In jenen Tagen waren 100 Dollar in der Woche ausreichend für den Lebensunterhalt, ja geradezu ein Geschenk des Himmels für Fremde in einem Land, die sonst über keinerlei ersichtliche Mittel verfügten, aber sie waren nichts im Vergleich zu dem, was die meisten Vertragsautoren verdienten. In seiner leicht verfremdeten Autobiographie „Links wo das Herz ist“ erinnert sich Leonhard Frank, daß ihn am Pier des New Yorker Hafens ein Angestellter von Warner Brothers erwartete, der ihm zweihundert Dollar Vorschuß überreichte und ihm mitteilte, er solle sich in einer Woche im Warner Brothers Studio in Hollywood melden. Dort stellte er fest, daß der amerikanische Filmautor im Büro nebenan 3500 Dollar die Woche verdiente. Von ihm erfuhr Frank auch, daß die Filmbosse den Wert von allem danach beurteilen, was sie dafür bezahlten. Es war also klar, daß jemand, dem man nur hundert Dollar die Woche bezahlte, für die Studios überhaupt keinen Nutzen hatte. Tatsächlich gab man Frank in den ersten drei Monaten nicht das geringste zu tun, ja nicht einmal zum Schein. Nach weiteren fünf Wochen bekam er schließlich den Auftrag, nach dem amerikanischen Roman Danger Signal ein Drehbuch zu schreiben. Doch da schon sämtliche hochbezahlten Filmautoren sich vergeblich damit abgemüht hatten, lag es auf der Hand, daß das kein ernstgemeinter Auftrag war.
Schlagwort: USA
Manuela Mühlethaler: Wann haben Sie den Text „Oratorium von Krieg, Frieden und Inflation“ geschrieben?
Walter Mehring: Das Oratorium war geschrieben für eine Aufführung im Piscator-Theater in Berlin. Und wurde von Eisler komponiert dort zum ersten Mal aufgeführt.
Manuela Mühlethaler: In welchem Jahr war das?
Walter Mehring: Das war 1929.
Manuela Mühlethaler: Und wann haben das Stück es geschrieben?
Walter Mehring: Wenn man das ein Stück nennen kann. Es war eigentlich ein episches Theaterstück, das ich schon 1925 im ersten Wurf fertig gestellt hatte. Dann wurde es von Piscator im Theater am Nollendorf Platz in der Werkstatt aufgeführt, allerdings in einer sehr veränderten Form, als ich es ursprünglich beabsichtigt hatte. Es war das erste Mal in Berlin, dass die SA das Theater gestürmt hatte und dass die erste Aufführung – die anderen folgten dann doch – nicht zu Ende geführt werden konnte.
Am 8. Oktober 1977 ist die Bundesrepublik im Bann des Terrorismus. Die Schlagzeilen werden von der Entführung von Hanns Martin Schleyer dominiert. Schon im Juli war Jürgen Ponto ermordet worden, und im August scheiterte eine Anschlag auf die Bundesanwaltschaft. Manuela Mühlethaler ist zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt. Sie besucht einer Berufsaufbauschule , um die Mittlere Reife nachzumachen. Hier wird ihr die Aufgabe gestellt, ein Referat über einen Schriftsteller zu halten. Da sie durch den Liedermacher Walter Stapper mit Gedichten und Texten von Francois Villon, Kurt Tucholsky, Bert Brecht und Walter Mehring in Berührung kam, hatte sie sich eine Ausgabe von Mehrings «Großem Ketzerbrevier» gekauft.
Keine „Drugstore -Amerikaner“
Sehr geehrte Redaktion!
