Festakt – 120 Jahre Volksbühnenbewegung – Vortrag von Torsten Blume – Raumapparate. Moholy-Nagy und das Theater der Totalität from Volksbühne Berlin on Vimeo.
WALTER MEHRING
Der Kaufmann von Berlin
Ein historisches Schauspiel aus der deutschen Inflation
Unser aller Erleben im Naclıkriegsberlin – das tragische Schicksal „Kaftans“, einer shakespearischeıı Gestalt von heute – blutvolle Gestalten und schaurige Schatten des
Pandämoniums der Inflation; dies alles beschwört Mehring in der Buchfassuııg seines neuen Stückes herauf, die halb Roman und halb Schauspiel ist – eine der originellsten
Schöpfungen unserer zeitgenössischen Literatur.
( S. Fischer Verlag (Hg.): Almanach 1930; Berlin: S. Fischer Verlag; S. 157 f.)
Wir nehmen jeden der spärlich gebenen Bände Lyrik zögernd und zitternd zur Hand; zögernd, weil wir der Gegenwart nicht zutrauen, daß sie Lyrik zu gestalten erlaube; zitternd, weil wir, nach allzuvielen Enttäuschungen, auf den Klang der Poesie, auf strömenden Melos, auf reiche und reine Gestaltung warten. Uns interessiert nicht „Zeitlyrik“, wenn sie nichts ist, als der krampfhafte Versuch, mit aktuellen Requisiten die überlebten Formen und die vergangene Mentalität und Sentimentalität aufzufrischen. Das Kriterium der „Zeit-Nähe“, allzu sehr mißbraucht für die Beurteilung dramatischer und epischer Dichtung, besagt nichts für den Wert lyrischer Poesie. Etwas anderes aber – wir verwechseln es gern ¬ ist geeignet, schöpferische Dichtung zu indizieren: nicht Organ haben für die Zufälligkeiten aktueller Erscheinungen, sondern: einen Standpunkt haben . .. der Zeit, der Welt, dem eigenen Ich gegenüber. Der lyrische Dichter ist der isolierteste, der einsamste Mensch. Er reproduziert nicht die Objektwelt und legitimiert sich nicht durch adäquates Dokumentieren. Er saugt alles, Gefühle und Dinge, nach innen und faßt tausend Wirklichkeiten der Seele und der Sinne in einen Vers …
Dieses filtrierende, Verdichtende Gestalten kann sehr Wohl die aktuellste Gegenwart einbeziehen – ohne daß deshalb der Gestalter verdächtigt werden dürfe, „zeitnah“ zu sein. Das lehrte das Werk Gottfried Benns. Das beweist erneut die Poesie des Walter Mehring. Denn, was er unter dem Warenzeichen „Chansons“ ediert, ist echte reine Lyrik. –
Dieses ,,Einen-Standpunkt-haben“ definiert am klarsten seine Poesie, wenn sie von Gegenständen des Tages ausgeht, das Zeitgeschehen, das Geschichtliche, das Politische erfassend. Mehring scheut sich nicht, in den „Streitliedern“ die unmittelbarste Wirklichkeit anzupacken – aber er prägt sie um, mißt sie an seinen Maßen, entlarvt sie, indem er das bessere, edlere Gesicht, das wahre Menschenantlitz aufweist. Im „Börsenlied“, in „Hoppla, wir leben“ faßt er das anarchisch Grauenhafte des Stoflfs in die gebändigte Melodie seiner bezwingenden Strophe – und schon ist das Gegenständliche geadelt, zur Dichtung erhöht.
