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1925 Prosa Rezensionen

Max Herrmann-Neiße analysiert Mehrings Prosa

Walter Mehrings Prosa

Algier oder Die 13 Oasenwunder (1925)
Algier oder Die 13 Oasenwunder (1925)

Schreiben aus der Technik des Schreibens heraus, aus der überlegnen Freude an der Beherrschung des Apparats, aus einem berechtigten Handwerksstolz existierte bisher in deutschem Schrifttum kaum. Hier gab es immer nur zweierlei: einmal das Schreiben um einer Idee oder um einer Gefühlspropaganda Willen (und mancher, der beides nicht hatte, täuschte es vor, schminkte sich Idee oder Gefühl an, borgte sie sich), dann die snohistische L”art-pouı‘-l’art-Tändelei, den Luxus der Selbstbefriedigung, eine sinnlose Kunst „an sich“. Damit darf man das, was ich im ersten Satz nannte, nicht verwechseln, was ja kein eitles, nutzloses Hantieren im abgesperrten Raume ist, sondern gar sehr die Wirkung auf jedermann erstrebt und diese Wirkung auch trefflich zu berechnen und hervorzurufen weiß. Schreiben aus der Technik heraus wird dieser Technik auch einen Willen unterlegen, wird die Meisterschaft für einen vernünftigen Sinn einsetzen, auf festem Boden stehen, nicht ins Blaue dunstiger Kniffligkeiten faseln.

Es ist kein Zufall, daß derartige literarische Handwerklichkeit vorläufig am ehesten zu finden ist bei ausgesprochen revolutionären, aber zielbewußt und nüchtern fit eine politische Überzeugung eintretenden Schriftstellern (wie Jack London, Franz Jung und andrerseits bei dem anarchistischen Walter Serner. Auflösung und Aufbau berühren sich in ihren Formen. Aber es ist bezeichnend für die Direktions- und Instinktlosigkeit unsrer offiziellen Wertung, daß man den sonst allenthalben angewandten Maßstab des Könnens, der technischen Sicherheit, in der Literatur nicht gebraucht, im Gegenteil, heut Schludern, Leichtfertigkeit, Ratlosigkeit als Kriterium einer genialen Begabung annimmt.

Nun hat unser stärkster Kabarettdichter, Walter Mehring, mehrere Prosabände veröffentlicht, die alle das eine gemeinsam haben: Leichtigkeit der Komposition und instinktíve, ursprüngliche Sprachkultur. Es wäre falsch, zu sagen, es kommt dabei mehr auf das Wie als auf das Was an, aber beides befindet sich im Einklang, und das gemeinsame Fundament ist eine gleichermaßen unbarmherzig fröhliche und herzhaft bittre, ganz unabhängige Verarztung der Welt. Das erste Prosabuch hieß „In Menschenhaut, aus Menschenhaut, um Menschenhaut herum“ (bei Gustav Kiepenheuer, Potsdam. Mit Zeichnungen von Rudolf Schlichter) und enthielt bereits reife Früchte eines großzügigen Arrangiertalents. Diese knappen, kurzweiligen, phantasiereichen Skizzen sind selbständige Exemplare der Kurzgeschichte in Deutschland, auf köstlichen Originaleinfällen aufgebaut, eine wirklich anregende Lektüre, auf einer Mischung von Geist und Herz, Hirn- und Bluterlebnis beruhend. Lästerliches und Idyllisches, Spuk und Lyrik halten sich die Waage, menschliche Wahnvorstellunng wird attackiert, der Popanz als solcher entlarvt, Bürgerliches mit guter Groteske spielend erledigt. Am stärksten von den aggressiven Stücken ist „Unsterblichkeit“, das mit handfester Bealistik die Einzelheiten militärischen Betriebes gestaltet und ihn durch die Wanzenperspektive drastisch kennzeichnet. Ebensogut gelangen die positiven Prosagedichte in der Zärtlichkeit ihrer Anteilnahme: da ist die reizvolle Verschlungenheit von „Bouquins, bouquinistes, bouquineurs“, die
diffizile Tragik „Vom Mann, der die fünf Minuten verlor“, die graziöse Erotik des Märchens vom „Lederstrumpf“, endlich das Bravourstück der trocken gebrachten Abenteuergeschichte „Die Thöle“.

