heißen Dank für Ihren Händedruck zu meinem 60. Wiegenfest, dem alten Veteran, der sich, wie Sie, dunnemals tapfer geschlagen hat: im Café Größenwahn und bei Schwannecke ~ unter unserm dicken, prächtigen Brigadegeneral, Exz.
Tucho, der längst nun ins Walhalla a. d. Panke versetzt wurde und eine nachlebenslängliche Pension bezieht ~ wie sich das gehört. Und gedenken wir auch ernsthaft der gefallenen Kameraden Paule Grätz und Morgan und Grünbaum . . .
Es grüßt Sie mit Ihrem »Es lebe die (je nach Wunsch auszufüllende) Republik!«
Ihr old man Walter Mehring
(Traute Schaeffers und Peter Schaeffers (Hg.): „Wer darf sagen: ich liebe Dich-?“ – Zur Erinnerung an Willi Schaeffers; Berlin: Privatdruck 1964, S. 9.)
Meine Ungeduld hängt wohl mit meiner Situation zusammen – Fehlschläge, Enttäuschungen…
Nichts Wesentliches ist – seit meiner Rückkehr aus den U.S.A. über meine Arbeiten berichtet worden »Ein vergessener Autor« – »oft verblüffender Reimkünste« – [so etwa wie: Paganini konnte den Teufelstriller auf einer Saite spielen …]
Soweit die Druckerschwärze reicht, keine Spur von einem Verleger für meinen Abschlußband [-LOST LIBRARY – Verrufene Malerei – Ketzerbrevier] …
[für = Arbeitstitel »Nachttagebuch aller Exile] — dessen erste Fassung ich bei meiner Einlieferung in’s Krankenhaus schon einmal aufgeben mußte …
Die »WM-Chronik« würde mein erster authentischer Zeitbericht sein = dokumentarisch; biographisch …
[»gewissenhaft genau – und so muß man auch sein wenn man mit dem Worte umgeht …« And I quote you! =
Mit besten Grüßen und vielen Wünschen
Ihr Walter Mehring
Volker Neuhaus (Hg.): Briefe an Hans Bender; Köln: Kulturkreis der Deutschen Industrie e.V. 1984; S. 169
(zu Gast beim letzten Schriftstellertreffen in
Heidelberg bevor wir in die Gewerkschaft
Druck und Papier eintraten)
Da ist nichts wieder gut zu machen
keine Novemberstunde
mittags um vier
holt ein was wir vierzig Jahre versäumten
ungeübt
eine Legende zu empfangen
rissen wir ihr die Flügel heraus
TRAUERMANTEL
niedergelassen
augenblicklang
dunkel wie das Hotelnebenzimmer
gegenüber Heiligen Geist
eine Kerze wenigstens
nahm ich von der Kollegentafel
schob sie
wo seine Papiere raschelten
eine handvoll
Jahrhundertasche
keiner dem die Gegenwart glänzt
wurde erhellt:
Mühsam
Klabund
Hasenclever
als Heinrich Mann . . .
viele hörten nur eine Zikade
durch den Autolärm vor den Fenstern
auch das Mikrofon änderte nichts
. . . Expressionismus
Dada war so . . .
während ich
geblendet vom Blitz
unter anderen Donnern mich duckte
Toller
Ossietzky ach wissen Sie
aber dann war da ein KZ
das Tb-KZ bei Marseille
dort traf ich Ernst Busch er brachte mir
in einer Büchse Nahrung
»dünn« sagte einer
»gebt doch dem alten
Mann eine Suppe und laßt ihn gehn«
ein anderer
fragen Sie ruhig ich bin Fragen gewohnt
von der Gestapo
und so
Memoiren?
Rousseau
der heilige Augustin
wirkliche Memoiren das sind
Don Quichote
Cervantes sagte
Sancho Pansa bin eigentlich ich
oder Proust
das sind Memoiren
Memoiren schreibe ich nicht
wenn ich Memoiren schreibe
komme ich jedenfalls nicht darin vor
zwischen Schall und Rauch
im Sturm
auf der Weltbühne
kommt einer noch einmal so weit her
ein bißchen bös
spitzfindig
zart
doch hielt er sogar gegen den Wind
durchtränkt vom verbrauchten Adjektiv
bitter
wollte lächeln
die Kerze flackerte
ich hatte nicht den Mut zu schrein hier steht ein Mann
der bringt noch einmal
alle mit die wir geschlachtet haben
mit seinen Augen hat er sie gesehn
mit seinen Ohren gehört
seine Hand hat einmal ihre Hand gehalten
denn ich wußte
was er mit uns treibt
setzt voraus wir wären bereit
freiwillig in einen Spiegel zu blicken
der uns als Gorgo zurückwirft
spät
erst nachdem er gegangen war
nachts
als die Kinder von Heidelberg
je nach dem Stoff ihrer Wahl aggressiv
oder apathisch
trunken herumliefen
in der Allerheiligenkälte
kam mir die Erinnerung:
er hatte an den Türen gerüttelt
als ich jung genug war
ihn hereinzulassen: Hier steht ein Mann und singt sein Lied zum Trotz – am Rand der Zeit . . .
