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1934 Brief

Max Herrmann-Neiße besucht mit Mehring 1934 Alfred Kerr

An Leni Herrmann

Zürich, Mittwoch, 19. September 1934

Max Herrmann-Neiße: Briefe 2
Max Herrmann-Neiße: Briefe 2

(…) Vor 4 kam Mehring, wir gingen erst noch ins Café Terrasse, wo er eine kurze Verabredung mit dem Regisseur Lindtberg hatte, dann fuhren wir trotz Regens mit der Bahn zach Küsnacht. Da saßen wir mit dem wirklich sehr, sehr »umgänglichen« Kerr (die Frau zeigte sich, gottlob, überhaupt nicht) erst bei einem Clävener im gemütlichen Schänkstübchen und besprachen die Dinge dieser Welt, sehr, sehr pessimistisch, und dann, da es etwas nachließ im Regen, gingen wir durch hübsche Gäßchen, die ich noch nicht kannte, mit schönen alten Häusern, zu einer Art Mole, wo der See nun in der Abendstimmung dieses grauen, bis tief herab mit Wolken verhangenen Zustandes etwas wie auf manchen holländischen Bildern hatte. Gegen 7 brachte Kerr uns noch zur Bahn, ja, bis an die Coupétür, und ich will bestimmt noch mal zu ihm, so lange er noch in Küsnacht ist; in 8 Tagen fährt er ab; denn wer weiß, ob und wann man sich wiedersieht.

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1933 1934 1935 Biografisches

Die geplatzte Hochzeit von Walter Mehring und Ilse Winter in Paris

Gabriel Heim: Ich will keine Blaubeertorte, ich will raus„Schon im Sommer 1933 sind alle Berliner Theater unter neuer Leitung und viele jüdische Schauspieler und Regisseure arbeitslos. Ilse hört Schlimmes, fürchtet sich und beschließt, nach Paris zu fahren, wo sich schon viele Freunde aufhalten, auch Walter Mehríng, der seit Jahren zwischen Berlin und Paris hin und her lebt. Die beiden gefallen einander und ziehen zusammen, in kleine Hotels. llse liebt Abenteuer und ist womöglich auch froh, ihre Mutter auf Distanz zu haben.

Sie macht Gelegenheitsjobs und genießt, zweiundzwanzigjahre jung, das freie Leben. Sie verdient kleines Geld in den Synchronstudios von Joinville, Walter schreibt in den Boulevards. llse verkehrt in der Russischen Kolonie, lernt Ilja Ehrenburg kennen und übernimmt Gelegenheitsarbeiten im kommunistischen Verlag von Willi Münzenberg. (Münzenberg, der Medienzar der KPD, produziert im Pariser Exil die rote Agitationspresse; den Gegen-Angrıff und die Braunbücher, in denen die Verbrechen der Nazis denunziert werden.) Münzenberg ist ein bisschen in Ilse verknallt und geht gern mit ihr Russisches Billard spielen. Er füttert sie vormittags mit Croissants und beschwipst sie nachmittags mit Suze und Pastis. Bei guter Laune führt er Ilschen auch gemeinsam mit Walter zum  »Sattessen« aus.

Ilse verbringt aufregende Tage auf dem legendären Schriftstellerkongress in den überfüllten Hallen der Mutualité, lässt sich noch ein Kind  » wegmachen«, diesmal von einer Engelmacherin in der Banlieue Marnes la Coquette, und kümmert sich um den »verbrannten Dichter« Arthur Holitscher in seinem Elendsquartier in der Rue de Rennes. (Holitscher stirbt 1941 einsam in einem Männerheim der Heilsarmee in Genf. Die Totenrede hält Franz Musil.)

Noch ein letztes Mal reist Ilse nach Berlin: im Sommer 1934. (…)

