Mehr als die Hälfte des Programms sind Lieder Walter Mehrings. Nicht umsonst hatte Gisela May das Chanson-Programm „Hoppla, wir leben“ genannt. Im Januar 1974 wurden zwei Aufführungen in der Ost-Berliner „Distel“ mitgeschnitten und schließlich auch als Schallplatte veröffentlicht. Diese ist mehr als ein Zeitdokument. Sie ist auch mehr als 40 Jahre später noch frisch. Wer erleben will, dass die Texte Walter Mehrings für die Musik gemacht sind, wird sie immer wieder auflegen.
Das liegt natürlich an der Interpretation durch Gisela May. Aber auch an der Musik, die vor allem von Henry Krtschil stammt. Der arbeitete wie Gisela May lange am Berliner Ensemble. Er kannte die May und ihre stimmlichen Möglichkeiten und arbeitete mehr als 30 Jahre eng mit ihr zusammen. So wie bei diesem Programm. Von Krtschil stammen die Melodien von „Zum blauen Affen“, Die Hurenmutter singt“, „An den Kanälen“, „Wenn wir Stadtbahn fahren“ und „Die Arie der großen Hure Presse“. Sie alle zeichnet aus, dass sie die Texte optimal unterstützen und deren eigene sprachliche Musikalität nicht überlagern, sondern verstärken. Dass Krtschil mit Hanns Eisler zusammenarbeitete, ist daran gut zu hören – ohne, dass hier Eisler kopiert wird.
„Dressur“ singt Gisela May nach den bekannten Noten von Friedrich Hollaender, „Die kleine Stadt“ in der erschütternden Version von Werner Richard Heymann und „Hoppla, wir leben“ in der von Ottmar Gerster. Für das Programm hat sich Gisela May also Lieder ausgesucht, die mehr bieten als reines Zeitkolorit aus den 1920er-Jahren. Genau das macht den Reiz der Platte aus. Auch jetzt nicht. Und vor allem der Gesang Mays, die mit Kraft und Anmut in die Rollen der erzählenden Menschen schlüpfen kann. Mit einer Mischung aus Anteilnahme und Verstehen interpretiert sie vor allem „Die kleine Stadt“, „An den Kanälen“ und „Wenn wir Stadtbahn fahren“.
Gisela May schuf mit ihrem Programm einen Vorläufer sehr vieler weiterer, bei denen nicht nur das Kabarett der 1920er-Jahre neu zu Gehör gebracht wurde, sondern vor allem Walter Mehring. 15 der acht Lieder stammen von ihm. Gestern, am 2. Dezember 2016, ist Gisela May gestorben. Eine große Schauspielerin, Sänger und Interpretin; nicht nur Bertolt Brechts, sondern auch von Walter Mehring.