Dieses Gedicht über eine Begegnung Walter Mehrings mit deutschen Schriftstellern in den 1970er Jahren ist eine beeindruckende literarische Selbstbezichtigung von Margarete Hannsmann. Es zeigt zum einen die von Walter Mehring immer wieder beschriebene Haltung, dass er als Überlebender keine Beachtung im Nachkriegs-Deutschland finden konnte. Es bringt zum Ausdruck, wie er buchstäblich mit einer Suppe abgespeist werden soll, weil man die Erinnerung nicht will. Zum anderen ist der Text aber auch Ausdruck dafür, dass gerade in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre die Aufarbeitung der Vergangenheit mit der Selbsterkenntnis des eigenen Versagens einhergehen musste. Margarete Hannsmann schreibt ja, dass auch sie – obwohl erst 1921 geboren – hätte den Verfolgten des Nationalsozialismus die Türen öffnen können. (A.O.)
Gedichte von Erich Kästner, Walter Mehring, Ernst Toller, Erich Arendt, Max Ophüls, Alfred Kerr, Emil Ginkel, Kurt Tucholsky, Johannes R. Becher, Erich Weinert, Erhard Winzer und Oskar Maria Graf sind in dieser Anthologie deutscher Exildichtung aus den Niederlanden versammelt. Auf 47 Seiten Martien Beversluis eine einigermaßen repräsentative Auswahl nicht nur zusammengestellt, sondern auch übersetzt. „Brandende Woorden uit Duitschland“ heißt der Band – Verbrannte Worte aus Deutschland.
Beversluis (1894 – 1966) stammte aus einer Pfarrersfamilie. Er dichtete und engagierte sich für die sozialistische Sache. In dieser Phase entstand auch dieser Band bei den Buchfreunden Solidarität (Boekenvrienden „Solidariteit“) in Hilversum. Aber sein linkes Engagement blieb temporär. Später mutierte er zum Nationalsozialisten, für deren Partei niederländische Partei er sogar Bürgermeister einer Kleinstadt wurde. Seine eigene Dichtung schreckte in den 1940er Jahren, den Jahren der deutschen Besatzung auch nicht vor antisemitischer Hetze zurück.
Doch im Jahr 1934 war das noch nicht absehbar. Beversluis arbeitete damals beim Arbeiter Rundfunk Verein (VARA). Hier lernte er Heinhz Kohn kennen, dem er bei seinem Verlagsprojekt Boekenvrienden „Solidariteit“ unterstützte. Els Andringa führt in seinem Buch über das Geflecht der deutschen und niederländischen Verflechtungen des Exils allerdings aus, dass Beversluis trotz seines späteren Antisemitismus keinen seiner Bekannten aus seiner sozialistischen Phase verraten haben soll.
Ein gutes dreiviertel Jahr nach der Bücherverbrennung in Berlin war das kleine Buchprojekt durchaus wichtig. Es zeugte tatsächlich von Sildarität. Und es versuchte Interesse für die verbannten Autoren und ihre verbrannten Texte zu wecken.
Auch andere renommierte Schriftsteller der zwanziger Jahre bekundeten gelegentlich, auch wenn sie nicht gleichzeitig Mitarbeiter des Drachen waren, ihr lnteresse an der Existenz der Zeitschrift. So erkundigte sich Tucholsky einmal bei Reimann, „ob er in Leipzig wohl sehr beliebt sei“, und Roda Rocla wollte wissen, ob er verrückt wöre: „So viel Verstand und Witz in der Provinz zu verpuffen! Sie vergeuden lhre Jahre! Nehmen Sie sofort auf meine Kosten ein Billett nach
Berlin uncl geben Sie dort den Drachen heraus!“
Zweimal tauchte auch der Name Wieland Herzfelde im Drachen auf, des sozialistischen Publizisten und Schriftstellers, der damals den von ihm gegründeten hochverdienstvollen Malik-Verlag leitete. ln einer Zuschrift geht Herzfelde auf einen Artikel Kurt Hillers ein, in dem Klage darüber geführt worden war, daß sich der Buchautor keine Gewißheit
darüber verschaffen könne, wie viele Bücher sein Verlag nun wirklich verkauft habe. Und Walter Mehring berichtet über einen Prozeß, der gegen die Verantwortlichen einer Dada-Ausstellung geführt worclen war, zu denen neben dem Maler George Grosz auch Herzfelde gehört hatte.