Das in sich geschlossene Brevier einer imaginären und doch sehr robusten Meerfahrt ist „Westnordwestviertelwest oder Über die Technik des Seereisens“ (im Verlag Elena Gottschalk, Berlin. Mit Umschlagbild und Textzeichnungen von Walter Mehring). Elf noch kürzere als Kurzgeschichten, norddeutsche Altenbergiaden eines schnurrigen Ringelnatzbruders, aber beileibe weder Altenberg- noch Ringelnatz-lmitationen, sondern wieder etwas eigenes, Gebilde, die scharfen Blick für des Lebens kuriose Kleinzüge und Freude am Fabulieren merkwürdig vereinen und immer signiert sind mit der Stimmungsnuance ihres Autors, der guten Zusammenstellung: Skepsis und Liebe zu den Dingen dieser Welt. (Skepsis allein ist ebenso unfruchtbar, unnütz, billig wie eine blinde, rührselige, von sich selbst besoffne, hemmungslose Hingabe wahl- und distanzlos an jeden Dreck!) Und nicht der kleinste Zauber des Buches ist seine undefinierbare Balance in einer Zwischenlage zwischen Ernst und Ironie, Sachlichkeit und Lust am Spintisieren, daß in gleicher Überzeugungskraft die Unterhaltung von Kapitänen, die mönchische Abgeschiedenheit der Feuerschiffe, die Vision der Seehundsmenschen, der unbeholfen liebe Brief eines kleinen Mädchens und die nicht ganz klaren Verhältnisse im scheinbar recht vielseitigen Laden der englischen Siedlung Jarrow getroffen sind. „Bouquins, bouquinistes, bouquineurs“ hatte schon Mehrings Abenteurerneigung zu den abenteuerlichen Mysterien alter Schwarten verraten, eine sehr begreifliche Neigung aller Phantasten, an phantastische Tradition anzuknüpfen, aller Ironiker, sich magisch zu maskieren und in den Absonderlichkeiten vergangenen
Geheimniskrams und Luftgespinstes herumzustöbern.

