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1921 1961 Prosa

Walter Mehring: Tucholsky, der Vamp und die Canaille

René Droz (Hg.): Marlene Dietrich»Das Wort Vamp wurde erst Mode, als es die Frauen, die es bezeichnen
sollte, schon nicht mehr gab …«
Walter Mehring

Als ich Walter Mehring fragte,wie er den Vamp definierenwürde, lächelte er milde und sagte, daß selbiger nicht zu definieren sei. »Der Vamp, den Ihr Jungen von der Leinwand kennt, ist ja ohnehin nur ein Abklatsch. Damals in Berlin … da stand er vor uns, auch wenn wir dieses Schlagwort nicht dafür brauchten. Diese Künstlerinnen waren so einmalig, daß sich jeder Versuch, sie unter einen Sammelbegriff einzuordnen, von selbst verbot … Damals gab es auch noch Schriftsteller, welche diese Individualität zu schildern vermochten. Wenn ich nur an Valeska Gert denke und an die großartige Charakterisierung, welche Tucholsky von ihr gegeben hat …« Vielleicht besitze er das Heft der »Weltbühne« noch. Dann würde er es mitbringen. Tucholsky habe in wenigen Worten das Wesen des Vamps für immer festgehalten, und dies zu einer Zeit, wo der Vamp, ohne daß er diesen Namen trug, eine lebendige, künstlerische Realität war…

Die erwähnte Kritik hat Kurt Tucholsky 1921 geschrieben, und dort liest man folgende Sätze:

»In den Lichtbogen schlurft eine Schlampe in Schwarz, der rote Halsbesatz deckt den Kopf ab – einen verluderten, unfrisierten Kopf. Wer ist das? Was ist das für ein Gesicht? Die ,Vorstadtdirne‘ von Toulouse-Lautrec ist eine Gräfin dagegen – gegen diese Nutte. Gleichgültig schieben sich die Schulterblätter hoch – gleichgültig schiebt sich das gemietete Stück Fleisch aus der Auslage durch die Straße. Und wird von einem Kerl ergrifien – und produziert das Frechste, was wohl je auf einer Bühne gemacht worden ist. Die Beine öfinen und schließen sich. Und Gleichgültigkeit, Krampf – dennoch Krampf! – und Geldgier schütteln den ausgeschaukelten Körper: eine Lues und die Heilsarmee kämpfen mit gleicher Inbrunst um diese arme Seele. Wer sich je bei den ,berüchtigten Berliner Nackttänzen‘ nach dem Laster gesehnt hat: hier ist es. Und noch nie habe ich so verstanden, wie Lust und Qual auf demselben Loch gepfiffen werden. Und dann haucht sie die letzte Lust aus, spuckt aus, ohne es zu tun – und versinkt.

Diese ,Canaille‘ ist eine wahrhaft geniale Leistung …« [1921]

Aus: René Droz (Hg.): Marlene Dietrich; Zürich: Sanssouci Verlag 1961, S. 17 f. Das Zitat findet sich in: Kurt Tucholsky: Valeska Gert; in: Die Weltbühne, 17. Jahrgang, Nr. 7, S. 204.

