Offenbach-Schändungen
Gesprochen in Berlin am 15. Dezember
Dem ersten Vortrag von Offenbachs und meinem Vert-Vert, den Sie hier am 8. Januar und am 14. durch den Rundfunk hören können, war das Folgende vorangeschickt:
Kein Zeitstück! Ein toter Papagei wird begraben und erhält seinen Nachfolger. Es geht nichts vor, es geht uns nichts an, aber es ist schön. Schöner als die »Schöne Helena« des Offenbach-Schänders Reinhardt, die Herrn Lunatscharsky entzückt hat, der mich schon gar nichts angeht. Nicht weil er ein Kommunist ist, sondern weil er kein Kommunist ist. Um »Hoffmanns Erzählungen«, die spannender sind als die seinen, umzubringen, war soeben in Berlin der folgende Apparat aufgeboten:
– – 973 Personen sind in emsiger Tätigkeit, um die Zauberwelt der Offenbachschen Oper lebendig zu machen. Numero 1 (natürlich I), der Regisseur Max Reinhardt persönlich. Dann die beiden Kapellmeister Leo Blech und Manfred Gurlitt. Reinhardts oberster Helfer Dr. Hock, dann Direktor Gerner. Des weiteren arbeiten zwölf Musikassistenten, 75 Orchestermitglieder, 35 Solisten, der Choreograph Dolin, 112 Tänzer und Tänzerinnen, Chorsänger und -Sängerinnen. 56 Komparsen, der technische Leiter Dworsky, acht Bühnenmeister, zehn Inspizienten, 14 Requisiteure, 36 Beleuchter, 48 Bühnenarbeiter, 25 Stukkateure, 93 Mann Garderobepersonal für die Bühne, 84 für den Zuschauerraum, 120 Arbeiterinnen in den Werkstätten. 23 Bureaukräfte und nicht weniger als elf Portiers.
Ein Kollektiv, das Herrn Lunatscharsky begeistern dürfte. So etwas werde ich heute nicht brauchen. Außer mir habe ich meinen ausgezeichneten Begleiter. Wie viel Garderobepersonal mitwirkt, weiß ich nicht. Ein Portier genügt.
Ich habe mir den Dreck angesehen, hinter dessen glänzender Fassade, wie wir inzwischen erfahren haben, die überwiegende Mehrzahl der Mitwirkenden Hungerlöhne bezieht, die man ihnen schuldig bleibt. Hoffentlich sind von meinem Entree zwei Abendgagen von je 1 Mark 50 ausbezahlt worden. Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, durch den Gedanken der Offenbach-Renaissance, den ich unseliger Weise in die deutsche Theaterwelt gesetzt habe, etliche längst fällige Pleiten abzuwenden. In einem Punkte muß ich meine Ansicht revidieren. Nach der »Schönen Helena«, die ich während meines letzten Berliner Aufenthaltes erschüttert mitgemacht habe — mit Selbstbeherrschung, denn ich hätte leicht von der ersten Reihe auf die Bühne springen können —, nach der »Schönen Helena« faßte ich die Meinung, daß nicht nur meine Idee mißbraucht sei, sondern auch ein Epigone Steinmeiers am Werke, und ich dachte, daß dieser Meister der Kunst, dürftig bekleidete Mädchen ohne Weinzwang in verschiedener Beleuchtung zu gruppieren, als Regisseur ein Dingelstedt gegen Herrn Reinhardt sei und trotzdem noch nicht einmal Ehrendoktor von Frankfurt an der Oder. Ich muß nach »Hoffmanns Erzählungen«, die in weit größeren Dimensionen gehalten sind, mein Vorurteil revidieren, da ich den starken Eindruck nicht verleugnen kann, den sowohl das Bild der hereinströmenden Gäste Spalanzanis wie der in Lebensgröße sich drehende Palazzo auf mich gemacht hat. Das vermöchte Steinmeier denn doch nicht, während Nörgler behaupten, was ich aber aus eigener Wahrnehmung nicht bestätigen kann, daß Charell noch mehr vermag. Was nun das Weiße Rössel betrifft, so ist es tatsächlich auf der Szene des Großen Schauspielhauses für Hoffmanns Erzählungen zurückgeblieben, und es füllt, vor eine echte altberliner Droschke gespannt, das ganze Vorspiel aus. Auf dem Bock spricht ein Kutscher den Text des Kulturhistorikers Friedell und des Heimwehrjournalisten Saßmann, einen Text, der die uns so vertrauten mysteriösen Vorgänge erklären soll und leider verständlich ist. Was nun die Regie betrifft, die hier vor der eigentlichen Prachtentfaltung ihr Werk verrichtet, so kann ich sagen, daß ich in meiner langjährigen Laufbahn als Zuschauer nie etwas Theaterwidrigeres gesehen habe, indem ich doch der Meinung bin, daß man einen Gaul, selbst wenn er einem geschenkt wird, nicht