Solcher Lust (die auch schon im letzten Abschnitt seines Kabarettbuches „Das Ketzerbrevier“ geisterte) frönt leidenschaftlich der Band „Neubestelltes abenteuerliches Tierhaus. Eine Zoologie des Aberglaubens, der Mystik und Mythologie vom Mittelalter bis auf unsre Zeit“ (Gustav Kiepenheuer, Potsdam). Mehring nimmt sich darin der Geschöpfe an, die in den Akten einer zünftigen Zoologie nicht registriert wurden, der Fabelviecher und Merkwürdigkeiten wie Einhorn, Drache, Basilisk, Lintwurm, Greif, Seeschlange und bürgerlicherer Monstra: die Ziege mit zwei Köpfen, das schlesische schwarze Schwein, die Zeitungsente. Satire und Mystik feiern Schlachtfeste ihrer Verwandtschaft, und noch in so gelehrsamen, durch die rarsten Zitate beglaubigten Traktaten ist Mehrings Angriffslust aktuell rege. So wird endlich einmal konstatiert, daß auch die menschliche Überhebung übers Tier Zeichen antisozialen Sinnes und Kastengeistes ist, Herrenanmaßung, die gottgewollte Abhängigkeit des Tieres vom Menschen zu proklamieren. Einen noch gröberen Schlag bekommt der Stolz mit der Versicherung, wie zufällig die Seele einen Menschenkörper bewohnt, wenn der Dünkel gezwungen wird, sich in eine Heuschrecke zu verwandeln, der Herr Wirkliche Geheime Rat im Polizeipräsidium, Abteilung la, plötzlich als Insekt hilflos umzulernen sucht. Irgendwo existiert das Namenlose, ein Sackermentsding, das jeder Definition spottet und für solche Extravaganz in unsrer Zeit geschäftlich nüchterner Ordnung schwer büßen muß, indem es als Fabrikzeichen für Bitterwasser ein blamables Ende nimmt. Die Parole dieser ehrfurchtslos nur dem Nützlichkeitswahn huldigenden Epoche wird prägnant auf die Formel gebracht: „Quäle nie ein Tier zum Scherz, wenn du nicht Gelehrter bist!“ und präzis genug ausgesprochen: „Die Geschichte der Zivilisation, das ist die Geschichte der falschen Scham und beginnt schon im Paradiese. – Scham ist die Angst vor der Natur, vor den Trieben und Ungeheuern.“ Die Schöpfungsgeschichte erfährt eine Beleuchtung von revolutionärem Standpunkte aus: da ist die paradiesische Schlange die „Todfeindin aller Regierungen“, die die Privilegien, „die Früchte der Erkenntnis und die Schätze der Erde, zu deren Hüterin sie bestellt war, an die Menschheit auslieferte“. Schließlich siegt eine nüchterne Götterdämmerung, das Ungeheuer Moral erledigt die ungeheueren Tiere und beschert dafür der Menschheit die negativen Ungetüme, Bakterien und Mikrokokken. Wir Poeten aber flüchten uns zu entzückenden Besuchen bei dem sympathischen alten Weib, das um Grönland herum bei ihrer Tranlampe zutiefst im Meere sitzt und das von Zeit zu Zeit die Walrosse mit ihren Riesenzähnen lausen, sind gern zu Gaste beim Weiland Herrn von Megenberg in seinem kuriosen Aquarium, gut Freund mit Meermönch, Meerbischof, Meerfratz, vertraun uns lieber Schäfern und Spökenkiekern an als der täglich dementierten Zeitungs-„Wahrheit“. Lieben den Bieresel, der alles zerwirft, wenn ihm nachts nicht ein Krug mit Bier an einen bestimmten
Ort gesetzt wird, und sind natürlich herzlich gern in „Wirtshäusern nach Feierabend“, die viel Spukiges haben „durch jenes rätselhafte, menschenverlassene Durcheinander, in ihrer tristen Öde voll von Spuren besoffenen Radaus“. Diese Registrierung vergeht nicht mit Vergangenem, notiert sich flink bis auf die jüngste Gegenwart durch: die Folies-Bergère-Revue schließt sich den Schimären von Notre-Dame an, und die Tiller-Girls tanzen in den Hexensabbat, bis der Kilometerfresser Auto, der Drache von heut, alles in Angst setzt. Menschen mit Tierköpfen spazieren neben uns, Geier mit Intelligenzbrillen, Wirtinnen, die ihre Gäste in Schweine verwandeln, Generäle mit Bulldoggenschädel, verzerrt durch Bigotterie. Was ähnliche Typen vergangner Zeiten als Werwolf schreckte, heißt heut kraß plakatiert „Bolschewistenscheusal“. Es liegen die halb ernsthaften, halb skurrilen, absichtlich barocken Exkurse dieses prächtig vielseitigen Buchs ganz in der Sphäre jener bewußten Lebens- und Philosophietravestien, wundervollen Wunderlichkeiten, antiphilologischen Belesenheitsorgien, deren scheinbare \/Vindigkeit sehr schnell Sturm werden kann und deren Tollheit zuletzt die sehr klare Abrechnung mit einer nüchtern ungerechten Welt wird. Diesen Bogen mit Namen wahllos zu kennzeichnen: Rabelais, F ischart, Christian Reuter, Sterne, Jean Paul.