Dann müssen ja wohl auch einige Zeitgenossen den Drachen gelesen haben, die gewiß nicht zur geistigen Repräsentanz ihrer Tage zählten, aber auf ihre Weise einige Tupfen für das Zeitkolorit lieferten. Die Romantante Courths-Mahler, die mehrfach von der Zeitschrift schlecht behandelt worden war, schrieb einen Brief an Reimann, der dartun sollte, daß sie auch überlegene lronie auf ihrer Klaviatur habe. Dem „großen Meister“ und „edlen Mann“ wurde in „gebührender Demut und Verehrung“ nahegebracht, daß sie noch gar nicht so zerschmettert sei, wie er es sich wohl einbilde, und daß sie fortzufahren gedenke, „ihrem Publikum mit harmlosen Märchen einige sorglose Stunden zu schaffen“.
Kräftiger ging es bei Louis Häußer zu, dem „Propheten“ der zwanzigerlahre. „Du bist Scheiße“, schrieb er dem Herausgeber, „ich aber bin das Perpetuum mobile. Ich bin der Untergang des Abendlandes. lch bin Christus, ja. ich bin Gott! Falle auf die Knie vor mir und bete mich an – du Langohr!“ Bestand mit der Mehrzahl der Drachenmitarbeiter reger Umgang und enger persönlicher Kontakt, so gab es auch andere, die ich nur selten oder gar nicht zu Gesicht bekam. So habe ich nur verschwommene Erinnerungen an den satirischen Chansondichter Walter Mehring, den Essayisten Ossip Kalenter und an Heinrich Wiegand. Der Name des letzten ist wohl kaum noch jemandem aus derjüngeren Generation bekannt. Aber er genoß damals großes Ansehen als Musikkritiker, Kunstbetrachter, Feuilletonist. Hauptsächlich schrieb er für die „Leipziger Volkszeitung“ und den „Kulturwillen“, das Mitteilungsblatt des sehr aktiven Leipziger Arbeiterbildungsinstituts. 1933 flüchtete er nach der Schweiz, starb aber dort bald. Nach der einen Version endete er durch Selbstmord, nach der anderen wurde er von einer Katze gebissen und erlag einer Blutvergiftung. Niemals hat sich Wabo vorgestellt, der Woche für Woche aus Berlin vortreffliche politische Zeitgedichte sandte. Er scheint übrigens nirgendwo anders als im Drachen geschrieben zu haben.
(Hans Bauer: Damals in den zwanziger Jahren; in: Wolfgang U. Schütte(Hg.): Damals in den zwanziger Jahren – Ein Streifzug durch die satirische Wochenschrift „Der Drache“, mit Erinnerungen von Hans Bauer, dem ehemaligen Herausgeber des „Drachen“, einer Textauswahl und biographischen Notizen von Wolfgang U. Schütte, original für den „Drachen“ geschaffenen Zeichnungen von Max Schwimmer und zahlreichen Autorenporträts; (Ost-) Berlin: Buchverlag der Morgen 1968, S. 39 f.)
sobald das AKZENTE-heft mit meinem Beitrag erscheinen sollte, senden Sie doch, bitte ein Exemplar an mich id est:
das Hôtel Opera
Dufourstraße
CH 8008 Zürich
(- bitte, aufbewahren -!)
Ich bin zur Zeit – überarbeitet – befaßt mit der Lieferung eines – termingebundenen, umfangreichen Manuscriptes – und ich will mich in ein romantisches Kleinstädtchen – in der Nähe von Zürich – zurückziehen …
Das Akzente-heft wird wohl der erste Bericht sein – seit meinem »Comeback to Europe« – der sich authentisch – subjektiv – objektiv – mit meinen literarischen Arbeiten befaßt …
Mit freundlichsten Grüßen
Ihr Walter Mehring
Volker Neuhaus (Hg.): Briefe an Hans Bender; Köln: Kulturkreis der Deutschen Industrie e.V. 1984; S. 170
nun schreibe ich Ihnen da zum letzten Male; und so sinnlos ist mir das Schreiben noch nie vorgekommen. Früher, wenn ich einen Brief an Sie in den Kasten warf – und als Sie in Ihrem Pariser Faubourg le Vésinet wohnten, ich in der Rue de Vaugirard, geschah das drei- bis viermal die Woche -, lächelte ich selig wie ein preußischer Säugling, dem man die erste Spielzeug-Handgranate ins Händchen gibt, im Vorgeschmack Ihrer Antwort. In deutscher Sprache hat keiner Briefe geschrieben wie Sie. Die an mich gerichteten hatte ich sorgfältig gesammelt, jedes Stück, jeden Zettel; auch jenes Couvert mit dem großen Tintenklecks drauf; Sie hatten ihn blau umrandet und dazu geschrieben: „Das hat die Post gemacht!“ Sie sind alle verloren! Es wäre einer der herrlichsten Tucholsky-Bände geworden.
