Sechs Jahre nach Kriegsende erschien in den USA Walter Mehrings »The Lost Library«. Ein Kapitel darin war dem »Liebeskonzil« und seinem Verfasser gewidmet. Neben einigen lesenswerten Betrachtungen zur »Himmels-Tragödie« wurde Oskar Panizza durch Mehrings 1952 auch in Deutschland erschienene »Verlorene Bibliothek« endgültig zu einer legendären Gestalt erhoben. Wie bereits 1927 der »Völkische Beobachter« ließ Walter Mehring Panizza direkt nach dessen Prozeß in die Schweiz fliehen. Er ergänzte Panizzas Urteil um »Verbreitung unzüchtiger Schriften« und verschärfte dessen Strafe auf »Zuchthaus«. (46) Um den »Fall Panizza« skandalträchtig in die deutschen Nachkriegsjahre zu retten, ließ Mehring auch den von Hanns Heinz Ewers überarbeiteten Erzählungsband »Visionen der Dämmerung« nachträglich konfiszieren. Postum machte er Oskar Panizza mit Heinrich Lautensack bekannt und erschuf Panizza unter Berufung auf dessen Vilshofener »Caféhauskollegen« und Frank Wedekind einen »Jesuitenonkel«. Als »Sadistisch-Hoffmannischer Horrornovellist« und als Verfasser des »Liebeskonzils« konnte Panizza der Sympathie Walter Mehrings gewiß sein. Bis heute gerne zitiert blieb die »story« von Mehrings gescheitertem Besuch in der Bayreuther Irrenanstalt«: »(Niemand durfte ihn [Panizza] besuchen; ich habe es vergeblich auch versucht …)« Angesichts der Vorliebe des alternden Mehring für Anekdoten und phantasievolle Ausschmückungen dürfte die Geschichte vom gescheiterten Besuch in Bayreuth ebenso frei erfunden sein wie der von Mehring genannte Essay Panizzas »Transvestitentum und Effeminismus im Messiaskult«.
Aufgrund der Tatsache, daß in Mehrings ››Verlorener Bibliothek« Titel Panizzas umformuliert bzw. ergänzt wiedergegeben werden und selbst dessen Todesjahr falsch angegeben ist, sollte diese »Quelle« künftig nicht mehr kritiklos zitiert werden. Weniger die Person und das Werk als »Der Fall Panizza« interessierten Walter Mehring angesichts einer sich Anfang der fünfziger Jahre neuerlich abzeichnenden restriktiven deutschen Kulturpolitik. Mit Mehrings Kapitel aus der »Autobiographie einer Kultur«, so der Untertitel seines Buches »Die verlorene Bibliothek«, überdauerte die Legende vom syphilisinfizierten Dichter, der als ehemaliger Psychiater schizophren in einer »Irrenanstalt« endete (48), den zweiten Weltkrieg.
Michael Bauer: Oskar Panizza – Ein literarisches Porträt; München: Hanser Verlag 1984; S. 24 ff.