Erich Franzen behauptet in seinem Aufsatz „Europa blickt auf Amerika“ (Heft 50):
„Walter Mehring scheint anzunehmen, daß sich in Amerika die Liebe nur in der Öffentlichkeit abspiele. Er widmet ihr das Gedicht: „Der Drugstore“, in dem folgende Verse stehen: ,Der Held -- der Herzensbrecher Der Stratosphären-Cherub, Der gestern fremde Dächer Unter Bomben begrub: __Nun hockt er linkisch in der Reih __Und lauscht dem kindischen Geschrei ____Heim von Doughhoy-Geplänkeln -- ____Errötend vor zwei Schenkeln ____Ein naseweiser Bub ...' Was Walter Mehring einige Schwierigkeiten bereiten muß - über die er sich in seinem Gedicht hinwegsetzt - ist der Gedanke, daß diese Drugstore-Amerikaner nicht anders als die Europäer im Kriege wie Männer gekämpft haben.“
Es mag Herrn Erich Franzen einige Schwierigkeiten bereiten, Lyrik zu interpretieren, darin, um Verlaine zu zitieren, das Ungewisse sich dem Genauen vermählt…
Um es in diesem Fall genau zu sagen: weder ist mein Gedicht „Der Drugstore“ „der Liebe in Amerika“ gewidmet, noch habe ich in diesem oder in den insgesamt 15 Gedichten der zusammenhängenden Versfolge „Transatlantischer Psalter“ die schwachsinnige Ansicht verfochten, daß sich in Amerika die Liebe nur in der Öffentlichkeit abspiele. Es schien mir ein kleines Sinnbild der Jugend, daß ein junger Soldat, der „des Krieges Höllenpein durchschritt“, so linkisch und errötend bei einem Ice-cream Soda im Kleinstadt-Drugstore seiner Angebeteten den Hof macht. Ich habe mich in Gedanken nicht „darüber hinweggesetzt“, daß „diese Drugstore-Amerikaner“ — der Ausdruck stammt nicht von mir, er ist mir neu — „nicht anders als die Europäer im Krieg wie Männer gekämpft haben“. Daß amerikanische Bürger, jung und alt, die Menschenrechte verteidigt, ja besser verteidigt haben als viele Europäer, darüber setze ich mich nicht hinweg, da ich genau so gut wie Herr Erich Franzen vor den Verfolgungen einer Diktatur, die den zweiten Weltkrieg entfesselte, in den United States of America eine gesicherte Zuflucht fand – und eine Heimat…
New York
Walter Mehring
(Walter Mehring: Keine „Drugstore-Amerikaner“; in: Der Monat, Heft 52/5. Jg. vom Januar 1953; S. 459. )
An Louis B. Mayer Pacific Palisades, California
740 Amalfi Drive
[Oktober 1941]
Dear Mr. Mayer:
Es ist nicht meine Gewohnheit, mich in Angelegenheiten einzumischen, die mich nicht unmittelbar angehen; dennoch möchte ich mir die Freiheit nehmen, Ihnen eine Sache, die mir am Herzen liegt, und mir, wie vielen anderen wohlwollenden Leuten Sorge macht, vertrauensvoll vorzutragen.
Es war eines cler schönsten und verdienstlichsten Vorkommnisse während der letzten turbulenten und so viel Leben und Glück zerstörenden Jahre, ein Vorkommnis, das gewiß niemals vergessen werden wircl, wenn man die phantastische Geschichte der Auswanderung cler europäischen Kultur erzählt, daß zwei große Filmgesellschaften in Hollywood sich entschlossen, einer Reihe von deutschen und österreichischen Schriftstellern Notverträge zu geben, die diese Männer nicht nur in den Stand setzten, in die Vereinigten Staaten einzuwandern, sondern ihnen auch, wenigstens für eine gewisse Frist, die Grundlage ihrer Existenz sicherten. Der Übersichtlichkeit wegen setze ich Ihnen hier die Namen der fünf Autoren auf, deren sich M.G. M. in so generöser Weise angenommen hat, und füge die Anfangs- und Enddaten ihrer Verträge hinzu.
Alfred Döblin 8. Oktober 1940 – 7. Oktober 1941
Alfred Polgar 24. Oktober 1940 – 23. Oktober 1941
Hans Lustig 10. Dezember 1940 ~ 9. Dezember 1941
Wilhelm Speyer 1o. März 1940 – 9. März 1942
Walter Mehring 5. April 1941 ~ 4. April 1942
Vielleicht darf man sagen, daß der Vorteil des Abkommens zwischen M.G.M. und diesen Schriftstellern nicht ganz allein auf Seiten der Letzteren war. Tatsächlich kann man nicht nur von einem gewissen ideologischen Gewinn sprechen, den die Firma dadurch hatte, daß sie diese angesehenen europäischen Namen mit dem ihren verband, sondern auch rein praktisch ist zum Mindesten in mehreren Fällen ein entschiedener Nutzen für die Studios der M. G. M. zu buchen.
