(Erinnerungsblatteiner Lesung von Christine Becker und Jörg Petzel beim Berliner bibliophilen Abend am 14. April 2003 in der Buchdruckerei Lutz Nessing in Berlin-Adlershof. Der Abend stellte moderne Großstadtlyrik in den Mittelpunkt. „Wenn wir Stadtbahn fahren“ steht dafür exemplarisch)
Kategorie: 2008
Around 1905, Walter Mehring and Paul Citroen met on Derfflinger Strasse, on the “asphalt of which we were raised together“ (Walter Mehring: Citroen Dada; in: Die Weltwoche 1980). In an early letter to Paul Citroen, Mehring drafted the plan for a vaudeville show in which Blumenfeld was to be given the tailor—made role of an improviser. His friendship with „Wee-wee-Dada,” as Blumenfeld called Mehring, was more of a personal, than of an artistic nature. Until the fall of 1916, the three friends Erwin, Paul, and Walter often sat together in the evenings in the Café des Westens. When Blumenfeld returned from the war in November 1918, he stayed with his poet friend.“ (Erwin Blumenfeld; A.O.)
In February 1921, on the occasion of Blumenfeld’s honeymoon in Berlin, the friends came together once more as authors of the work Cafe’ Berlin. The etching renders the dense atmosphere of a literary cafe in Berlin: the guests are smoking, drinking, and polemicizing. Citroen was the only one to command the technique of etching; overall, however, his hand is only recognizable in the drawing of the bride and groom. The various signatures under the image do not coincide with the depicted figures and suggest that the image was made in commemoration of the evening, maybe even with the idea of it hanging on the wall of Cabaret Grossenwahn.“
Like so many artists of his generation, Mehring aspired to move to Paris: “I must say in advance that throughout four years of war. . . I had planned my ascent of Montparnasse and sworn to myself that I would do it as soon as the Hohenzollern monarchy was overthrown“ (Walter Mehring: Verrufene Malerei). In 1922 he implemented his plan and arranged to meet Tristan Tzara in Paris. At the end of the 1920s, Mehring visited the Blumenfelds in Zandvoort, as recorded in Blumenfeld’s contact prints (Fotografie; A.O.).
Not only did Erwin Blumenfeld love to read and write, he also ardently enjoyed reading out loud. In 1913, he founded a clique together with Citroen and Mehring. The group first comprised boys only; the core members consisted of Rudolf (Rudi) Arnheim, Walter Seliger, Martin Wasserzug, Ernst Kirschbaum, and Walter Joseph; all were enthusiasts of literature, theater, and the visual arts (Fotografien; A.O.). Among the girls later also tolerated in the clique, we find Lotte Herzfeld, to whom Blumenfeld devoted short stories,
poems, and letters. It was Blumenfeld who organized the meetings that took place at everyone’s home in turn. On these occasions, he would either read from his newest literary discoveries or from his own repertoire. In this context, however, he emphasized that he was unable to read out Schiller or Goethe, since he could only recite what he lived.
Walter Mehring was the all-important link between Herwarth Walden’s ”Sturm community” and Berlin Dada; he was also enthralled by the work of George Grosz. Mehring found mention in almost every letter by Erwin Blumenfeld to George Grosz and vice versa. But Blumenfeld was sometimes quite depreciative of his friend, who spent all his life as a bohemian poet par excellence and was maybe not cosmopolitan enough for Erwin’s taste: „Everything here stays Wee-wee Holland, as if Mehring had conceived
it.” (Erwin Blumenfeld 1930; A.O.) And in their correspondence of the 1930s, when commenting on Mehring’s hard circumstances, the tone is more mocking than worried.
Blumenfeld met many of his friends and good acquaintances in the Cafe des Westens in Berlin, called “Café Grossenwahn” (Café Megalomania) by the regulars. It is there, for instance, that he got to know Salomo Friedlaender-Mynona in 1913. He considered this philosopher and writer, born in 1871, as his spiritual father: „It was from his lips that I first heard the magic words ‘psychoanalysis’ and ‘relativity’ and the name of Montaigne. He showed me the emergency exit out of my parent’s home through the ‘Café Megalomania’ (Café des Westens)“ (Erwin Blumenfeld 1999; A.O.) Friedlaender-Mynona’s grotesque Rosa, die schöne Schutzmannsfrau was a very special book for Blumenfeld. He read it out to his clique and wrote one of his own poems on the front page of his personal copy.
(Helen Adkins: Erwin Blumenfeld – I was nothing but a Berliner. Dada Montages 1916 – 1933; Ostfildern: Hatje Cantz 2008; S. 33 ff.)