Aus dem Aufgehen, Sicheinleben in solch putzige Luft, in ihren Stil und in ihren erfreulich unabhängigen, dreisten Geist schuf Mehring schließlich eine ganz unvergleichliche Nachdichtung von Balzacs „Contes drôlatiques“, die unter dem Titel „Trollatische Geschichten“ in der schönen, handlichen Balzacausgabe des Verlages Ernst Rowohlt, Berlin, erschien. Es mußte einer kommen, der das Gefühl hat für sprachliche Besonderheiten, Abnormitäten, Revolten (die auch geistige sind), um die nach Regis beste Übertragung dieses unbefangen saftigen, aus richtiger poetischer Spiel- und Verkleidungefreude gewachsnen Werkes in ein kongruentes Altertümlichkeitsdeutsch der Fischart- und Katzipori-Schwänke zu schaffen. Es wurde kein Altertümeln und Verschnörkeln daraus, sondern die Transponierung in ein Deutsch, das die Sprachkraft von einst jedem, der heut überhaupt Gefühl für Sprache hat, verständlich macht, herznah bringt.

Max Herrmann-Neiße: Walter Mehrings Prosa; erschienen in: Die neue Bücherschau, 3. Folge, Heft 5, Berlin: 1925

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1925 Rezensionen Zeitschriften

Max Herrmann-Neiße blickt 1925 auf neue Kabarettdichtung

Neuere deutsche Kabarettdichtung

Lange fehlten in Deutschland jene Dichter des packenden, urwüchsigen, aktuellen Schlagers, die in Frankreich die Entwicklung des Kabaretts zu einem eignen vollwertigen Kunstzweige früh gefördert hatten, gab es gar keine Schriftsteller, die spezifisch dahin begabt waren, ein Ereignis sofort rücksichtslos zu entblößen und unterm amüsanten Pfeilregen des Witzes zu begraben. Gab es keine Künstler, denen jene leichte Musikalität im Blute liegt, die im einprägsamen Rhythmus und mit dem volkstümlichen Gedächtnisanhalt des Refrains gleichsam spontan Empfindung und Meinung sich äußern läßt. Gab es auch keine abseitigen, untergründigen Urwuchspoeten, Bänkelsangdichter voll Dämonie und satzungsferner Doppelbödigkeit.

Die Textlieferanten der ersten deutschen Überbrettlära waren lyrische Limonadenfabrikanten (Ernst von Wolzogen, Bierbaum), platte Bonmotdrechsler und Bonhomiesatiriker (Pserhofer, Rideamus). Und die Dichter, die damals zufällig im Rahmen dieser Kabaretts auftraten, schrieben nicht fürs Kabarett und schrieben nicht so, daß ihre Werke irgend eine Möglichkeit gehabt hätten, vom Kabarett aus zu wirken. Von wirklichen
Künstlern gemachtes, Kabarett, das eine Welt für sich darstellte, war erst das der »Elf Scharfrichter« mit den Dichtern Wedekind, Lautensack. Leo Greiner, Gumppenberg, Ludwig Scharf. Dann gab es in den drei, vier Jahren, die dem Weltkrieg vorausgingen, eine Dichtung, die zwar nicht direkt fürs Kabarett gemacht war, aber ihrer Struktur nach einem wirklich künstlerischen und selbständigen Kabarett geeignetes Material zu bieten hätte. Die impressionistisch-naturalistische Literaturepoche hatte es in ihrem Ausgang zur Groteske gezogen: nach der Erringung eines hohen formalen Niveaus führte man akrobatische Wagestücke und verblüffende Fingerfertigkeiten vor, hielt Berlins Großstadtsensationen in grotesk frisierter Verklärung lyrisch fest. Die Reihe der Dichterexzentriks war groß und mannigfaltig, Scheerbart, Meyrink, Mynona waren ebenso darin wie Hardekopf, van Hoddis, Lichtenstein, Blass, Hugo Kersten und das Autorenterzett der »Kriminalsonette«. Die Schwindelatmosphäre des Kriegs- und Nachkriegsbetriebs nimmt die deutsche Abart des Dadaismus dann einfach als Technik auf, erbarmungslos, exakt, mit nötiger Kaltschnäuzigkeit, marschartigem Draufloshämmern, marktschreierischer Inseratenstrophe, marionettenhafte Geschäftigkeit, betreibt die Tollheit als Gewerbe und schafft so auch für ein selbstherrliches Kunstkabarett bizarre, klischeefeindliche Vorlagen in Gedichten von George Grosz, Richard Huelsenbeck, Hans Arp, Kurt Schwitters. Die Reihe der Außenseiter-, Urwuchs-, Unbandpoeten, jener Dichter, die durch die Konventionslosigkeit,
ja Vogelfreiheit ihres Werks für ein geistiges, kämpferisches Kabarett wichtige Anreger blieben, setzte sich inzwischen von Wedekind, Ludwig Scharf, über den gesinnungsechten Barden Erich Mühsam, die lebensechte, schicksalshafte Bohemienhaltlosigkeit der Emmy Hennings, den Dramatiker Bert Brecht, der zugleich der erschütternde Bänkelsänger der milden Moritat Apfelböck oder die Lilie auf dem Felde und der großartig aufreizenden Ballade vom toten Soldaten ist, bis zu dem in seiner Art einmaligen Daseinsbohemien, Grotesketragiker Joachim Ringelnatz fort. Das ist der Ausbund von einem heutigen Vagantendichter, der erschüttert, wie nur die Einheit von Dichter, Werk, Leben erschüttern kann. Ein Original, etwas herrlich eralkoholisiertes, Urviechiges mit dem niederträchtigen Dichterblick für die Kleinzüge allen Außenseitertums, dem etwas für seinen Bezirk so Klassisches entstammt wie Noctambulatio. In den Turngedichten, in den Phantasien des Matrosen Kuddel Daddeldu (beide bei Kurt Wolff, München) und im Geheimen Kinder-Spiel-Buch (Gustav Kiepenheuer, Potsdam) schuf er sich eine ganz eigentümliche barocke Ausdrucksform, einen Ton und Rhythmus, den nur er so hat, für eine ganz eigne Erlebniswelt. Das sind drei Maskierungen oder Demaskierungen ein und desselben Wesens.