Der wahre Gehalt seiner Poesie offenbart sich aber, wenn er über die Wirklichkeitsgrenzen hinaustritt, gleichsam ins All, Wenn er seine persönliche Weltsicht auszudeuten wagt. Dann schwingen die Melancholien dieser zartesten, ernpfindsamsten Seele sich aus; dann wird seine tiefmenschliche Vereinsamung – Welche die Einsamkeit jedes Dichters ist ~ der Seelengrund, auf dem allein das wahrhaft Schöpferische keimt. Wir erleben es in den „Romanzen“ ~ in dieser wundersamen Poesie der „kleinen Stadt“, die zu den schönsten Gedichten gehört, die seit Heine geschrieben wurden.
Otto Zarek
(Zarek, Otto: Die Gedichte, Lieder und Chansons des Walter Mehring; in: Die neue Rundschau, Nr. 9, 1929; S. 432)
Das „Festspielbuch“ der Heidelberger Festspiele 1929 enthält dieses Foto von Walter Mehring. Im Mittelteil des kleinen Büchleins, nach den einführenden Texten und vor den umfangreichen Anzeigen, sind „Bilder der Spielstätten / Bildnisse der Leiter / Darsteller / Mitarbeiter“. Hier findet sich dieses Porträt. Aber sonst ist weder im Festspielbuch noch im „Spielzettel“ zu den drei Inszenierungen von „Sommernachtstraum“, „Troilus und Cressida“ und „Florian Geyer“ ein Hinweis auf Walter Mehring.
In der Weltbühne vom 13. August 1929 findet sich aber ein Hinweis: „Walter Mehring hat für die Heidelberger Festspiele Shakespeares ‚Troilus und Cressida‘ bearbeitet. Doch dieser Prolog ist gestrichen worden…“
Auf gewacht! Auf gewacht! Seit sieben Jahren ZerrcßBen unsre Nacht die Blutfanfaren! Wenn es den Herren paßt — droht uns Verderben, Bis sie den Sieg von unsern Knochen erben. Seit sieben Jahren pariern wir ihnen stumm! Und warum? Und warum? Nur weil ein Weib gehurt Von adliger Geburt, Hat uns das Vaterland hierher verfrachtet — Für Sold am fremden Strand Verdreckt man ungenannt, Weil eine Fürstlichkeit nach Kriegsruhm trachtet. Tretet an! Tretet an! Seit sieben Jahren Vermehrn sich Mann für Mann die Totenscharen! Seit sieben Jahren füllen wir die Reihen Mit frischem Leben, das wir von uns speien. Seit sieben Jahren schinden wir uns krumm! Und warum? Und warum? Weil es Soldaten gibt, Die bei den Fraun beliebt, Wenn sie sich morden, einer Frau zu Ehren! Wenn einer von uns rallt, Dann kommt der nachste Held — Weil Frauen stets nach neuem Trost begehren! Abmarschiert! Abmarschiert! Zu wieviel Jahren Hat sich der Tod verschworn, uns aufzusparen? Seit sieben Jahren ziehn wir, die Stadt berennen, Von deren Fraun und Freuden wir nichts kennen! Wenn wir einziehen, wird sie untergehn! Und für wen? Und für wen? Denn eine Helena Ist für die Herren da — Und was von ihren Taten zu vermelden, Erzählt der Schlachtbericht — Wir aber zahlen nicht! Auf unsern Grabern betten sich die Helden!
(Prolog zu Troilus und Cressida)
Fast wirkt es so, als hätten sich die Verantwortlichen der Festspiele über ihren Mut, neben dem etablierten Gerhart Hauptmann auch Walter Mehring in den Kreis der Bearbeiter, Regisseure und Schauspieler mit aufgenommen zu haben, so sehr erschreckt, dass sie auch noch vergessen haben, sein Bild aus der FEstschrift zu entfernen. Wenn schon der Name nicht auftaucht.
In einem Konvolut von alten Zeitungstexten, die bei einem Antiquar in einer Ecke lagen, war unter anderen dieser aus dem UHU, einer Berliner Zeitschrift, dieser von 1929. Er ist ein Auszug aus dem „Neubestellten abenteuerlichen Tierhaus“, das schon vier Jahre zuvor erschienen war.