Berthold und Salka Viertel sind schon 1928 nach Hollywood gezogen. Während Berthold Viertel viel in New York und London war, um an Filmen und im Theater als Regisseur und Autor zu arbeiten, etablierte sich Salka Viertel als Drehbuchautorin vor allem für Greta Garbo. Ihr Haus war immer Anlaufpunkt für Emigranten aus Deutschland, Österreich und später auch aus besetzten Ländern. In ihrer Autobiografie „Das unbelehrbare Herz“ schildert sie die Feier des 70. Geburtstages von Heinrich Mann in ihrem Haus. Einer der Gäste war Walter Mehring:
„Im März 1941 hatte Heinrich seinen siebzigsten Geburtstag, und die deutschen »Dichter im Exil« beschlossen, ihn zu feiern. Alle möglichen Umstände stellten sich jedoch dagegen. Nelly und Alma Mahler Werfel hatten sich zu jener Zeit aus irgendeinem Grund entzweit, und die Feuchtwangers bemühten sich, sie zu versöhnen. Hinzu kam, dass Thomas Mann am gleichen Tag von der Universität von Kalifornien in Berkeley die Ehrendoktorwürde verliehen werden sollte; anschließend musste er eine Reihe von Vorlesungen halten und konnte nicht vor Ende April nach Los Angeles zurückkommen. Heinrich lehnte es ab, den Geburtstag ohne seinen Bruder zu feiern, und so musste das Diner auf den 2. Mai verschoben werden. Große Uneinigkeit entstand wegen der Frage, welches Restaurant man wählen solle.
Die teuren kamen nicht infrage, und die anderen waren allzu schäbig. Die Idee, dass alle Teilnehmer, einschließlich des Ehrengastes, ihr Essen selbst bezahlen sollten, erschien mir absolut unwürdig. Ich rief Berthold in New York an und fragte ihn: »Wie wäre es, wenn wir das Diner für Heinrich Mann geben würden?« Bertholds und des Mannes wegen, den er so sehr verehrte, war es mir eine Herzenssache. Lion Feuchtwanger und Liesl Frank waren hocherfreut, als ich mein Haus für die Party anbot, und versprachen mir, eine Gästeliste zusammenzustellen. Natürlich musste sie von Nelly gebilligt werden, doch dies stieß auf Schwierigkeiten: sie und Alma, mit der sie sich inzwischen versöhnt hatte, waren mit den meisten Gästen nicht einverstanden.
Schließlich wurden etwa fünfundvierzig Personen genehmigt. Es schien eine formelle Angelegenheit zu werden, und mir wurde klar, dass das übliche kalte Buffet nicht möglich sein würde. Ich beschloss, im Wohnzimmer einen langen Tisch aufzustellen, der nach dem Diner weggeräumt werden konnte. Mit Blumen und Kerzen dekoriert, wirkte er sehr festlich. Heinrich Mann musste natürlich zu meiner Rechten und Thomas Mann zu meiner Linken sitzen; Nelly placierte ich uns gegenüber zwischen Feuchtwanger und Werfel. Die übrigen verteilte ich so gut wie möglich, ohne mich viel um Rang und Namen zu kümmern. Ich hatte Berthold gebeten, mir ein Telegramm zu schicken, mit dem er Heinrich Mann und die anderen Gäste willkommen hieß, und ich hoffte, dass es rechtzeitig eintreffen würde. Die getreue Toni Spuhler übernahm das Küchenregiment, und trorz der vielen Flüchtlinge, die erschienen, um sie zu unterstützen und Walter und Hedy beim Servieren zu helfen, machte sie ihre Sache ausgezeichnet. Sie alle verehrten die berühmten Gäste. Heinrich und Thomas Mann, Alfred Neumann. Franz Werfel, Lion Feuchtwanger, Alfred Döblin, Walter Mehring, Ludwig Marcuse, Bruno Frank und Alfred Polgar repräsentierten die wahre deutsche Kultur, an der sie mit ihrem ganzen Herzen hingen.
