Mehr als die Hälfte des Programms sind Lieder Walter Mehrings. Nicht umsonst hatte Gisela May das Chanson-Programm „Hoppla, wir leben“ genannt. Im Januar 1974 wurden zwei Aufführungen in der Ost-Berliner „Distel“ mitgeschnitten und schließlich auch als Schallplatte veröffentlicht. Diese ist mehr als ein Zeitdokument. Sie ist auch mehr als 40 Jahre später noch frisch. Wer erleben will, dass die Texte Walter Mehrings für die Musik gemacht sind, wird sie immer wieder auflegen.
Kategorie: Zeitleiste
(Am 15. November 2016 hat Till Janzer für Radio Prag einen Beitrag über eine besondere Ehrung für den ehemaligen tschechoslowakischem Diplomaten Vladimír Vochoč veröffentlicht, der hier verlinkt und dessen Anfang hier zitiert wird. Ohne seine Hilfe wäre die Rettungsaktion Varian Frys nicht möglich gewesen. Pässe waren die Voraussetzung, um Visa zu erhalten. Ohne die unkonventionelle, ja illegale Fluchthilfe wäre wohl auch Walter Mehrings Flucht von Marseille in die USA unmöglich gewesen. A.O.)
Tschechoslowakische Pässe für die Flucht vor Hitler – Diplomat Vochoč geehrt
Vladimír Vochoč war von 1938 bis 1941 tschechoslowakischer Konsul in Marseille. In der südfranzösischen Hafenstadt half er Verfolgten, vor den Nationalsozialisten zu fliehen. Dafür ist Vochoč am Montag geehrt worden. Er erhielt von Israel posthum den Titel „Gerechter unter den Völkern“.
„Kaum waren einige gerettet, drängten sich andere. In den Straßen Marseilles sah man immer mehr der unheimlichen Gestalten in langen grauen Mänteln und hohen schwarzen Stiefeln. Nur flüsternd gab der eine dem anderen die Kunde von dem unbekannten Amerikaner und seinem anonymen Komitee. Manchmal trafen die ersehnten Visen ein – für Tote. Für Ernst Weiß, für Walter Hasenclever. „Kann man uns vielleicht an ihre Stelle setzen?“ fragten Walter Mehring und Leonhard Frank. Nein – auch dazu benötigte man eine Genehmigung. Carl Einstein, der Poet und Theoretiker der Negerplastik, erhängte sich in Marseille, als man ihn von der Grenze zurückgeschickt hatte. In der „Bar Mistral“ saßen Mehring und Frank und rätselten über ein Telegramm von Hermann Kesten aus New York: „Das amerikanische Visum? […] Die Antwort? Von Thomas Mann? Nicht direkt. […] Der Satz, über den die Dichter grübelten, lautete: ‚Rescue visa following, by messenger maybe.‘ […] Frank starrte auf das Blatt. Messenger heißt Bote, das weiß ich schon. Was aber heißt maybe?’ Walter sprang ungeduldig auf und begann wie in einem Käfig auf und ab zu gehen. ‚Das habe ich Ihnen doch schon gesagt‘, rief er, ‚maybe heißt: kann sein – vielleicht.’ Frank folgte ihm mit seinem durchbohrenden Blick: ‚Vielleicht, jaja – mehr ja oder mehr nein?’ Mit einem Ruck blieb Mehring vor ihm stehen und erwiderte scharf: .Vielleicht’. Und Frank wiederholte hartnäckig: ‚Mehr ja oder mehr nein? Was heißt maybe?‘“
Der Elster Verlag macht weiter! Mit „Stum und Dada – Gedichte, Erinnerungen und Essays das Walter Mehring“ bringt der Zürcher Verleger Bernd Zocher den dritten Band von Walter Mehring in nur vier Jahren heraus. Das ist nicht nur löblich. Es ist vor allem für den Leser ein Fest. Immerhin handelt es sich bei Walter Mehring (1896 – 1981) um einen lesenswertesten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. In diesem Band sind seine frühsten und etliche späte Texte versammelt.
In diesem Quartier, dem Stadtkreis 3 von Zürich, gibt es keine Parke und schon gar keine Promenaden, deshalb spazieren Familien, Rentnerinnen und Unausgeschlafene durch den Friedhof Sihlfeld. Da kann es passieren, dass eine Trauer, die noch keine Worte gefunden hat, einen Namen aus den Gräberreihen herausgreift und sich an einen fremden Stein heftet. Dazu eignen sich besonders die Gräber im Abschnitt A, von der Ämtlerstrasse aus gesehen vorne links. Hier sind die Verstorbenen versammelt, denen eine unbekannte Macht, wahrscheinlich eine Kommission, zugestanden hat, dass ihr Lebenswerk oder die künstlerische Gestaltung ihres Grabsteins einen Verbleib auf dem Friedhof über die 25 Jahre hinaus rechtfertigt, die Normalverstorbenen gewährt werden. Sie eignen sich deshalb, weil sich über die Namen auf diesen Steinen einfach Recherchen anstellen lassen, die der kaum wahrgenommenen Trauer zwar nicht die Worte verschaffen, die sie verständlich machen würden, aber doch eine Anwesenheit.