durch einen Gaul darstellen lassen kann, der eine halbe Stunde lang auf der Szene steht, er verdorrt wie das echte Gras im Sommernachtstraum und erweckt höchstens die Spannung, ob er nicht das tun wird, was sich in einem Fall von Offenbach-Schändung gebühren würde. Wenn dieser Spuk zerstoben ist, hat Reinhardt Gelegenheit, seine im Umkreis von Bistümern genährte Prunkliebe zu entfalten und dem Auge alles zu bieten, was sich im Sonnenspektrum tut. Er bevorzugt Blau. Gleichwohl läßt sich nicht leugnen, daß man bei einem Schaugericht, wie es vielleicht seit dem Gastmahl des seligen Trimalchio nicht geboten wurde, ebenso ungesättigt bleibt wie die armen Komparsen, die daran mitwirken. Denn rein theatermäßig kommt man so gut wie gar nicht auf seine Kosten. Von der Schändung der Musik abgesehen — und ein Musiker wie Herr Blech hat sich dazu bereit gefunden, das einzigartige Motiv des Gästechors von einem uninteressanten Komiker vorwegnehmen, den einzigartigen Flüsterchor um Olympia von einer Armee von Automaten nachklappern und zerhacken zu lassen, und vor dem Antonia-Akt gar einem Angehörigen der Familie Thimig etwas aus der »Schwätzerin von Saragossa« in den Mund zu legen — also von der vielfachen Malträtierung der Musik abgesehen, ist die völlige Unzulänglichkeit der Regie gerade an diesem relativ unverstümmelten Antonia-Akt feststellbar, welcher selbst für solche, die nicht die Herrlichkeit Gustav Mahlers im Gedächtnis bewahren, eine Armut zur Schau trägt, deren sich jede mittlere städtische Oper schämen würde. Der Mann, der sich selbst den Spitznamen eines Zauberers beilegt und sich als solchen in einem Atem mit Offenbach in seinem Programmheft betiteln läßt, mag über Künste verfügen, die manchem Warenhaus, das die Kundschaft durch Befriedigung der Schaulust herankriegen will, zur höchsten Ehre gereichen würden — vom Theater als solchem hat er auch nicht die geringste Ahnung. Regie ist als Förderung oder Ersatz des schauspielerischen Naturells heute leider unentbehrlich; lästig in sämtlichen Spielarten, die es nun von Reinhardt bis zu Piscator gibt, als Ersatz jenes Ersatzes: durch irgendwelche Zugkraft außerhalb des theatralischen Elements. Aber da sich der faule Zauberer in seinem Programmheft nicht nur die Blutsverwandtschaft mit Offenbach, von dem er keinen Ton im Ohr hat, bestätigen läßt, sondern auch einer speziellen Beziehung zur Geister- und Geisteswelt E. T. A. Hoffmanns berühmt, so sei ihm dessen eigene Antwort nicht vorenthalten. In dieser mirakulösen Sphäre ist es schon möglich, daß Hoffmann selbst, von den Reklamechefs des Herrn Reinhardt aus dem Grabe gelockt, sich die Vorstellung angesehen hat. Man muß es glauben, denn er hat dem Herrn Reinhardt das verlorene Spiegelbild, mit dem so viel szenisches Aufheben gemacht wird, wie folgt zurückerstattet:
Die Dekoration zog aller Augen auf sich, aber die Szene ging kalt und nüchtern vorüber und die heimliche Liebesglut … konnte nicht emporkommen, konnte keines Brust erwärmen. Ich klagte dies einem einsichtsvollen Freunde, der ohne viel Worte zu machen immer den rechten Punkt zu treffen pflegt. Er erwiderte nichts als: »Ei wie konnte das anders sein, alle Glut mußte sich ja verkühlen in der Nähe so vielen kalten Marmors.« Ich glaubte ihn zu verstehen …. Die getreue Nachahmung der Natur, soweit es möglich, diene dem Theatermaler nicht zur Ostentation, sondern nur dazu, um jene höhere Illusion hervorzubringen, die mit dem Moment der Handlung sich selbst in der Brust des Zuschauers erzeugt. Jene falsche Tendenz, durch große Massen zu wirken, das kindische Gepränge mit einer Menge Statisten, die in glänzenden Kleidern sich ungeschickt bewegen und alle Harmonie zerstören, mit dem endlosen Einerlei nichtssagender Ballette, hat auch das Bedürfnis der großen, vorzüglich der über Gebühr tiefen Theater erzeugt, die der dramatischen Wirkung durchaus entgegen sind. Auf unsern übergroßen Bühnen verliert sich, wie Tieck mit Recht behauptet, der Schauspieler wie ein Miniaturbildchen in einem ungeheuern Rahmen.