Dieser Seemann Kuddel Daddeldu, dieser Turnerschreck und dieser Wegweiser für Enfants terribles – es ist mehr als» ernsthaft selbstparodistische Laune«, es sind keine Fiktionen, keine »erdichteten Gestalten«, es ist der Zwang, seine verquere, verfahrene, halb lachhafte, halb melancholische Lebenschose in Zickzackbahnen zu erledigen. Alles ist gleich echt und verflucht schicksalhaft, der Ekel an der strammturnerischen deutschen Umwelt, daß man das Kotzen kriegt, sich in nebulose seemännische Grogseligkeiten flüchtet, wo man von einst erlebten oder auch nur erhofften exotischen und erotischen Abenteuern träumt und schließlich in allen als Kind dasteht, boshaftes, himmlisches Kind, dem alles nur Spiel ist und nach automatischem Widerpart und Schabernack der kaum von Trunkenheit zu unterscheidende Urweltschlaf kommt, der selig lallend von nichts mehr weiß. Es ist dieselbe göttliche Naivität hier wie in den Turn- und Seemannsgedichten, und dort wie hier grenzt sie an die raffinierteste Bewußtheit exzentrischer Technik, aber dabei ist kein Widerspruch, wer selbst ein vielfältiger, hin und her gerissner Dichtermensch ist, kennt das, wie man nah nebeneinander lindeste Schwärmerei, schadenfrohen Zynismus, Liebenswertes und Selbstzerstörerisches haben kann und muß.

Dieselben Grundelemente finden sich in dem Kinder-Spiel-Buche wie in den andern Ringelnatzwerken: der energische Zugriff, das wurschtige Sichfallenlassen, die schnuppige, ruppige, weil absichtslose, so doch im letzten Sinne keusche Eindeutigkeit, die keine Zote ist, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der man auch diesen Dreck des Lebens, der einen immerzu plagt, hinschmeißt. Und auch die scheinbare Herzlosigkeit und Grausamkeit in solchen Versen ist kein Gefühls- und Gewissensmangel, eher der Überfluß an Gefühl und Gewissen, der sich mit der faktischen Herzlosigkeit der Mitbürgerschaft zu deren Ungunsten ausgleicht. Da gibt es »Abzählreime«, die in ihrer scheinbaren Zufälligkeit eine Weltanschauung enthalten, nämlich die tiefe Überzeugtheit vom irrsinnigen, hoffnungslosen Nebbichtum unsrer ganzen Erdenexistenz, und die Ratschläge zu neuen Kinderspielen sind ganz rebellisch, zielen auf Attentat, Unruhe, Verwirrung ab, geben glänzend unehrerbietige, blasphemische Maximen und sind schließlich
alle» Nur für Kinder, die keinen Schiß haben «.