In ihrem zweiten Jahr hausen Ilse und Walter in einem kleinen Zimmer unter dem Dach des Hotels Trianon in der Rue de la Harpe, wo auch Jean Genet zeitweise wohnt. Sie beschließen zu heiraten. Im Frühjahr 1935 erscheinen Ilse Winter und Walter Mehring vor dem Standesbeamten des VI. Arrondissements. Marie (Ilse Winters Mutter; A.O.) wird benachrichtigt und erhält eine Reisegenehmigung aus »besonderem Anlass«, um für drei Tage dabei zu sein, wenn ihr einziges Kind das Ja-Wort sprechen wird. Sie kennt Mehring aus Berlin und hat sich »weiß Gott« einen anderen zum Schwiegersohn gewünscht, einen, der Ilse die Flausen aus dem Kopf treiben kann und ein Ziel im Leben hat. Mehring ist für Marie ein brotloser Literat und Hungerkünstler aus dem »verdammten« Theatermilieu, das ihre Tochter auf dem Gewissen hat. Mehrings Mutter, die Sängerin Hedwig Löwenstein, eine strenge alte Dame wilhelminischer Prägung, die ihren Sohn vergöttert und der jede Frau in seiner Nähe suspekt ist, reist gar nicht erst an. In letzter Minute fürchtet sich Ilse vor einem Leben in den kleinen Hotels und einer prekären Zukunft an der Seite von Mehring. Die Boheme am Rand der Armut macht ihr Angst. So sagt sie denn vor dem Standesbeamten auf die Frage, ob sie Monsieur Walter Mehring zum Gatten nehmen möchte, spitz »Non!«, was Walter und Ilse nicht im Geringsten daran hindert, wieder in ihr kleines Hotel zurückzukehren. Das Leben hat ihr die Männer immer vorgesetzt.

ln solcher Ménage lebt Mademoiselle Winter noch ein halbes Jahr, bis sie sich entschließt, im Spätsommer 1935 nach Wien zu Tante Annie, der jüngeren Schwester ihrer Mutter, zu reisen, um wieder am Theater zu arbeiten. Sie nimmt den Nachtzug, den zur selben Zeit auch Ilja Ehrenburg auf dem Weg nach Moskau besteigt.“

(zitiert aus: Gabriel Heim: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus – Eine Mutterliebe in Briefen; Berlin: Quadriga Verlag 2013, S. 57 – 62)

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1934 Zeitschriften

Österreich debattiert 1934 über „richtige“ Literatur

GEGEN DEN LITERARISCHEN AUSTROMARXISMUS.

Nach der sieghaften Niederkämpfung des militärischen und politischen, muß nunmehr auch die Ueberwindung des intellektuellen Austromarxismus erfolgen, der, zwar nicht aus eigenem, nicht kraft seiner selbst, sondern ausschließlich vermöge der ihn tragenden politischen Macht eine ihm nie gebührende Geistesherrschaft erlangt hat, die, da sie nicht aus dem Geiste, sondern aus der Macht geboren war, inquisitorisch jede Geistesfreiheit bekämpfte. So hat die austromarxistisch-intellektuelle Despotie als nahezu omnipotente Beherrscherin von Rundfunk, Theater und Buchhandel über der östereichisch-schöngeistigen Literatur eine Cliquenherrschaft aufgerichtet, deren fabelhaft funktionierender Vergötterungs-, Auszisch- und Totschweigeapparat fünfzehn Jahre hindurch zwar nicht über Wert und Wesen, jedoch über Wohl und Wehe von österreichischer Dichtung und österreichischem Dichter entschieden hat. Und wie sie entschied: das Urteil dieser Snobschreiberlinge, Hornbrillengiganten und Goldfüllfederbolschewiken galt dem vom austromarxistischen Kulturorganisationsapparat erfaßten Großteil des literarisch aufgeschlossenen österreichischen Publikums als autoritär.

Zwar müssen wir loyalerweise zugestehen, daß der literarische Austromarxismus immerhin ein höheres Niveau pflegte, als etwa der Marxismus anderer Länder. Das jedoch ist keineswegs sein, des österreichischen Marxismus, Verdienst, sondern es dürfte mit der wesenhaft antinaturalistischen Anlage des österreichischen Menschen zusammenhängen, der, soferne er der Kunst zuneigt, einem plumpen Naturalismus – zum Klassenkampfe reizender Elendsschilderer oder sich als „Dichter“ gebenden Pansexualisten – keinerlei literarischen Geschmack abzugewinnen vermag. Hingegen ist seiner unmaterialistischen, leichten, sensiblen Art leider sehr der grazile, spielerische „wertfreie“ Aesthetizismus zugängig, der ja auch außer in dem Paris des l’art pour l’art, noch in dem Wien der Beer-Hofmann und Schnitzler seine Triumphe feiern konnte. Dieser Eigenheit der österreichischen Volkspsyche war sich der literarische Austromarxismus sehr bewußt und hat die ausgesprochen proletarische Literatur eigentlich weniger gepflegt, und wo er sie gepflegt hat, dort minder als Kunst, denn als platte Tendenzangelegenheit, als Agitation. So galten dem österreichischen Schöngeist marxistischer Provenienz auch die Becher, Barthel, Toller, Hasenclever, die Ehrenstein, Brecht, Kästner und Mehring keineswegs als Dichter, sondern als das, was sie waren, als marxistische Agitatoren; Dichter hingegen schienen ihnen, die den ästhetizistischen, dekadenten Wiener Impressionismus repräsentierenden Stefan Zweig, Felix Saltem und Ernst Lothar zu sein. Das zu betonen, ist sehr wichtig, denn der literarische Austromarxismus scheint, zumal er nie im tiefsten Schmutz der ausgesprochen proletarischen Kunst gewühlt hat, sich auch in einem neuen Oesterreich noch für existenzberechtigt halten. Doch: hätte es Oesterreich, die neben dem Flandern der Felix Timmermanns, Antoon Tlhiery, Stijn Sreuvels, Gert Walschap und Ernest Claas literarisch fruchtbarste Landschaft des Nachkriegseuropa, nötig, Macher und Routiniers zu fördern, wo es eine stattliche Zahl wesenhafter Dichter besitzt: Karl Kraus, Richard Schaukal, August Leifhelm, Heinrich Waggerl, Guido Zernatto, Max Mel, Julius Zerzer, J. G. Oberkofler, Georg Rendl und Rudolf List, Enrika v. Handel-Mazetti, Paula Grogger, Dolores Vieser, Erna Blaas und Veronika Rubatscher. Wie es auch sei: in einem christlichen Ständestaat Oesterreich darf für den ästhetizistischen Relativismus kein Raum sein.