… Tieck hat im zweiten Bande des Phantasus über den Nachteil der großen, übermäßig tiefen Bühnen ein paar herrliche wahre Worte gesagt, auf die ich mich beziehen darf. Lassen Sie mich aber aus dem Kopfe, so gut es gehen mag, dessen erwähnen, was ein alter Meister des Gesanges, der zugleich ein tüchtiger, gewiegter Kenner des Theaters war, Gretry, in seinen Mémoires, ou Essais sur la musique darüber sagt:
»Man baut und verlangt jetzt unaufhörlich große Schauspielhäuser. Hätte ich eins einzurichten, ich spräche zu meinem Bau- meister: Bedenken Sie doch, daß es hier nicht darauf abgesehen ist, ein Monument aufzustellen, das ins Auge falle und durch den Anblick großen Effekt mache! Die Hauptsache ist, daß man alles, was auf der Bühne gesprochen und gesungen wird, vollkommen vernehme. Wenn ich in Ihrem weitläufigen Gebäude nicht die sanfteste Musik, nicht die Stimme einer Frau, eines Kindes verstehen kann; wenn ich von den Versen des Dichters, wo ich keine Silbe verlieren möchte, die Hälfte einbüße: was nützt da Ihr großes Haus? Ich verlange also: das Haus sei gebauet, wie es dem Gesicht und dem Gehör, nicht eines Menschen, der besonders scharf siehet und hört, sondern dem Durchschnitt der Zuschauer angemessen ist … Oder will man durchaus ein Haus ins ganz Große anlegen: so bestimme man es aus- schließlich für Pantomimen und Balletts im großen Charakter, für Spektakelstücke und für die heroische tragische Oper. Ein großes Theater fordert große Massen, große Züge. Alles andere muß genau gesehen und gehört, muß folglich von einem solchen ausgeschlossen werden. Wie dies mit der Rezitation des Schauspiels ist, so ist es mit dem Gesang der Oper: in der Aktion bleibt es für beide ohnehin dasselbe. Was die Musik anlangt, so kann der Komponist, und dann der Sänger, ja auch das Orchester nur durch tausend Schattierungen von Schwach zu Stark, durch tausend anmutige kleine Züge, kleine Noten und Nebenfiguren, Verzierungen der Melodie, kleine Soli eines Instruments und der- gleichen die gefälligen Details einer gemäßigten Handlung und Situation ausdrücken. Alles dies, was in kleinem Bezirk so viel wert ist und so viel wirkt, geht im großen verloren: man hört’s nicht oder nur halb, sowohl des Hauses, als des bei großer Menge unabwendbaren, öftern Geräusches wegen; und wenn man’s hörte, so tut’s keine rechte Wirkung, weil es nicht in Übereinstimmung steht mit dem Ganzen ….«
Ich vermute, daß E. T. A. Hoffmann, der in dem Buch »Seltsame Leiden eines Theaterdirektors« sich so mit dem Zauberer auseinandersetzt, seine Erzählungen im zweiten Rang auf dem leeren Platz neben mir sich angehört hat. Wir haben schlecht gehört, von der Musik eben noch, daß sie vielfach besudelt war. Immerhin habe ich mit dem Opernglas, das mir während des Antonia-Akts — trotz der Anmut der Jarmila Novotna — im Schlaf aus der Hand fiel, im Giulietta-Akt allerlei wahrnehmen können. So, daß sich viele orgiastisch gestimmte Personen, die bei Offenbach nicht vorkommen, von Zeit zu Zeit auf der Szene tummeln und daß als Krönung des Ganzen ein Geschlechtsakt auf der Silberplatte serviert wird. Sicherlich, wenn Reinmeier diese Saite aufzieht, dann sind die letzten Unterschiede zwischen spätrömischer Cäsarenwelt und Kurfürstendamm verwischt und der Zuschauer wird zum Voyeur. Der alte Lebemann, von dem die Anekdote erzählt, daß er bei der Entkleidungsszene der sich zu Bett begebenden Pariserin dem im spannendsten Moment nieder- gehenden Vorhang beschwörend Halt gebot (Geste) — der hat bei Reinhardt keine Enttäuschung zu befürchten, da es hier keinen