Jede Zeile, jede Polemik von Ihrer Hand war ein Brief, gerichtet an die heroischen Dummköpfe, die Gangster mit Gymnasialbildung und die Sonnewendpriester in Gesundheits-Wollersatz-Wäsche. Die Adressaten konnten nicht einmal mogeln, sie hätten das Schreiben nicht erhalten. Es traf sie mit tödlicher Sicherheit. Man hat Ihnen den Empfang allseitig durch Ausbrüche zügellosen Hasses bestätigt.
Seit drei Jahren sind diese Briefe an die uns aufgezwungenen Zeitgenossen ausgeblieben; und vor einem Jahr kam der letzte private an mich. Hätten Sie gewußt, wie wir alle darauf gewartet haben; wie wir uns gesehnt haben, zu wissen: Was sagt Peter Panter dazu? Es hätte nichts mehr an dieser zum Zeitgeist beförderten dementia geändert. Aber wir wären jedesmal für ein paar Stunden den Albdruck losgeworden: Nein, wir träumen nicht! Es gibt noch ein gesundes Hirn, eine unbestechliche Vernunft!
Dank Ihnen waren wir ja nicht überrascht! Wer je Sie gelesen hatte, mußte wissen, daß es so und nicht anders kommen würde. Darf ich Sie zitieren?
„Lieber Mehring,
vielen schönen Dank für Ihren werten Schrieb! Ich bin schrecklich neugierig: haben Sie ein Heim? Wo wohnt das? Sieht man von da den sacré Kör? Haben Sie eine puanderie? Wie ist es überhaupt? Hei!
Des weiteren, lieber W. M. – ein chronischer Katarrh, wie er auf mir sitzt, mag ja das Weltbild stören. Aber jedennoch: so wenig wir von dem, was sich da ereignet, überrascht worden sind, je desto weniger kann ich noch mitmachen. Was die Nichtüberraschung angeht, so sehe ich uns noch beide schweren Schrittes auf der Gare St. Lazare herumstolpern, wir beredeten es alles, und es hatte etwas leicht Komisches: um uns brausten die Leute, und wir hatten es mit dem kl. Weltuntergang. Und wir haben doch Recht behalten, ein größerer steht bevor, und so sehr ich gegen die Leute bin, die, wie der gute O. gesagt hat, „eine Villa mit prachtvollem Weltuntergang“ besitzen, so klar sehen wir ja wohl, was nun kommen wird …“
Nein, ich zitiere nicht weiter. Es hören Leute zu, die darauf lauern, Ihre sublimsten Worte kotig zu interpretieren. Für solche Umwelt, mit der man sich erst wieder über das ABC
verständigen muß, war Ihre Schreibweise – zum höchsten Ruhme sei es Ihnen gesagt – nicht bestimmt. Und darum schwiegen Sie. Es sind Ihre Einwände:
„Denken Sie sich bitte, wir gingen noch einmal an unserer alten Penne vorbei, also jetzt, heute – und da seien durch ein Wunder noch dieselben Pauker am Werk. Wir kommen gerade in die Pause. Und wir hören die Gespräche: ,Au – Mensch – heute gibt er die Hefte zurück? Ob er sie zurückgibt? Ich habe sicher eine IVI“ usw. Also gut, wir grinsen ein bißchen wehmütig oder amüsiert- aber es ist doch ganz und gar ausgeschlossen, daß Sie oder ich mehr als eine kleine Anregung für ein paar Verse mit nach Hause nehmen. Es ist doch ganz und gar ausgeschlossen, daß wir das nochmal ernst nehmen könnten! Könnten wir? Sicher nicht…
Und nun soll ich das immer weitermachen? Immer wieder diesen albernen Jargon bewitzeln, über den ich auch in der Karikatur nicht mehr lachen kann Mein Herz schlägt nicht mehr schneller. Ich lese nicht mehr die deutschen Zeitungen, seit Monaten habe ich keine mehr in der Hand gehabt. Es reizt mich gar nicht mehr. Ich weiß kaum mehr, wie die maßgebenden Schießbudenfiguren heißen …“
Sie würden sich eins lachen über die Punkte, durch die ich schamhaft einige Ihrer Sätze ersetze. Ich möchte nicht an Ihrem Grabe das Gemurmel mancher Leidtragender hören: also doch ein Drückeberger! Aus der Reihe getanzt! Haben Sie das gehört: Wir gingen ihn nichts mehr an! Die ganze Terminologie des Kasernenhofes, die so Viele mit auf die große Reise genommen haben.