Der spezifische Kabarettdichter, dessen besonderes Talent es ist, die fürs Brettl notwendige Originalität, Vielfalt, Tempobeschwingtheit und scharfe Pointierung zu haben, der eine neue Art Chanson, eine ganz dem Rhythmus der Zeit und dem Rhythmus heutigen Kabaretts entsprechende Coupletkunst begründete, ist Walter Mehring. Was ihn vor allem zu seinem Metier befähigt, ist diese rhythmische Feinfühligkeit, die Treffsicherheit, den richtigen Vortragsschwung jedem einzelnen Couplet gleich mitzugeben, daß schon im Takt die Situation sich ausdrückt und Melodik und Stimmung sich vollkommen decken. Dabei ergibt sich für die verschiedenen Gelegenheiten eine dementsprechende Abwechslung: eine Erinnerung an den Tonfall Bruantscher Schreckenslieder, die alte Kehrreimweise, eine Simultanität, die von der »Fortgeschrittnen Lyrik« manches nutzte, und schließlich das originellste Produkt eines freien Rhythmusses der Couplettechnik. Es muß noch einmal konstatiert werden, daß der nun so oft dünner nachgemachte Vortragselan, der die rasende Mechanik des Großstadtbetriebes exakt ausdruckt und so etwas wie einen Expressionismus der Brettldichtung, eine im Automobiltempo losgelassene, gebremste und Kurven nehmende Momentaufnahme darstellt, zuerst und am intensivsten moussierte in solchen Mehringoriginalen wie Achtung Gleisdreieck, Sensation, Salto mortale.

Sein neuester Band Europäische Nächte (Elena Gottschalk Verlag, Berlin) ist sehr geschickt eingekleidet als eine »Revue in drei Akten und zwanzig Bildern«. Die drei Akte »Quer durch Mauern«, »Ländliche Romanze«, »Nun ade, du mein lieb Heimatland« gliedern die Sache in Berlinisches, Ländliches und Internationales, wobei für Ankurblung, Atemholen, Steigerung und radikal brüsken Ausklang, wie für die richtige kabarettistische Vielfalt von sentimentalem, Aggressivem, Zärtlichem und Barschem, Schwärmerei und Abfuhr glänzend gesorgt ist. Das Ganze ist geradezu ein vorbildlicher Grundriß für ein ideales Kabarettprogramm. Und es ist auch gewissermaßen ein historisches Kabarettbuch, denn es enthält alle die Schlager, die – von Werner Richard Heymann, Friedrich Hollaender, Mischa Spoliansky komponiert – ihren Platz haben im Repertoire wesentlicher deutscher Kabarettküristler. Es enthält auch die beiden besten kabarettgemäßen Persiflagen, die ich aus den Programmen der letzten Kabarettjahre kenne: die Oberammergau-Parodie und den Russischen Holzschnitt. Auch in diesem Bande erweist sich, daß Mehring viele Register beherrscht, von einer außerordentlichen Wandlungsfähigkeit und Mannigfaltigkeit ist. Da gibt es so pompöse Monatrestücke wie die Arie der großen Hure Presse, Blocksberg, Bravournummern wie Dressur, Der Rattenfänger von Hameln, Amerikanisches Riesenspielzeug, Balladen wie die vom »Abenteurer«,vom »Highwayman«, von den »roten Schuhen« verschlagne Romanzen wie Mein Herz, unscheinbare, sanfte, dennoch mit geheimer Schadenfreude geladne Liedchen wie Die kleine Stadt, Bergerette. Dann wuchtige, Stimmung der Großstadt in unendlicher Schwermut gestaltende Dichtung Wenn wir Stadtbahn fahren, radikale Attacke: Die Maschinen, wundervoll Ironisches wie Ziehende Schafherde, bestes Tingeltangel: The man in the moon, robustes Chanson von den »Gardekürassieren «unbürgerliche, vagabundenfrohe Justamentsstrophen: Die Vier auf der Walze und Choral für Seemannsleute (übrigens tadellos das Couplet aus dem Monologischen ins Vielstimmige führend), und schließlich eine überlegene Rücksichtslosigkeit in dem herrlichen Monolog Der Angeklagte hat das letzte Wort. Mit dem Gruß »Doch nie stirbt mein Gelächter« stößt das Abenteurerschiff vom belämmerten
Heimatsufer ab, und fast schon unter Palmen stellt ein sehr, sehr über Europa schwebender Epilog den »Tiefen Grund « fest, warum bei uns zulande der mörderische Kuddelmuddel herrscht. Kein sogenanntes »ernsthaftes« Gedichtbuch der letzten Zeit hatte mich so restlos in seinem Bann wie dieses in jeder Hinsicht freie, und daß es sein Verfasser mit einem phantastischen Umschlagsbild und hübsch unpedantischen, nach Lust und Laune hingesetzten Textzeichnungen versah, schuf ihm vollends die rechte tändelfrohe, gottlob unseriöse und unbedingte Kabarettatmosphäre.