Schwindel gibt, sondern die nackte Wirklichkeit geboten wird. Ich konnte auch wahrnehmen, wie nach getanem Werk im Turnus zuerst die Opernkräfte vor den Vorhang traten, um sich mit Unrecht für den Beifall zu bedanken, und nach ihnen die Ballettkräfte, voran Fräulein La Jana, deren Schönheit allgemein gewürdigt wird, nicht zu erkennen, weil total verhüllt; aber das sollte keine Enttäuschung sein, sondern eine Überraschung vorbereiten, denn jedesmal vor dem Abtreten öffnete sie noch einmal: zum Zweck der Agnoszierung. In solchen Augenblicken versteht unsereins, auf Grund welcher Verdienste man Ehrendoktor der Philosophie wird. Was die musikalische Zurichtung anlangt, von der es in den Blättern hieß, Herr Blech habe »kämpfen« müssen, um nur mit knapper Not den Antonia-Akt zu retten, so ward von jener Presse, zu deren Gunsten die Premiere stattfand, damit die Premiere zu Gunsten des Herrn Reinhardt stattfinde, und die gleichwohl kein Hehl daraus machte, es gehe diesmal auf Leben und Tod — so ward also die Parole ausgegeben: Man darf schänden. Denn warum? »Hoffmanns Erzählungen« waren sowieso »in unfertigem Zustand«, als Offenbach starb:
weiß der Himmel, das ist kein unantastbares Erbgut der Kunst. Wer hier den Kunstpharisäer spielen wollte, der würde sich mächtig blamieren — und man könnte ihm seine Blamage akten- mäßig nachweisen.
So schrieb der Einstein, der die Relativitätstheorie für die Musikkritik gefunden hat, und er gewann diese Sicherheit aus der unleugbaren Tatsache, daß Offenbach »Hoffmanns Erzählungen« nicht mehr instrumentiert hat, sondern nach seinem Tode Monsieur Giraud. Solches hatte aber Offenbach auch schon bei Lebzeiten manchmal unterlassen, und Einstein, der so dringend vor einer Blamage warnte, die gegebenenfalls aktenmäßig nachzuweisen wäre, schrieb:
Kein Mensch weiß, wer eigentlich, ob Offenbach selbst oder ein anderer, etwa Mr. Ernest Giraud, die Spiegelarie geschrieben hat ….
Herr Einstein weiß als Professor der Musikgeschichte allerlei vom Hörensagen, aber was der Himmel nicht weiß, weiß doch manchmal ein Mensch. Denn was tut Gott, nämlich der in Frankreich, von dessen Himmel in Berlin das Blaue heruntergelogen wird, wenn es gilt, dem Reinhardt auf die Beine zu helfen? An dem Tag, an dem Herr Einstein es drucken ließ, überraschte mich mein Begleiter, der mir die allerverschollenste und allerschönste Partitur (Le voyage dans la lune) vorspielte — das ist die nächste, die ich Blaubart mir erwähle —, mit der Entdeckung, daß in der Ouverture, aus dem Jahre 1875, fünf Jahre vor Offenbachs Tod, die Spiegelarie enthalten sei, ganz so wie die Barkarole schon in den »Rheinnixen«. Was ich aber nicht weiß, ist, ob Offenbach auch bei Lebzeiten den Mr. Giraud mitkomponieren ließ und wie sich Herr Einstein anders den aktenmäßigen Nachweis einer Blamage denkt. Was nun mich und mein bereits stadtbekanntes Verhältnis zu dieser Musik betrifft, so hat E. T. A. Hoffmann auch darüber geurteilt; obschon anders als die Schreiber, die, sooft ein Theaterhändler Offenbach schändet, die tintige Pranke gegen mich erheben, weil ich ihn zu Ehren bringe. Denn meinen Wortdienst am Offenbachschen Rhythmus verhöhnen sie als »brave und biedere Mühe«, als den »blutigen Ernst eines satirischen Schriftstellers«, der sich mit den so belanglosen Herren Meilhac und Halévy »philologisch auseinandersetzt«, was zum Glück ein flotter Bursche wie dieser Walter Mehring nicht getan habe, dem dafür auch so hübsche neue Liedertexte gelungen seien. Davon wollen wir uns später unterhalten. Wenn diese Gesellschaft eine