Tom Reiss hat 2006 eine wunderbare Biografie über Essad Bey veröffentlicht. „Der Orientalist – Auf den Spuren von Essad Bey“ ist ein Buch voller Überraschungen und Verblüffungen, wie sie wahrscheinlich nur ein Leben im 20. Jahrhundert hervorrufen kann. Essad Bey war auch mit Walter Mehring gut bekannt, ja vielleicht sogar befreundet. Tom Reiss beschreibt in dem zitierten Stück unten das Leben in den Berliner Caféhauszirkeln:
„In diese verqualmten Räume, in denen verrückte Gedanken erblühten und man sich noch verrückter gebärdete, passte ein turbantragender aserbaidschanischer Literato mit Dolch namens Essad Bey gut hinein, obwohl den jeder irgendwie auch als Lev Nussimbaum kannte. Diese Welt der Kaffeehausreisenden war die ideale Bühne für Lev, auf der er seinen Auftritt als Orientale perfektionieren konnte, wobei aber dieser Auftritt niemandem etwas nützte außer ihm selber. Denn genau das war das Charakteristikum des Kaffeehauslebens: die Auftritte richteten sich im Wesentlichen immer nur an das eigene, verletzliche Ego. Hilfreich war dabei auch, dass hier niemand nach Geld oder Universitätsdiplomen fragte.
Der zehn Jahre ältere Walter Mehring war damals schon ein bekannter Mann, und wahrscheinlich hat Lev durch ihn den Zugang zur Kaffeehausszene gefunden. Aber auch Lev wirkte anregend auf seinen häufig depressiven Freund. Mehring war der wichtigste Verfasser der Couplets und frechen Sprüche jenes politischen Kabaretts gewesen, das Joel Grey später versuchte, in seinem Broadway-Musical und in dem Film Cabaret wieder aufleben zu lassen (die Darstellung im Film war allerdings ein Anachronismus, denn dieses bissig satirische Kabarett war schon Ende der zwanziger Jahre praktisch tot, als der Nationalsozialismus sich erst in den Anfängen befand). Seinen Höhepunkt hatte das politische Theater, so unwahrscheinlich es auch klingen mag, wohl im Berlin der Kaiserzeit erlebt; die Zensur machte die Witze lustiger. Mehring war der Star gewesen, als das Kabarett seine unbestrittene Blütezeit feierte, d.h. in den Jahren der Revolution von 1919 bis zum Ende des Inflationsjahres 1923. Danach glitten die Berliner Kabarettnummern auf ganz eigene Weise ins Varietehafte und Burleske ab, und das Revuetheater, in dem Mädchen als Soldaten, Ärzte, Sträflinge oder Eskimos auf der Bühne tanzten, trat an die Stelle der anspruchsvolleren, zum Nachdenken anregenden Unterhaltung der Jahre zuvor. Die Hauptkonkurrenz für das Revuetheater mit seinen Tanzgirltruppen stellte nicht das Kabarett dar, sondern eine Unterhaltungsform auf noch niedrigerer Stufe: Revuen, in denen die Tänzerinnen sich nackt präsentierten. 1927 warben in Levs Berlin bunte Neonreklamen ganz unverblümt: »Nackte Tatsachen, die Welt unverschleiert« oder »Potzblitz! 1ooo nackte Frauen!« Levs Schriftstellerkollegen Walter Benjamin und Siegfried Kracauer verbrachten viele vergnügliche Stunden damit, die verschiedenen Aspekte der sich in solchen menschlichen Darbietungen offenbarenden mechanischen Reproduzierbarkeit zu analysieren – kritisch, wie sich versteht.
Mitte der zwanziger Jahre war aus dem echten Berliner Kabarett eine durch und durch politische Veranstaltung geworden. Auf der einen Seite gab es die Darbietungen kommunistischer Agitpropgruppen, auf der anderen die pronationalsozialistischer, völkischer Unterhaltungskünstler. Die ursprünglichen Dadaisten wie Walter Mehring hatten genug davon, sie hatten die Schnauze voll. Vielleicht war es ja Lev, der Mehring vorschlug, Berlin zu verlassen und eine Reise durch Algerien anzutreten. Ganz gleich, wie er auf den Gedanken kam, die Reise wirkte sich belebend aus und führte zu Mehrings erstem Prosawerk: Algier oder die 13 Oasenwunder. Das Buch Exodus habe ihn auf seinem Weg in die Pyramidenstadt Ghardaja in der Sahara, im algerischen M’zab begleitet, wo die Abaditen mit ihren islamischen golus leben, erinnerte sich Mehring. Bei ihnen hätten die letzten authentischen Israeliten gewohnt, die sich selber Ishuruni, die Aufrechten, nannten. (Auffallend ist, dass der Kaffeehausorientalist, wohin er seine Schritte auch lenkte, immer wieder auf eigenartige Juden stieß. Ganz besonders dann, wenn er selber ein Jude war, und so wie Lev oder auch Walter Mehring, versuchte, seine Identität zu verbergen.)