Man versichert mir. daß zum Beispiel. Hans Lustig sich als ein wirklich wertvoller Writer erwiesen hat, und ich weiß, daß Gottfried Reinhardt und Sam Berman Alfred Polgar sehr warm empfehlen und zwar auf Grund seiner besonderen dialogischen Begabung, die er speziell bei der Mitarbeit am letzten Garbo-Film bewährte.
Was Döblin betrifft, so hat cr soeben eine story eingereicht, die bei Mr. Keneth McKenna großes Gefallen gefunden hat. Es ist Döblin ein American „Junior“ Writer zur Seite gegeben worden, um seine story zu entwickeln. Auch in diesem Fall also hat sich bereits der Wert des Engagements für die Firma erwiesen.
Ich erwähne diese Dinge, die Sie wahrscheinlich so gut wissen wie ich, nur, um dem Vorwurf zuvorzukomınen, der der Firma gemacht werden könnte, wenn Sie den Kontrakt mit den Refugee-Schriftstellern erneuerte: daß nämlich fruchtloses Geld nur zu humanitären Zwecken ausgegeben werde. Und damit habe ich den Wunsch und die Bitte ausgesprochen, die mich und nicht nur mich allein bewegen. Die Zukunft dieser Männer, die in Europa sich durch ihre Schriften Ansehen und Lebensunterhalt erworben haben, macht uns Sorge, und meine, unsere Bitte an Sie, dear Mr. Mayer, geht dahin, Sie möchten das ausschlaggebende Gewicht Ihres Einflusses in die Wagschale werfen, um ein Engagement der genannten Schriftsteller für ein weiteres Jahr zu bewirken. In diesem Jahr kann sich viel ändern, und aus dem Wechsel der politischen Lage können sich neue Wirkungs- und Verdienstmöglichkeiten für die Refugees ergeben. Wenn M.G.M. bis dahin die Verbindung mit ihnen aufrecht erhält, so wäre das zweifellos von jedem Gesichtspunkt aus und vor jeder Kritik zu rechtfertigen. Denn erstens ist mit Bestimmtheit zu hoffen, daß auch Schriftsteller wie Speyer und Mehring sich mit der Zeit dem Studio wertvoll zu machen wissen werden, und zweitens scheint mir keine Frage, daß das Gehalt für einen Mitarbeiter wie Hans Lustig, wenn er nicht auf einen Refugee-Vertrag gekommen wäre, sich so viel höher belaufen würde, als es tatsächlich ist, daß er für mehrere Kollegen mitaufkommt.
Ich möchte noch etwas erwähnen. Zeitweise hörte man, daß die Screen Writers Guild dem Engagement der ausländischen Autoren opposed sei. Dies hat sich als ein vollkommener Irrtum erwiesen. Mir liegt ein Schreiben des Mr. Sheridan Gibney vor, in dem er ausspricht, daß »our organization is open to Writers of all nationalities who seek employment in the motion picture industry. We welcome new talent which scrves to enrich the industry and would consider it highly improper if the Guild should discourage the employment of any of its members for other than lawful or contractual reasons.«
Lassen Sie mich zusaniınenfassen: durch Ihr Eintreten für ein Wiederengagement der Refugee Writer würden Sie Männern einen unschätzbaren Dienst leisten, die im Kulturleben unserer Zeit eine ehrenvolle Rolle gespielt haben und mutmaßlich wieder werden spielen können, wenn man ihnen über diese kritische Zeit hinweghilft, und ich würde den Entschluß dazu sowohl für menschlich schön und dankenswert, als auch für klug halten. Denn das Wenigste, was man sagen kann, ist, daß er der Gesellschaft nicht zum Schaden gereichen würde.
Verzeihen Sie mir den Freimut dieser Worte, aber ich hielt es für meine Pflicht, für diese gefährdeten Kollegen mich einzusetzen und sie Ihrem weitbekannten Wohlwollen zu empfehlen.
Ihr sehr ergebener
Thomas Mann
Ich wäre jederzeit bereit Sie zusanımcn mit Mrs. Dieterle, die sich dieser Sache annimmt , aufzusuchen, wenn Ihnen an einer mündlichen Besprechung gelegen ist.
(Thomas Mann: Briefe 1937 – 1947; Frankfurt (Main): S. Fischer 1963, S.211 ff.)