Ahnung hätte, welch ein rein poetischer Aufwand — selbst George, Hofmannsthal, Rilke und sogar dem Werfel unerreichbar — dazu gehört, in dreifacher Sprachgebundenheit — an den Vers, an den Text und an die Musik — eben dieser zu neuer und doch alter Paarung zu verhelfen und wie noch das Problem der Interpunktion für den musikalischen Ausdruck eine Bedeutung gewinnt, vor der alles Schreiberhandwerk zu Schanden wird: dann würden sie dieses aufgeben, bevor sie die Lust anwandelte, frech zu werden! Ich lese keine Noten, aber ich verstehe sie weiß Gott besser als jene das Alphabet, welches ihnen eben noch ermöglicht, das Wort Philologie unmißverständlich hinzuschreiben. E. T. A. Hoffmann sagt also dazu in den »Serapionsbrüdern«:
Wenn du unter musikalischen Kenntnissen die sogenannte Schule der Musik verstehst, so bedarf es deren nicht, um richtig über das Bedürfnis des Komponisten zu urteilen: denn ohne diese kann man das Wesen der Musik so erkannt haben, und so in sich tragen, daß man in dieser Hinsicht ein viel besserer Musiker ist als der, der im Schweiße seines Angesichts die ganze Schule in ihren mannigfachen Irrgängen durcharbeitend, die tote Regel, wie den selbstgeschnitzten Fetisch, als den lebendigen Geist verherrlicht und den dieser Götzendienst um die Seligkeit des höhern Reichs bringt. »Und du meinst, daß der Dichter in jenes wahre Wesen der Musik eindringe, ohne daß ihm die Schule jene niedrigern Weihen erteilt hat?«
Allerdings! — Ja, in jenem fernen Reiche, das uns oft in seltsamen Ahnungen umfängt, und aus dem wunderbare Stimmen zu uns herabtönen und alle die Laute wecken, die in der beengten Brust schliefen, und die nun erwacht, wie in feurigen Strahlen freudig und froh heraufschießen, so daß wir der Seligkeit jenes Paradieses teilhaftig werden — da sind Dichter und Musiker die innigst verwandten Glieder einer Kirche: denn das Geheimnis des Worts und des Tons ist ein und dasselbe, das ihnen die höchste Weihe erschlossen.
Ich glaube nun wahrhaftig nicht, daß der Herr Mehring, einer jener Satiriker zur linken Hand, mit dem ich nicht gemeinsam dem gemeinsamen Feind gegenüberstehen möchte, einer der kleinen Nachsatiriker der Letzten Tage der Menschheit, die heute schon von sämtlichen deutschen Literaten sind außer von mir — ich glaube nicht, daß er um dieses Geheimnis der Verbindung von Wort und Ton etwas weiß, geschweige denn, daß er beseligt darin lebt. Ich glaube nur, daß er einem inneren Auftrag gehorcht hat, der von Herrn Karlheinz Martin an ihn erging, die Großherzogin von Gerolstein zu bearbeiten. Ich habe den ganzen letzten Sonntag mit doppelten Unkosten in der Volksbühne zugebracht. Mittags kaufte ich mir einen Galerieplatz zu den »Unüberwindlichen«, den mich der Kassier, wie ich leider erst später bemerkte, zu dem Abendpreis der »Großherzogin von Gerolstein« bezahlen ließ, so daß ich Herrn Mehrings Tantiemen statt der meinen vermehren konnte, die doch für einen wohltätigen Zweck bestimmt waren. Von den »Unüberwindlichen«, die zur Gänze von mir sind, will ich heute nicht sprechen, es handelt sich um einen Prozeßakt, der vielleicht noch nicht mit dem vierten Akt zu Ende ist, wiewohl dieser jetzt mit meinen eigenen Strichen gespielt werden mußte, statt mit den heimlichen, die schließlich zu einem Strich durch die Rechnung der Volksbühne geworden sind. Von dem Versuch, das ganze Werk aus dem Repertoire zu streichen, von diesem krassesten Fall des Waltens einer Geheimzensur der Freiheitspartei, von diesem noch nie erlebten Handel politischer Schieber und Schober, von diesem Pakt mit einer österreichischen Gesandtschaft, von dieser in der Theatergeschichte noch nicht vorgekommenen Strangulierung eines Erfolges unter der Duldung oder Assistenz derer, die ihn bestätigt hatten, will ich heute nicht sprechen. Ich möchte nur feststellen, daß die Wahrnehmung des Herrn vom Berliner Tageblatt:
Zum Schluß durfte der Autor sich zeigen
auf einer Halluzination beruht. Möglicherweise hat er mich mit dem Darsteller des Schober verwechselt, der ja als Johannes der Täuscher vielleicht die magische Kraft hat, auch meine Gestalt vorzuspiegeln, wiewohl ich mich doch von ihm durch meine Barttracht sichtlich unterscheide. Es ist allerdings richtig, daß sich der Autor am Schluß zeigen durfte, nur müßte auch hinzugesetzt werden, daß er nicht wollte. Er macht alles, nur persönlich kann er, wenigstens auf den Brettern der Volksbühne, nicht hervortreten, und zwar sowohl weil er der Autor der »Unüberwindlichen« ist, dem die Hervorrufe galten, wie weil er die Großherzogin von Gerolstein liebt und nicht minder auch den Lumpazivagabundus. Aus dem gleichen Grunde ist aber auch eine Bemerkung des Lokalanzeigers zurückzuweisen. Der Lokalanzeiger ist jenes Parteiorgan, auf dessen abfälliges Urteil über die »Unüberwindlichen« sich der Anwalt der sozialdemokratischen Volksbühne mit echtem Pathos vor dem sogenannten Kadi berufen hat. Ein deutsch-völkisches Blatt ist nicht dazu da, Sympathien für mich zu verbreiten, aber ich muß zugeben, daß dergleichen doch moralisch über der freiheitlichen Region steht, in der man sich zur Rechtfertigung eines Gewaltaktes auf die deutschvölkische Presse beruft! Der Lokalanzeiger hat also ein durchaus sachliches Referat über die Neuaufführung der »Unüberwindlichen« gebracht, worin freilich von einem »Kampf gegen den Wiener Verleger Békessy« die Rede ist, der in Berlin wenig interessiere. Das mag daher kommen, daß der Verleger Békessy — er ist eigentlich schon ein Schwerverleger — dem Verleger Hugenberg etliche Schriftleiter hinterlassen hat, die ehedem vom Solde des Erpressers bezahlt wurden. Wie immer dem sei, der Lokalanzeiger, der mich sonst mit Recht nicht schmecken kann, reklamierte:
Warum hat die Volksbühne Walter Mehring vor Karl Kraus den Vorzug gegeben, der sich mit großem Eifer und größerem Verständnis um eine Offenbach-Renaissance bemüht?
Wo der Lokalanzeiger recht hat, hat er recht, nur gliche die Antwort dem Ei des Columbus. Die Volksbühne hat mir nicht den Vorzug vor dem Walter Mehring gegeben, weil sie gewußt hat, daß ich ihn ihr zurückgeben und sie ersuchen würde, ihn dem Walter Mehring zu geben, wenn es denn schon unerläßlich wäre, die »Großherzogin von Gerolstein« für die Volksbühne zu bearbeiten. Es ist gar nicht so einfach, wie sich das der Lokalanzeiger vorstellt: mir den Vorzug zu geben. Es kann vorkommen, daß ich ihn refüsiere und ein Stück von mir, das eine Theaterdirektion annimmt, ihr ablehne. Ich habe mich geweigert, mich von Herrn Reinhardt wie von Herrn Piscator, die die Letzten Tage der Menschheit aufführen wollten, auf die Mitwelt bringen zu lassen. Daher offenbar meine Animosität. Man ver-mutet, daß ich es auf alle anderen Offenbach-Bearbeiter so scharf habe, weil ich wünsche, daß die Bühnen meine Offenbach-Bearbeitungen spielen. Das wäre ja ein ganz begreiflicher Wunsch, weil doch meine Bearbeitungen besser sind. Aber ein Eigenbrötler wie ich bin, falle ich den Theaterdirektoren in den Arm, wenn sie zulangen wollen, und mache ihnen — wie zum Beispiel jetzt der Städtischen Oper mit der Madame l’Archiduc — die größten Schwierigkeiten, sobald