So ist es mir mit dem Grabstein des Schriftstellers Walter Mehring ergangen. 1981 ist er in Zürich gestorben, wo er im Zimmer 505 des Zürcher Hotels Opera gewohnt hatte. (Der vollständige Text findet sich hier…)
(Annette Hug: Der gefundene Grabstein von Walter Mehring; in: Neue Wege, Heft 2, 2003; S. 60 ff.)
Mit Walter Mehring wurde ich durch Theodor Däubler bekannt; der brachte ihn eines Tages in mein Atelier, das damals in Südende lag und eher einer romantischen Höhle glich. Wir verstanden uns gut, Walter und ich, vom Beginn unserer Freundschaft. Er war der Sohn eines Berliner-Tageblatt-Redakteurs und hatte von seinem Vater Witz, Sarkasmus und Berlinertum geerbt. Als ich ihn kennenlernte, stand er ein wenig unter dem Einflufi futuristischer Dichtung, doch hatte er schon damals seine eigene Linie und sein eigenes Talent für Tempo und dramatische Bewegung. Er war eine gute Mischung: ein Francois Villon von der Spree, mit etwas Heinrich Heine versetzt. »Weiße mit Schuß«, würde der Berliner sagen.
Walter Mehring
Wir freuten uns, den Dichter Walter Mehring 1956 in der Katakombe begrüssen zu dürfen.
Er verdiente es, ein echter Poet genannt zu werden.
Er sagte uns, dass er «nie mit schiefem Seitenblick auf Glanz und Ruhm der Literaturgeschichte» geschrieben habe, aber «mit um so wacherem Herzen über die Tiefen des menschlichen Leides» und «mit dem Blick in die Gesichter der Verfolgten und Gequälten».
Nicht die bürgerliche Gesellschaft kritisiere er, sondern das üble Geschwisterpaar Tyrannei und ignorante Dummheit bedenke er überall mit den Trauergesängen seines ironisierenden Hasses.
Sein Bänkelsang und seine Lieder, seine angriffsheissen Stücke und Songs wurden vor dem Herabsinken der braunen Nacht von den berühmtesten Chansonetten Deutschlands als eindringliche Warn-Rufe in ein Land hinausgetragen, das gleich darauf seinen Dichtern den Scheiterhaufen zu den Bücherverbrennungen schichtete.
Das Hörspiel „Sahara“ im Senderaum
Zur Abendveranstaltung am Sonnabend, den 12. November
Nachdem zwei der Reisehörspiele in Szene gegangen sind, scheint es angebracht, die Leitidee dieser beiden Versuche kurz zu fixieren. Beiden gemeinsam war das Bestreben, das Ohr „wandern und freisen“ zu lassen, d.h., die Handlung nur durch die Abwandlung der Hör-Plätze zu schaffen, wobei der – in Versen stilisierte – Text gleichsam das Vehikel bildete. Als Material zum ersten Hörspiel wurden Assoziationen einer See- und Landreise ganz allgemein verwendet: Bahnhof, Rhythmus des Zuges, Zollrevision, Speisewagen, Schiffssirene, Bordmusik, Sturm, Morseticken; die typischen Gespräche im Kupee und an der Reeling.
Zum 120. Geburtstag Walter Mehrings
In der Derfflingerstraße in Tiergarten gibt es einige Gedenktafeln, die an berühmte oder wichtige Menschen erinnern, die einst hier lebten. An Carl Scheibler, einen wichtigen Chemiker, der sich mit Zucker beschäftigte, wird gedacht. An Ernst Unger, den Leiter einer einst berühmten chirurgischen Privatklinik, wird ebenfalls erinnert. An Herrmann Müller, den Sozialdemokraten und Außenminister der Weimarer Republik, der den Versailler Vertrag unterschrieb, wird erinnert. Das Französische Gymnasium hat hier seinen Sitz und gedenkt mit Tafeln an wichtige Lehrer aus seiner langen Geschichte. Aber in der Derfflingerstraße 3, wo bis zu einem Bombentreffer das Haus stand, in dem Walter Mehring heute vor 120 Jahren geboren wurde, gibt es keine Gedenktafel.