Anthony Heilbut, der Sohn emigrierter deutscher Eltern, hat 1983 eine große Monografie über die Emigration in die USA vorgelegt. In ihr bespricht er auch „Die verlorene Bibliothek“. Zwar stimmen nicht alle Fakten. So war Richard Huelsenbeck Herausgeber des Dada-Almanach von 1920. Er ist also nicht Walter Mehrings Buch, auch wenn Mehring Texte beisteuerte. Dennoch ist der Auszug aus dem 480 Seiten starken Taschenbuch lesenswert, weil er den Blick auf Mehring nicht mit der rein deutschen Brille wirft. Und in einem Jahr, in dem „Die verlorene Bibliothek“ neu im Elster-Verlag aufgelegt wurde, sind solche Fundstellen umso lesenswerter. (A.O.)
Den vielleicht wehmütigsten Abgesang auf die Emigrantenkultur stimmte unerwarteterweise Walter Mehring an. Im Unterschied zu den anderen Schriftstellern war er ein echter Berliner, dort geboren und Sohn des Zeitungsverlegers Franz Mehring, der einst Rosa Luxemburg unterstützt hatte [Mehrings Vater war Sigmar Mehring. Der Fehler steht so in Heilbuts Text.]. Sein kulturelles Debüt hatte Walter Mehring im Alter von zweiundzwanzig Jahren gegeben, als er zusammen mit seinem Freund George Grosz eine Dada-Matinee auf die Bühne brachte. Höhepunkt der Show war ein Wettrennen zwischen einer Nähmaschine und einer Schreibmaschine. Zwei Jahre später erschien, illustriert von George Grosz und verlegt von Wieland Herzfelde, sein Dada-Almanach von 1920. Mehrings Gedichte erinnern an Pop-Lyrik („Berlin, dein Tänzer ist der Tod – Foxtrott und Jazz -„), und das Kabarett war ihr Forum. Als Berlins führender Kabarett-Dichter fand Mehring bald Eingang in die Kreise um Brecht, Grosz und Reinhardt. Lange vor der überschätzten, unausgegorenen Pop-Poesie der sechziger Jahre schuf Mehring etwas wirklich Neues, verflocht Töne und Bilder zu Rhythmen seiner Stadt – ein Foxtrott am Rande des Abgrunds.
Mehrings Talent war nicht nur, wie Grosz vermerkte, beseelt von François Villon und Heine, sondern auch von anderen, überraschend literarischen Vorbildern. Der französische Vaganten-Dichter und der frankophile deutsche Jude waren in der Tat angemessene geistige Ahnen. Mehring selbst verbrachte die zwanziger Jahre zum großen Teil in Paris. Tucholsky pries ihn als den ersten, der Berlin so sehe, wie die Welt gewöhnt sei, Paris zu sehen. Anfang der dreißiger Jahre wollten die Nazis ihn verhaften. Sie fanden ihn wie gewöhnlich in einem Café, doch Mehring gab vor, nicht er selbst zu sein, entkam seinen Häschern und kehrte nach Paris zurück. Dort verlebte er die dreißiger Jahre inmitten seiner Mitexilanten, und der Galgenhumor, mit dem er sie unterhielt, ließ auch den alten Berliner Kabarett-Geist überleben. Während dieser Zeit entfremdete er sich zunehmend seinen marxistischen Freunden, die ihre Ideologie je nach Weisung Moskaus änderten. Der loyale Kommunist
Wieland Herzfelde hat Mehring die Abwendung von der Sowjetunion nie verziehen und warf ihm vor, deren Krieg mit Finnland (1939) ganz einfach mißverstanden zu haben. In einem Brief, den er Mehring zum fünfzigsten Geburtstag schrieb, nannte er ihn einen „bastard“.
Aus Frankreich entkam Mehring über Marseille und erreichte 1941 die USA. Er verbrachte die übliche unerfreuliche Zeit in Hollywood und ging dann nach New York, wo auch seine alte Freundin Hertha Pauli und ehemalige Dadaisten-Kollegen wie Huelsenbeck, Grosz und Herzfelde lebten. 1944 erschien eine Sammlung seiner Gedichte, illustriert von George Grosz und übersetzt von einem linken amerikanischen Freund Erwin Piscators. Vorübergehend arbeitete Mehring auch für die Propaganda-Abteilung des Office of Strategic Service und brachte sich später als Arbeiter in einer Fabrik auf Long Island durch.