Von Marcellus Schiffer, der heut am eifrigsten die Kabaretts mit Texten beliefert, eine direkt routinierte Begabung für das nicht gerade tiefe, unterirdisch gefährliche, doch aber geschmackvolle, von einem wirklich witzigen Intellekt zeugende Chanson hat, existiert leider noch keine Buchpublikation. Erich Weinert, einst Mitglied des Leipziger Kabaretts »Die Retorte«, das eine künstlerisch selbständige, ein eignes Gesicht wahrende
Institution war, heut in Berlin beliebt, schrieb Couplets, Verssatiren, gereimte Plaudereien, deren gemeinsames Merkmal ist, daß sie ganz leicht aus dem Ärmel geschüttelt wirken und an gangbaren Pointen reich sind. Es gibt zum Beispiel von ihm eine der köstlichsten Parodien auf Dirnenchansons und eine gute Persiflierung der »neuen Deutschen Nationalhymne«, nämlich – des Bananenlieds. Seine besten Sachen stehen aber leider noch nicht in dem Bändchen Der Gottesgnadenhecht und andre Abfälle (Elena Gottschalk Verlag, Berlin), obwohl darin auch schon so ehrfurchtslos aggressives Geschütz wie das Titelgedicht, so brauchbare Verhohnepieplungen wie Der Akadem, so bittre Mahnung wie republikanischer Abend enthalten sind.

Eine Sache für sich ist Hans Reimann, eine ganz persönliche Sondernummer, eine Art sächsischer Otto Reutter von fortschrittlicherer Geistigkeit, jedenfalls natürliche Originalität, ein Kerl von eignem Wuchs und Gesicht. Seine neueste Publikation Mein. Kabarettbuch (mit Zeichnungen von Paul Simmel bei Steegemann, Hannover, erschienen), parodiert in seinen besten Partien gutpointiert kulturelles und literarisches Talmi.
Reimann konzentriert da ergötzlich Schiller, schafft die Sächsische Nationalhymne, revidiert die Schöpfungsgeschichte, besingt den Untergang des Abendlandes gebührend, stellt in einer Hymne Rabindra und Fern Andra als Lieblinge des Volks auf den Sockel des gemeinsamen Denkmals (Pose: Schiller-Goethe auf dem ‚Weimarer Denkmal), knöpft sich gelassen und kundig Caesar Flaischlen, Bonsels und Jungnickel vor.

Max Herrmann-Neiße: Neue deutsche Kabarettdichtung; in: Die neue Bücherschau, 3. Foöge, Heft 1, 1925.