Doch denken wir, die wir den Geistesterror der Gleichschaltung ablehnen, keineswegs daran, Bücher, die dem Großteil des literarischen Oesterreich noch für wertvoll gelten, zu verbrennen, wir wollen vielmehr dem Guten oder zumindest für gut Geltenden das Bessere gegenüberstellen: der Formalschönheit des ästhetizistischen Wiener  Impressionismus die Wesensschönheit gott- und volkverbundener Dichtung. Diese muß mehr und mehr durch Radio, Theater und Buchhandel gepflegt und verbreitet werden, und sie wird kraft ihrer selbst, vermöge ihrer Wesenheit über den Asphalt siegen. Indes genügte es keineswegs, nur die gesunde volkhafte österreichische Dichtung zu fördern, nein, wir müssen vielmehr unserer Verpflichtung für die gesamte Nationalliteratur, die heute größer ist denn je, Ausdruck verleihen und aus dieser Pflicht jene reichsdeutsche Literatur vornehmlich pflegen, die, da sie im Dienste der rechten Rangordnung der Werte steht, in einem Deutschland des Blutmythos nicht die ihr eigentlich zukommende Stellung einnimmt. Wir denken hier besonders an die Werke der Theodor Häcker, Ernst Thrasolt, Leo Weismantel, Franz Johannes Weinrich und Gottfried Hasenkamp.

W. Faber.

(Faber, N.: Gegen den literarischen Austromarxismus; in: Der Christliche Ständestaat nr. 13/1. Jg. vom Februar 1934; S. 23)

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1934 Brief Kabarett

Walter Mehring stellt Erika Mann eine Rechnung

25.8.1934

Teuerste E.M. Ausrufungszeichen

Aus Ihren werten Mustern hab ich mir das tapfere Schneiderlein ausgesucht und sende ich Ihnen selbes gleich zur Anprobe.
Mit dem Schneiderlein ist natürlich ….. gemeint, was ich energisch ableugne, weil es ganz unpolitisch ist.
Ich habs meiner (sehr häßlichen) Nervenverfassung direkt abgeboxt. Würden Sie mir das Eintreffen des tapferen, leicht monomanen Schneiderleins melden?
Und herrlich wärs, Sie dächten mal an mich aus den Geleisen Geratenen. Hier ist nämlich natürlich garnichts mehr zu wollen.
Wissen Sie nicht was in Zürich?
Und schönste Grüße an Ihren ganzen Thespiskarren
von Ihrem WM.

Und nun gehen Sie bitte mal raus und schicken Sie mir die Frau Derektern rein!

 Geehrte Dame,
 erlaube mir anbei eine Figur nach Maß nebst quittierter
 Rechnung zu senden:
 Eine Figur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  0,75 Rappen
 19 Reime à 50 Francs . . . . . . . . . . . . . . . . . 950 Francs
 Stundenlohn (Stunde 1 Franc)                   7 Francs 80 Rappen
 Zugaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Franc 15 Rappen
 _________________________________________________________________
                                              959 Francs 70 Rappen
Selbige Summe (Ausnahmepreis) bitte ich, mir höflichst anläßlich 
meiner baldigen Geschäftsreise nach der Schweiz auf mein Schweizer
Bankkonto überweisen zu wollen!
Hochachtungsvoll                                     Mehring & Co.

