgläubige Atheist, sich gegen die Rückfälle ins Werwolftum gefeit geglaubt hatte. <VL: 19>

Die historische Faktizität der deutschen Diktatur steckt die „Grenzen der Aufklärung“ (Detlev Claussen) ab, läßt den Aufklärer im Nachhinein erscheinen als ein Phantast im Harnisch von Büchern, abgeschirmt von gesellschaftlicher Realität. Sich vor diesem Hintergrund des geistigen Erbes nicht mehr versichern zu können heißt für Mehring, ganz und gar entwurzelt zu sein.

Mehring verstummt in den Jahren nach dem Krieg. Wie die anderen untersuchten Satiriker findet er sich in Deutschland nicht mehr zurecht. Er ist vergessen. 1978, drei Jahre vor seinem Tod, beginnt der Claassen Verlag die Edition der Werke Walter Mehrings.“

(Bettina Widner: Die Stunde des Untertanen – Ein Untersuchung zu satirischen Romanen des NS-Exils am Beispiel von Irmgard Keun, Walter Mehring und Klaus Mann; Berlin: FU-Dissertationen 2001; Anmerkungen und Nachweise finden sich in den PDF-Dokumenten, die auf dem Server der Freien Universität liegen. Der Link zu dieser PassageDie vollständige Dissertation aus dem Jahr 2001 auf dem Server der Freien Universität Berlin)

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Bettina Widners Dissertation untersuchte Mehrings „Müller“

1998 hat Bettina Widner ihre Dissertation „Die Stunde des Untertanen – Eine Untersuchung zu satirischen Romanen des NS-Exils am Beispiel von Irmgard Keun, Walter Mehring und Klaus Mann“ an der Freien Universität Berlin vorgelegt. Sie selbst fasst die Arbeit folgendermaßen zusammen:

„Die Dissertation behandelt selten rezipierte, in satirischer Schreibweise verfasste Romane aus dem NS-Exil der dreißiger Jahre. Es sind Romane, die nach den Voraussetzungen der Nazi-Herrschaft suchen. Sie weisen einer Gesinnungslosigkeit, die selbstverschuldeter Schwäche entspringt, ein hohes Maß an historischer Verantwortung zu. Die Exilromane stehen in der Aufklärungstradition deutscher Kleinbürgersatire seit Georg Christoph Lichtenberg und Heinrich Heine. Begriff und Bild des „Untertanen“, wie ihn Heinrich Manns Roman skizziert, belehnen alle untersuchten Exilsatiren.

Der Figur des Untertanen, des potenziell faschistischen, für antidemokratische Ideologie empfänglichen Kleinbürgers, werden schöpferische Charaktergestalten gegenübergestellt, Außenseiter, Schelme. In diesen Norm setzenden Figuren verkrusten sich bürgerliche Idealvorstellungen. Das kleinbürgerliche Denken des Untertanen ist als Schwundstufe bürgerlicher Existenz zu begreifen, die Nonkonformisten, indem sie bürgerliche Tugenden im Extrem ausleben, als die Gesinnungslosigkeit herausforderndes Gegenstück.

Einen offen der Ratio im emphatischen Sinne abschwörenden Gegner wie den Faschismus zu verlachen scheint auf den ersten Blick töricht. Doch ermöglicht das Lachen, unter Aufhebung reflexiv logischen Verhaltens, überhaupt auf die Realität gewalttätiger Willkür zu reagieren und den Widersinn, das Factum brutum NS, zunächst einmal als gegeben
wahrzunehmen – jenseits eines bloßen Verstummens.

In allen von mir untersuchten Werkgeschichten wirkt das Exil politisch radikalisierend. Am Ende eines solchen auktorialen Bewußtwerdungsprozesses steht nicht, wie zuweilen behauptet wurde, automatisch der Volksfrontgedanke. Der satirische Gestus ist eher einer der individualistischen Dogmenfeindlichkeit, gespeist aus Skepsis und Pessimismus. Doch wenn das provisorische Ich der Kritik in der Satire noch einmal einen Standort der  Perspektive findet, dann nur auf Kosten der Fortschrittsidee selbst. Die Romane legen offen, was der Nationalsozialismus der Literatur abfordert – die Aufwärtsbewegung der Kultur, des Geistes, der Zivilisation zu leugnen.

Die satirischen Exilromane sind als das demokratische Gegenstück zum sozialistischen  Widerstandsroman zu begreifen. In seiner jeweiligen Verarbeitung offenbart das Motiv „Kleinbürgerkritik“ den Dissens des Satirikers zur KP-Strategie.“

Hier ist der Link zur Zusammenfassung…