Lev schrieb eine begeisterte Kritik über das Buch seines Freundes in der Literarischen Welt. Darin sagte er, die meisten Reisebeschreibungen seien für Europäer so enttäuschend, weil sie dem Orient seine Seele nähmen, in diesem Buch jedoch, dessen Verfasser es besser wusste, obwohl er sich bis zu dem Zeitpunkt nie weiter nach Osten vorgewagt hatte als bis nach Budapest, könne der Leser den wahren Orient entdecken. Der Grund dafür sei, dass Walter Mehring überall Poesie sah und hörte, und »dass es keinen Orient mehr (gibt), oder sehr wenig von ihm übrig geblieben (ist) oder er sich verborgen (hat) und nur den Augen des Dichters sichtbar (wird) … Wer nie im Orient war, wer von dem Lande des Halbmondes nur träumen kann, der lese keine Reisebeschreibungen, der lese nicht die Mitteilungen der zahlreichen königlichen und nichtköniglichen Akademien der Wissenschaften, der lese die 13 Oasemvunder von Walter Mehring …«
Aber man las nicht Mehring, man las Essad Bey.
Bis Lev im Alter von achtundzwanzig Jahren die Literarische Welt verließ, hatte er 144 Artikel für die Zeitung geschrieben, mehr sogar als Walter Benjamin, der ebenfalls zu Willy Haas’ Lieblingen zählte. Außerdem hatte er noch ein gutes Dutzend sehr erfolgreicher Bücher publiziert. Sein Freund und späterer Mitarbeiter George Sylvester Viereck schrieb einmal, Essad Bey könne ein Zimmer betreten und käme schon nach wenigen Stunden mit einem fast fertigen neuen Manuskript wieder heraus. Das mag zwar etwas übertrieben sein, aber Lev produzierte so viel und so flüssig, dass es schon beinahe nicht mehr anständig war. 1934 schrieb Werner Schendell, sein Verleger und Agent, ihm einem Brief, in dem er ihn um etwas bat, was ein Autor sicherlich nicht oft zu hören bekommt, und schon gar nicht, wenn es sich bei dem Autor um den Verfasser von äußerst erfolgreichen Büchern handelt, der stolz darauf sein durfte, dass siebzehn seiner Werke auch im Ausland verlegt wurden. Schendell bat seinen Autor, »nicht mehr so viel Bücher herauszubringen … Man darf nicht als Vielschreiber gelten … besser immer mal wieder ein Jahr dazwischen eine Pause machen«.
(…)
Haas und Mehring sowie Levs andere Kollegen wussten wahrscheinlich über seine wahre Herkunft Bescheid, d.h. bis 1930 wussten sie es ganz sicher, doch in der Öffentlichkeit sprachen sie nie darüber. Als sein erstes »autobiographisches« Werk, Öl und Blut im Orient, erschien, begann der nicht genannte Verfasser seine Besprechung des Buchs in der Literarischen Welt folgendermaßen: »Man kennt Essad Bey aus der >L.W.<, aber man kannte ihn bis heute noch nicht, man dachte bisher bei seinem Namen an ein Pseudonym, und steht staunend vor diesen seltsamen Lebensaufzeichnungen eines in Baku in Aserbeidjan geborenen Asiaten, Sohn eines mohammedanischen Feudalen und einer russischen, revolutionären Intellektuellen.« Ob nun Haas nur so tat, als ob der Herausgeber tatsächlich im Unklaren war über die Herkunft seines aus Russland geflohenen Kollegen im kaukasischen Kostüm, lässt sich unmöglich sagen. Die meiste Zeit seines Lebens redete Lev mit seinen Autorenkollegen stets in einem witzelnden Ton über seine »Verwandlung« von Lev in Essad, bis ihn das Schicksal schließlich an einen Ort verschlug, an dem er über solche Dinge nicht mehr scherzen konnte. “
Tom Reiss: Der Orientalist – Auf den Spuren von Essad Bey; Berlin: Osburg Verlag 2008, S. 256 ff.
Was Thomas Friz und Pankraz hier machen, ist zumindest eine gute Tat. Denn „Briefe aus der Mittenacht“ zu vertonen ist gewagt. Die Art der Vertonung ist gekonnt. Aber leider kann Thomas Friz leider nicht singen. Das macht aus der guten, verdienstvollen Tat eine leider nicht ganz so gute musikalische Nummer. Der Text überzeugt. Die Musik betont diesen an den richtigen Stellen. Aber die Stimme schafft es nicht. Wenn zum Beispiel Tim Fischer die Noten von Thomas Frit nähme und Mehring seine Stimme gäbe, dann wäre das wahrscheinlich wunderbar. Aber so stört der Wunsch, sich selbst hören zu wollen, ungemein.
Auf der CD von Thomas Friz (früher bei Zupfgeigenhansel) und der Dresdner Folk-Band Pankraz sind auch der elfte Brief aus der Mitternacht und der Emigrantenchoral zu hören. Auch diese beiden Stücke sind richtig vertont, aber miserabel gesungen.
Manuel Göttsching hat Walter Mehrings Ode an Berlin vertont. Ben Becker spricht den Text dazu.