So Sie dürfen wieder eintreten! Ich hab bloß Ihrer Prinzipalin die Rechnung präsentiert; ne, ganz bescheiden, weils doch für Sie ist! Sind doch ’ne alte Kundin von mir! Schärfen Sie ihr doch bitte noch mal ein, daß sie mir die paar Pfennige in der Schweiz auszahle, wohinnen ich komme!                Derselbigte

Kleine Gebrauchsanweisung: man kann selbiges Chanson leicht und einfach szenisch gestalten, indem daß man die übliche Schneiderpuppe aufstellt, sich außerdem einer großen Schere und einer Nadel bedient, auch eines Lappens, um nach den Fliegen zu schlagen.
Man trage das Chanson unpathetisch vor und etwas keifend, dergestalt, daß der Diktatorfimmel des Schneiderleins lächerlich wirke.
In der ersten Strophe wird genäht – Refrain Anfang parlando; der Schluß wieder gesungen.
Zweite Strophe wird anprobiert – Spiel mit der Schneiderbüste und dem daran hängenden Rock – bei: Oh es kneift Sie im Schritt wird das Schneiderlein wieder ängstlich und devot…
(Sieben Fliegen) wütend gesummt…
Es waren ihrer sieben – das war nicht übertrieben: zum Publikum als Einwand auf jeglichen Protest…
In der dritten Strophe hantiert das Schneiderlein zuschneidend wild mit der Schere Refrain: erste beide Zeilen ganz parlando, sehr einfach konstatierend gesprochen (bloß nich pathetisch!).
Zu den letzten zwei Zeilen: die Schere mit der Rechten aus der linken Hand ziehen wie ein Schwert aus der Scheide und die Schere dann zum Schluß hochhalten wie ein Schwert!

Erika Mann: Briefe und Antworten(Dieser Brief Walter Mehrings ist erschienen in: Mann, Erika: Briefe und Antworten; Hg. v.: Prestel, Anna Zanco; München: Edition Spangenberg 1984; Bd. 1, S. 52 ff. 
Das Chanson, um das es in dem Brief geht ist „Die Vogelscheuche“.)

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1934 Lyrik

Mehring im niederländischen Exil-Band „Brandende Woorden“

Brandende Woorden uit DuitschlandGedichte von Erich Kästner, Walter Mehring, Ernst Toller, Erich Arendt, Max Ophüls, Alfred Kerr, Emil Ginkel, Kurt Tucholsky, Johannes R. Becher, Erich Weinert, Erhard Winzer und Oskar Maria Graf sind in dieser Anthologie deutscher Exildichtung aus den Niederlanden versammelt. Auf 47 Seiten Martien Beversluis eine einigermaßen repräsentative Auswahl nicht nur zusammengestellt, sondern auch übersetzt. „Brandende Woorden uit Duitschland“ heißt der Band – Verbrannte Worte aus Deutschland.

Beversluis (1894 – 1966) stammte aus einer Pfarrersfamilie. Er dichtete und engagierte sich für die sozialistische Sache. In dieser Phase entstand auch dieser Band bei den Buchfreunden Solidarität (Boekenvrienden „Solidariteit“) in Hilversum. Aber sein linkes Engagement blieb temporär. Später mutierte er zum Nationalsozialisten, für deren Partei niederländische Partei er sogar Bürgermeister einer Kleinstadt wurde. Seine eigene Dichtung schreckte in den 1940er Jahren, den Jahren der deutschen Besatzung auch nicht vor antisemitischer Hetze zurück.

Doch im Jahr 1934 war das noch nicht absehbar. Beversluis arbeitete damals beim Arbeiter Rundfunk Verein (VARA). Hier lernte er Heinhz Kohn kennen, dem er bei seinem Verlagsprojekt Boekenvrienden „Solidariteit“ unterstützte. Els Andringa führt in seinem Buch über das Geflecht der deutschen und niederländischen Verflechtungen des Exils allerdings aus, dass Beversluis trotz seines späteren Antisemitismus keinen seiner Bekannten aus seiner sozialistischen Phase verraten haben soll.

Ein gutes dreiviertel Jahr nach der Bücherverbrennung in Berlin war das kleine Buchprojekt durchaus wichtig. Es zeugte tatsächlich von Sildarität. Und es versuchte Interesse für die verbannten Autoren und ihre verbrannten Texte zu wecken.