sie durch einen Bühnenvertrieb, dem nun einmal etliche Bearbeitungen anvertraut wurden, eine erwerben. So zwinge ich sie eigentlich, den Dreck aufzuführen, gegen den ich dann eine Strafexpedition in Form des Vortrags unternehme. (Die Rehabilitierung der »Großherzogin von Gerolstein« wird am Jänner stattfinden!) Das sind ganz sonderbare Zusammenhänge. Schober würde das Wahrwort zitieren, daß selten etwas Besseres nachkommt. Das gilt für meine Theateraufführungen, und ich möchte geradezu behaupten, daß immer etwas Schlechteres nachkommt. Für schlechter als »Pariser Leben« von Scher, der die Treumannsche Übersetzung zwar ohne Quellenangabe, aber leider nur zum Teil verwendet hat, halte ich die »Großherzogin von Gerolstein« von Mehring, der bedauerlicher Weise bloß einige Verse und wesentliche Reime der anständigen Wiener Bearbeitung Julius Hopps entlehnt hat, aber sonst durchaus original (Was sich als starke Überschätzung herausgestellt hat.) verfahren ist. Den grandiosen Schlachtbericht, den er nicht übersetzen konnte, ließ er einfach weg. Wenn ich einmal dazu gelangen sollte, will ich das, was Herr Mehring für offenbachmöglich und für Verskunst hält, zitieren … Aber schließlich, ich kann ja gleich etwas pflücken. (Folgte das Zitat: Säbel — zieh hin und knebel – s. unten)). Nicht so glücklich reimt sich »zittern« auf »ergattern«, denn ich hätte eher gedacht, daß sich »zittern« auf »Blättern« reimt. Ein bekannter Kritiker, ich nenne. keinen Namen, es ist der größte Ehrenmann im ganzen Land, gibt den Mehringschen Versen den Vorzug vor der alten Übersetzung. Aber er kontrastiert sie mit der geradezu phantastischen reichsdeutschen und nicht mit der von Hopp, die dem Herrn Mehring vorgelegen hat, wie vielleicht das französische Original, dessen Feinheit — man denke nur an die theater- geschichtlich berühmte Szene des Barons Grock — Herr Mehring für Klamaukbedürfnisse zerstampft hat. Die ignorante Berliner Theaterkritik hat natürlich keine Ahnung von der ungeheuren Theaterkraft, die eben zwischen diesen Operettenfiguren waltet und insbesondere der tragischen Soubrettengestalt der Großherzogin, die einen Hans v. Bülow entzückt hat, innewohnt. »Dieses Libretto ist nur zu retten, indem man es beseitigt«, wagt einer niederzuschreiben. Und Haas (Willy, nicht Dolly), der sich mir gegenüber andauernd in einem Dilemma befindet — ich brauche dieses Fremdwort wohl nicht mehr zu übersetzen —, er rühmt, Herr Mehring habe »sich streng eingeschlossen in die Offenbach-Welt, in den Offenbach-Stil; sehr fein, sicher zu fein für das Publikum«. Für mich nicht. Ich will ihn aus der Offenbach-Welt herauslocken wie nur aus einem Dilemma. Ich habe, seitdem ich Offenbach kenne, Roheres, Offenbachwidrigeres nicht erlebt. Ein Verehrer von mir, der meinen Namen nicht nennen darf, findet, daß meine Auffassung völlig erfüllt sei: die Kulisse gebe sich in dieser Märchenwelt als Kulisse; meint wohl auch in meinem Sinne, daß die Zeitnähe der Kostüme ein wenig vom Übel sei, rühmt aber in einem Atemzug die gräßliche Einlage der Turnerparodie, zu der ein Offenbach-Motiv verulkt wird, preist den öden Spaß der Tafel »Zur Erinnerung an den Besuch der Großherzogin« als den wirksamsten Einfall und nennt die »Verwendung des Chors«, der doch in der Operette nichts als Chor zu sein hat wie eben die Kulisse Kulisse, »vorbildlich«: denn er stehe nicht wie sonst »als Kulisse zwischen Kulissen«, sondern wirke an der Handlung mit. Das geht, wie man sieht, alles in einem. Aber wie wirkt denn der Chor mit? Herr Mehring hat ein »Merkblatt von seinem Bearbeiter-Schreibtisch« ausgegeben, das ich mir merken will. »Wenn du Offenbach bearbeitest, so folge dem Rhythmus des Originals bis ins kleinste!