Anders als in Zürich, wo die Stadt das Ehrengrab für den Schriftsteller, Dichter, Kabarettautor und Journalisten bezahlt. In Zürich ist Walter Mehring gestorben. Wesentliche Werke hat er hier nicht mehr geschrieben. Aber die Stadt weiß um seine Bedeutung. Berlin aber, die Stadt, in der Mehring bei DADA mitbegündete und in den Kabaretts der 20er-Jahre zu den bedeutendsten Autoren zählte, hat ihn vergessen. Berlin weiß nicht mehr – oder will nicht mehr wissen – dass Mehring einer der ersten Hörspiel-Autoren im neuen Rundfunk überhaupt war. Berlin will auch nicht daran erinnern, dass mit Walter Mehring einer Kind der Stadt (und nicht ein Zugezogener) zu den großen literarischen und kulturellen Impulsgebern der 1920er-Jahre gehörte. Lediglich die Volksbühne hat vor einigen Jahren mit einer Neuinszenierung des „Kaufmanns von Berlin“ an ihn und den größten Theaterskandal der Weimarer Republik erinnert.
Zwar gibt es den Mehringplatz und den Mehringdamm. Aber die erinnern nicht an Walter Mehring, sondern an Franz Mehring, der nicht mit ihm verwandt war. Der marxistische Historiker, Publizist und frühe Karl-Marx-Biograph ist zwar vielen auch nicht mehr bekannt. Und immer wieder denken Berliner und Zugezogene, dass Platz oder Damm Walter Mehring gewidmet sind, aber sie liegen falsch. Angesichts der großen Bautätigkeit der Stadt wäre es aber durchaus denkbar, eine neue Straße nach Walter Mehring zu benennen. Vielleicht ja zum 125. Geburtstag in fünf Jahren. Es kann doch nicht angehen, dass sämtliche Erinnerungsleistung in Zürich liegt, wo nicht nur die Rechte an seinem Werk verwaltet werden, sondern auch im Elster-Verlag seine Texte neu erscheinen. Nach der „Die verlorene Bibliothek“ der Lyrik-Band „Dass diese Zeit und wieder singen lehre“ und ganz aktuell „Sturm und Dada“.
WALTER MEHRING ALS GRAPHIKER
War Walters Produktion als Schriftsteller kennt, weiß, daß er auch ein sehr guter Zeichner ist. Die meisten seiner dichterischen Werke sind von ihm selbst illustriert, und ich denke, dies ist wohl die ideale Illustration. Walter hat eigentlich immer gezeichnet, von Kindesbeinen an. Eine sogenannte Fachausbildung hat er nicht gehabt. Weder Aktzeichen mit Korrektur, noch Perspektive und Anatomie. Er ist Autodidakt. Mit der schützenswerten Unbekümmertheit des passionierten Amateurs zeichnet er. Es in ein wenig Sonntagszeichnerei, aber sehr sympathische. Seine Zeichnungen haben den schwerbeschreibbaren Reiz, der oft den Zeichnungen Ungeübter so eine Art kindlichen Charme gibt. Auch das ungehemmt Erzählende, daß sich über Form- und Raum(Kompositions-) problem kühn hinwgesetzt, ist dem naiven Zeichnen des Kindes verwandt. Auch ein klein wenig von den Zeichnungen Schizophrener ist mit dabei — ohne etwas hineingeheimnissen zu wollen. etwas von der reizvollen Fähigkeit einzelner Blätter Ensors oder des späten Ernest Josephson.
Nach der längst erfolgten Heiligsprechung des malenden Kleinbürgers Rousseau hat ja auch heute die offizielle Kritik einen Blick für diese merkwürdigen graphischen Feinheiten, die oft hart an der Grenze des Diletantischen liegen. Walter zeichnet auf, notiert aus der Erinnerung und dem Wissen — manchmal berichterstattet er sozusagen. Ein gewaltiger Felsenkegel, ein norwegisches Tal mit schwarzen Straßen, Beduinen, ein Tisch mit Frohkosten in Schweden, alles wird mit spitzer, ein bißchen verstimmter Börsenfeder eingeritzt und hingekritzelt. Von links wird begonnen, rechts wird aufgehört. Oder er zeichnet eine Kette untergehakter Matrosen, die, nach langer Abwesenheit vom Heimatlandd — voll Freude und ein wenig bezecht nach einem Haus mit übergroßer Nummer Ausschau halten. Mit großer zeichnerischer Begabung ist hier das schwankende Gehen ausgedrückt — graphisch gut übersetzt. Darauf kommt es an. Mehring zeichnet ja nicht einfach ab, er hebt alle seine Augeneindrücke in eine für ihn sehr charakterisische ironisch-hypochondrische Ebene. Spielt das, was er widergibt, leicht verzaubert ein Tönchen höher oder tiefer, aber niemuals in banalen Klavierschul-Akkorden.
George Grosz
(Grosz, George: Walter Mehring als Graphiker; in: Das Stachelschwein Heft 1, Oktober 1927; S. 12 ff.)