Sie haben es mir immer und immer wieder bestätigt, daß das neue falsche Pathos Sie ebenso angeekelt hat wie das alte. Es ist, um einem noch die ganze Emigration zu verleiden! (Das sage ich nur hier, an Ihrem Grabe, Peter Panter! Es spitzen schon wieder die Unberufenen die Ohrenl) Sie haben es hinter sich! Und wir wissen nicht, was wir vor uns haben! Aber eins weiß ich, daß noch einmal – in zehn, in zwanzig Jahren – dieselben Leute, die Ihnen diese Konsequenz Ihres unbeirrbaren Verstandes heute ankreiden möchten, entdecken werden: Wie prophetisch recht hat Peter Panter damals gehabt, als er schrieb: „Und dann wieder alles, wie wenn nichts gewesen Wäre? Und so: ,Ach, wissen Sie, ich war ja im Herzen immer gegen Hitler – aber sehnsemah, die Umstände – – -.““
Und trotzdem: „Rheinsberg“ und das „Pyrenäenbuch“, „Mit 5 PS“ und „Lerne lachen ohne zu weinen“. – Das soll es nicht mehr geben? Lächelt die Mona Lisa nicht mehr? Verstummt Wendriner, unser Berliner Don Quixote? An den Sie mehr Herz verschwendet haben, als die meisten ahnten? …Kein Satz mehr des Wrobel, kein Vers mehr des Tigers, der uns verblüffend das Wort von der Zunge nahm? Andere betätigen sich als Gedankenleser ~ das ist ein einträgliches, weil unkontrollierbares Gewerbe. Sie lasen die Hintergedanken! Da gab es keine Ausflucht.
Dem kleinen Mann, dem Wedding-Knoten, dem Wendriner und dem General haben Sie aufs Maul gesehen! Und haben das Gröbste durch Ihren Geist geadelt! Berlin war nur einmal Weltstadt! Als Sie es schrieben!
Lieber Peter Panter!
Es ist plötzlich ganz dunkel um uns geworden, hier
draußen!
Ich schließe, wie Sie Ihren letzten Brief schlossen:
„Als Ihr guter, getreuer und herzlichst grüßender“
Walter Mehring
(Dieser Text ist im Neuen Tage-Buch am 6. Januar 1936 erschienen. In einem Radioessay aus den 1960er-Jahren erinnerte sich Mehring, wie er vom Tod Kurt Tucholskys erfahren hat: „In Wien, Dezember 1935, traf mich die telegraphische Nachricht des Pariser Neuen Tage-Buchs: ‚Tucholsky verstorben – Erwarten Nachruf‘. Die Wiener Weltpresse meldete sesantioneller: ‚Selbstmord eines bekannten Exilautors in Schweden…‘ (…) Der Selbstmord ist eine schleichende Gemütskrankheit, scheint mir, die letzte Ausflucht aus dem Ich-Selbst, und ein exitus letalis des Exils, den dreißig namhafte deutsche Schriftsteller nachher gewählt haben.‘ (Walter Mehring: Kurt Tucholsky; Berlin: Friedenauer Presse 1985, S. 13))
Neben Programmen mit eigenen Texten spielte die „Leipziger Pfeffermühle“ auch solche mit Kabarett-Texten und -Songs aus der Vergangenheit. „Heute geschlossene Gesellschaft“ ließ die große Zeit des Kabaretts vor allem in den 1920er-Jahren aufleben. Dabei durfte auch Walter Mehring nicht fehlen.
Rolf Herschel hat das Programmheft zum 2. Programm der Leipziger Pfeffermühle gestaltet. „Heute geschlossene Gesellschaft“ war ein Nummerprogramm mit Texten aus den 1920er-Jahren. Darunter „Der Angeklagte hat das letzte Wort“ und „Zum blauen Affen“ von Walter Mehring.