« Herr Mehring hat leicht raten. »Versuche aber, ihn neu auszudeuten!« Das hat er allerdings getan. »Bedenke, daß auch die Figuren einer Operette aus Fleisch und Blut sind …!« Ich bedenke das gerade Gegenteil. Der Chor habe »soziale Gruppen« darzustellen. Das hat er zwar nicht zu tun, aber Herr Mehring führt es so aus, daß er die Männer als politische Demonstranten im Gehrock umherspazieren läßt und dafür die Frauen als Girls herumhupfen. »Sei frech, aber mit Charme!« Wo bleibt der Charme? »Theoretisiere nicht! Schreib!« Nein, schreib auch nicht! Doch über allem die Turnereinlage — »das Überwältigendste, was man an Ballett heute in Berlin sehen kann«, schreibt der absolute Einstein. Mich hat es so überwältigt, daß ich, mit Zischen nicht durch den Applaus dringend, ein gellendes Pfui! auf die Bühne rief. Aber das tue ich selbstverständlich nur, weil mir die Volksbühne nicht den Vorzug gegeben hat, wie ja auch schon der Herr von der Berliner Börsenzeitung meinte, ich würde mich kränken, weil Reinhardt die Herren Friedell und Saßmann statt meiner beauftragt hat. Mein alter Freund und Waffenbruder Kerr, mit dem ich so oft in Moabit zusammengetroffen bin — kürzlich ging es hoch her, ich zitierte den bekannten Titel »Der größte Schuft u. s. w.« und er ballte das Fäustchen (Geste) — also Kerr, der mir gegenüber etwas unbeherrscht ist, hat wie immer mit einer jähen Bewegung den Nagel auf den Kopf getroffen. Er rühmt von Herrn Mehring:
Er macht nicht, als Offenbachwanze, glotzend-armer Verbiesterung Luft.
Ich glaube fast, das geht gegen mich. Soll ich ihn wieder nach Moabit bemühen und ihn fragen, wen er gemeint hat? Er kennt doch keinen Offenbach-Vortrag von mir, von Zeitstrophen weiß er vom Hörensagen — ich glaube immer, er hat etwas gegen mich! Aber das macht nichts. Die andern würgen’s hinunter, er sprudelt’s doch hin und wieder heraus. Wir sind darin ähnlich. Ich kann auch manchmal nicht an mich halten und so ist es mir eben passiert, daß ich von der ersten Reihe aus Pfui! rief. Aber nichts wäre ungerechter, als darin die unedle Regung des Konkurrenzneides zu vermuten. Ich pfeife auch bei meinen eigenen Aufführungen. Viermal habe ich mir einen Platz zu »Perichole« gekauft und einmal riß es mich so hin, daß ich, umgeben von Leuten, die am Schlusse »Hoch Kraus!« riefen, inkognito zischte. Drohende Blicke trafen mich, und die Verehrer machten Miene, mich an die Luft zu setzen. Aber der Fall sollte den Theaterdirektoren zu bedenken geben, daß ich bei Offenbach keinen Spaß verstehe. Ich werde jeder Schändung, die ihm widerfährt, ob sie nun mit oder ohne Verwendung meines Textes erfolgt, mit jeder Art des Protestes, in Wort und Schrift, pfeifend oder singend, entgegentreten, und ich werde nicht dulden, daß mit dem Mißbrauch des Gedankens, den ich in die Theaterwelt gesetzt habe, ein Geschäft gemacht, noch auch nur die geringste Pleite abgewendet wird. Ich habe mit jeder sozialen Schicht, die erwerbslos wird, das gleiche Mitgefühl. Das geringste mit denen, die davon leben wollen, was sie am wenigsten können: von der Kunst!
(Karl Kraus: Offenbach-Schändungen; in: Die Fackel, XXXIII. Jg. Nr. 868-872 vom März 1932; S. 6 ff.
Der Text ist die 609. Vorlesung vom 12. Januar 1932 in Berlin; Karl Kraus las im Breitkopf-Saal um 19.30 Uhr im Anschluss an die Aufführung der Berliner Volksbühne. Begleitet wurde Kraus von Franz Mittler. Thema: Zu Ehren Offenbachs).