1951 veröffentlichte er The Lost Library: Autobiography of a Culture, das er zum Teil auf der Tabakfarm eines Pazifisten und Jazzmusikers in New England geschrieben hatte. Wer hätte solch ein Buch von ihm erwartet? Mehring gedenkt der Berliner Bibliothek seines Vaters und bekennt sich damit zu der gelehrten humanistischen Tradition, der er entstammte und die er mit seinem eigenen populären Stil einst schmähte. Aber irgendwie brachte die amerikanische Umgebung eine Annäherung zwischen Vater und Sohn, hoher Kultur und Kabarett. Mehring beschwört die Tradition mit jenem echten Berliner Ton, keck, dicht und sehr smart. Wenn er will, weiß er mit literarischer Mimesis so sorgsam umzugehen wie Erich Auerbach. Doch öfter noch ist er von ganz erdgebundener Respektlosigkeit: Marx ist ein unlesbarer alter Langeweiler, Nietzsche und Schopenhauer hat die Syphilis den Verstand geraubt. Mit Melancholie hat er als typischer Emigrant nichts im Sinn. Gegen den Kummer über die verlorene Bibliothek empfiehlt er gute Laune und guten Sex, nicht ein besseres Buch, sondern einen besseren Orgasmus.
Doch trotz seines smarten Tons ist es kein glückliches Buch, und am traurigsten ist es da, wo Mehring in literarischen Schätzen schwelgt und zugleich erkennt, wie nichtig und ohne Wert sie in der gegenwärtigen Zeit waren. Als Kabarettdichter und -komponist verstand Mehring sich auf sprachliche Rhythmen. Er sah, daß sich eine Veränderung der Wirklichkeit in der Grammatik widerspiegeln kann, noch bevor die Betroffenen sie wahrnehmen. Sprache vermag nicht viel, aber sie kann den Leser auf das vorbereiten, was in der Zukunft auf ihn wartet. Davon war Mehring überzeugt, und darum nahm er auch gegen Gide Partei für Proust. Gide hatte dem Jüngeren „willkürliche Behandlung der Zeiten“ und „verschwenderischen Mißbrauch des Subjunctivs“ vorgeworfen. Gide, so Mehring, sah nicht, daß Proust der Grammatik und der Syntax von Weissagung und prophetischen Träumen folgte und daß sein Subjunctiv der „Subjunctiv des Zweifels“ war. Dieser letzte glänzende Gedanke ist nicht nur gültig für die Ereignisse in Prousts Roman, er trifft auch das Emigrantenleben, denn im Bewußtsein vergangenen Verrats und Betrugs – „der Korruption aller Bindungen“ – weckte jeder erfüllte Wunsch Argwohn. Der Subjunctiv des Zweifels mißbilligte sehnendes Verlangen und gestattete eine schützende Distanz zu der inneren Gewißheit, daß unsere Hoffnungen entweder banal oder zum Scheitern verurteilt sind.
Die Bibliothek ist verloren. Die Weisheit, die sie enthielt, ist verstreut in Zeit und Raum, unendlich weit entfernt von einer New-England-Farm des Jahres 1950. „All diese Dinge existieren nur noch im Plusquamperfekt oder in einem passé defini“: Die Angelegenheit hat ihre grammatische Form gefunden und ist damit erledigt. Kundig zu lesen sei des Emigranten größtes Talent, schreibt Mehring, doch gibt er zu, daß die Besinnung auf Vergangenes ein müßiges Unterfangen sei, obwohl doch sein Buch beweist, daß es gerade jene Besinnung war, die den Emigranten half, durchzuhalten. Was bleibt? Was hat noch Sinn? Politisches Engagement jedenfalls nicht, wenn es nach Mehring geht. Am besten ist es noch, nach „Korrektur seiner selbst“ zu streben: ein Rückzug oder Ausweg, der nicht weniger in die Enge führt als der Weg von Berlin auf eine Tabakfarm. Das Nächstbeste ist die Fähigkeit, andere zu unterhalten. In einer letzten Berliner Posse verrät man seine ernsthafte Seite und zieht sich auf die Komödie zurück. Einen Galgenhumoristen hängt man nicht: Die Emigration hat ihn gelehrt, daß es sich auszahlt, sein Innerstes zu verbergen.
(Anthony Heilbut: Kultur ohne Heimat – Deutsche Emigranten in den USA nach 1930; Reinbek: rororo 1991; S. 281-283).