(Erinnerungsblatteiner Lesung von Christine Becker und Jörg Petzel beim Berliner bibliophilen Abend am 14. April 2003 in der Buchdruckerei Lutz Nessing in Berlin-Adlershof. Der Abend stellte moderne Großstadtlyrik in den Mittelpunkt. „Wenn wir Stadtbahn fahren“ steht dafür exemplarisch)
Schlagwort: 2003
Marcellus Schiffer (1892 – 1932), einer der großen Chansontexter der 20er-Jahre, arbeitete bei einigen Kabarettprogrammen mit Walter Mehring zusammen. Am 20. Oktober 1922 hatte an der „Wilden Bühne“ von Trude Hesterberg (1892 – 1967) ein Programm Premiere, zu dem beide Texte beisteuerten. Der folgende Text ist ein Auszug aus Schiffers Tagebuch vom 20. Oktober 1922. Es enthält auch eine unverteilhafte Beschreibung Mehrings, die auch von Neid geprägt ist. Noch wenige Monate vorher, versuchte er sich mit Mehring gut zu stellen, weil er ihn als Fürsprecher benötigte. Die „Wilde Bühne“ hatte Trude Hesterberg 1921 im Souterrain des Theaters des Westens eröffnet. Am 24. Oktober 2011 entüllte Berlins Kulturstaatssekretär André Schmitz eine Gedenktafel an das Kabarett am Theater des Westens. In ihr werden viele Akteure, Texte und Autoren aufgeführt. Der Name des Berliners Walter Mehring fehlt in der Pressemitteilung der Staatskanzlei von Klaus Wowereit.
„Freitag, den 20. Oktober Kotzmiserabel und hoffnungslos. Alles scheint schiefzugehen wie gewöhnlich. Viel Ärger mit dem Engagement beim Rochus-Gliese-Film, das immer noch nicht zustande gekommen. Immer nur Versprechungen und sichere Zusagen, aber kein Vertrag. Wenn das wieder fehlschlägt, glaube ich an gar nichts mehr. Viele Proben in der Wilden Bühne, auch viel Ärger, weil unmögliche Menschen mit nicht gerade meinem Geschmack. Kein Wunder danach der Erfolg des Blauen Vogels. Von mir vier Couplets. Fliegentüten. Niveau für Dora Paulsen, eine eingebildete, mäßig begabte Anfängerin,
der es sich nicht einmal lohnt meine Meinung zu sagen, weil sie zu blöde ist. Charlot von Kate Kühl fabelhaft vorgetragen, und Die bessere Sache von Bendow unübertrefflich. – Walter Mehrings Sachen sehr gut – bis auf Gerrons, aber nach meinem Empfinden nicht so für Publikum geeignet. Man fragt: »Na und?« Bis auf Die kleine Stadt, die fabelhaft gemacht ist bis auf den letzten Vers, der sehr überflüssig und sentimental: alles schon dagewesen. Mehring selbst wie eine kleine Ratte oder so was, mißgünstig, ehrgeizig, unsympathisch, verbissen, verbittert, unzufrieden mit seinem Aussehen, wie mir scheint. Ein unsympathischer, aber fabelhaft begabter Mensch. – Heute abend ist Premiere des Programms. Sehr gespannt! Toi-toi-toi!“
Marcellus Schiffer: Heute nacht oder nie – Tagebücher, Erzählungen, Gedichte Zeichnungen hg. von Viktor Rotthaler; Bonn: Weidle Verlag 2003, S. 111.