Die Gäste erschienen pünktlich, nur Berrholds Willkommens-Telegramm ließ auf sich warten. Bruno Frank drängte mich, einige Worte zu sprechen, doch ich wollte lieber bis nach der Suppe warten. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie eine Rede gehalten. Schließlich erhob ich mich; es war keine brillante Rede, doch sie hatte den Vorzug der Kürze. Ich wusste, dass nach dem Hauptgang Bruno Frank und Lion Feuchtwanger sprechen wollten und flüsterte Walter zu, mit dem Servieren fortzufahren, doch er deutete diskret auf Thomas Mann, der aufgestanden war und sich seine Brille aufsetzte. Dann zog er ein umfangreiches Manuskript aus der Brusttasche seines Smokings hervor und begann zu lesen. Ich schätzte es auf mindestens fünfzehn Seiten. Einige Jahre später las ich einen Brief Thomas Manns an seinen Sohn Klaus, in dem er ihm diese Rede als Artikel für seine Zeitschrift Decision anbot. Ich wünschte, ich besäße eine Kopie dieser wunderbaren Huldigung an seinen älteren Bruder, in der er Heinrichs weise politische Urteilskraft aner-
kannte und sein literarisches Format und seine kritische Einstellung zu Deutschland glänzend charakterisierte.
Wir hatten kaum Zeit, auf Heinrich Manns Wohl zu trinken, als er schon aufstand, seine Brille aufsetzte und ebenfalls ein dickes Manuskript hervorholte. Zuerst dankte er mir für den Abend, dann wandte er sich an seinen Bruder und zollte ihm hohes Lob für seinen mutigen Kampf gegen den Faschismus. Er fuhr mit einer eingehenden literarischen Analyse von Thomas Manns Werk und seiner Verfolgung im Dritten Reich fort. Ich entsinne mich nicht mehr der herrlichen, genialen Gedanken, die an diesem Abend geäußert wurden – zu einer Zeit, da Europa ohne Hoffnung zertrümmert darniederlag, da jedes Licht für immer ausgelöscht schien und alles, was wir geliebt und geehrt hatten, mit Schmutz befleckt war. In der offenen Küchentür drängten sich mit tränenüberströmten Wangen die lauschenden Flüchtlinge.
Das Roastbeef war zu stark durchgebraten, doch alle waren hungrig, und niemand stieß sich daran. Bruno Franks und Lion Feuchtwangers Reden waren kurz und heiter. Das Dessert wurde serviert und verschwand rasch, es war die piece de resistance, meine Schokoladentorte, »eine Spezialität des Hauses«. Gegen Ende des Diners stand Martha Feuchtwanger auf, erhob ihr Glas und brachte einen Toast aus »auf die Frau, die Heinrich Mann das Leben gerettet hat. Sie zog die Dornen aus seinen blutigen Händen und trug ihn praktisch auf ihren Armen über die Pyrenäen. Sie erfüllte uns alle mit Mut«. Es war wunderbar von Martha, das zu sagen, denn niemand von den Sprechern hatte daran gedacht, Nelly zu erwähnen. Sie wurde rot und verbarg ihr Gesicht in den Händen, als wir sie umdrängten, um mit ihr anzustoßen, und dann deutete sie plötzlich, schreiend vor Lachen, auf ihr rotes Samekleid. das aufgeplatzt war und man sah ihren vollen Busen in einem Spitzenbüstenhalter.
Als wir den Tisch verlassen hatten, kam Bertholds Telegramm. Ich las es vor, und Heinrich Mann meinte, man solle dem abwesenden Hausherrn gemeinsam Grüße schicken. Während sich alle versammelten, um zu unterschreiben, sagte ich Bruno Frank, wie rührend und herrlich ich die Huldigung fände, die die beiden Brüder Mann einander gezollt hatten. »Ja«, lächelte Bruno. »Solche Essays schreiben sie alle zehn Jahre und lesen sie einander vor … «“
Quelle: Salka Viertel: Das unbelehrbare Herz – Erinnerungen an ein Leben mit Künstlern des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/Main: Eichborn Verlag; S. 332 – 335 (= Die Andere Bibliothek, Band 313).