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1962 Biografisches Prosa

Walter Mehring würdigt George Grosz für die Akademie der Künste

Katalog der Ausstellung "George Grosz 1893 - 1959" der Akademie der Künste 1962

Entdeckt hatte ihn Theodor Däubler, der zeusgemähnte »Nordlicht«epiker, der italo-deutsche Künder des Neuen Standpunktes der Braque und Picasso, Modigliani und Klee,  deren kraß blasphemischer Antagonist George Grosz War. Doch Däubler protegierte, verteidigte ihn fast väterlich gegen alle damals »ultramodernen« Ismen; gegen Herwarth Waldens expressionistische STURM-Kunstdogmen; ja im Widerspruch eigentlich zu seiner eignen Ästhetik – zusammen mit der Psalmistin Else Lasker-Schüler, dem »Morgue«lyriker, Dr. med. Gottfried Benn. Und brachte auch mich zu ihm; in sein West-Berliner Vorstadtatelier, vierter Stock. Draußen war alles Feldgrau. Im Türrahmen stand, als er im blutrot beklecksten Kittel uns öffnete, sein Kolossal-Ölgemälde: »Reminiszenz an die Einfahrt in Manhattan« (der Hudson; die Tavernen von Battery; die Hobokenwerften),  wohin er erst, 15 Jahre später einreisen und emigrieren sollte. Nun, damals, wenn der gerade wegen »Unzurechnungsfahigkeit frontdienstuntauglich (d. u.)« erklärte Grosz, George, Kunstmaler (der Marschall Böff der Dadaisten), an seinem Zeichenstehpult werkte, pflegte er jedem zufällig Anwesenden gleich den ganzen Lebenslauf seiner Karikaturmodelle, die er gerade sezierte und anpinselte, zu erzählen. Er schauspielerte sie nach: ihr Gebaren; ihre Gebrechen; ihre Gesinnungen, die er sofort mit ihnen stets wechselte; ihren habitus, so verblüffend steckbriefähnlich, daß man jeden gleich an der nachsten Straßenecke, im engsten Familienkreise identifizieren konnte: den Kommiß – den Pantoffelhelden, den kleinen Mann – – –

– Mensch! Böff! Das ist ja mein seliger Onkel Max . . . wie er leibte und lebte!

– – – Stimmt! lst er auch! War er auch . . . Liebte Kanarienvögel bis man ihn eines Morgens aufgehängt fand – eigenhändig  Käfigkomplex, Walt!

Stimmte! Auf den Haarpinsel genau; derart, daß man sich fragte: was war zuerst da? Seine Sujets, seine Subjekte: die Uniformfratze des ersten Weltkriegsfaschings – die papierene Schweinsrüsselmaske des Inflations-Aschermittwochs, die heimtückisch versächselte  Spitzelbartvisage des Haustyrannen, des Barrikadenagitators? Das suffisante Geschau des Proletkultpoeten? »Das Gesicht der Herrschenden Klasse«? – Oder vorher die (sprichwörtlich gewordene) »George-Grosz-Type«? Das Pandämonium des lausigen Alltagsgewimmels; das Vanity Fair (Jahrmarkt der Eitelkeiten) der Arroganz und der Eleganz; ihrer Exzellenz- und Prominenz-Welt- und Halbweltelite; ihrer protzigen Feierlich- und Lustbarkeiten; der sturköpfigen »Masse Mensch« ihrer Kasernen-Fabrik und Agraruntertanen; samt und sonders in Strichätzung eingraviert; auf die Spitzfeder aufgespießt – und wegradiert . . . »Der Spießerspiegel« – »Ecce Home!« . . . Seinem unsterblich markantesten Blatt, seinem »Christus mit der Gasmaske« hatte eine Hohe Staatsanwaltschaft, 1928, den Schauprozeß gemacht – wegen Gotteslästerung (§ 166 StGB). Doch Grosz war alles andere als ein Vereins-Atheist; vielmehr ein zeichengläubiger Nachfahr der frühgotischen Altar- und Schildermaler, die die Verhöhnung, Verspottung, Schändung des gekreuzigten Menschensohnes weit brutaler gegeißelt hatten . . . war der streitbarste Kennzeichner der Wilhelminischen Ära und ihrer unausrottbar fortwuchernden Vergangenheit; ihrer teutonisch-hunnischen Fauna. Gar nicht lag ihm der marxistisch verschönte Edelproletarier mancher Cartoons, die er, lieblos, an Parteiwitzblätter ablieferte (»Die wollen doch das so!«).

Auf all seinen Auslandsreisen entdeckte er immer bloß diese ihm heimische Groteske.

Von seiner Rußlandlahrt mit Andersen-Nexö – als propagandagefütterter Ehrengast der Sowjet-Union – brachte er nicht eine Skizze mit; dafür aber ein Konvolut boshafter Tagebuchaufzeichnungen – als geborener Greuelerzähler, und einst auch Satyrpoet . . . Nichts aus ltalien; aus Frankreich einige Straßenszenen (»S0uvenir de Paris – für Walt« . . . Ein (P0lizei)-»flic«; ein »matelot«; ein (Vespasienne) – Pissoir – und dahinter der Eiffelturm; sehr schmissig, doch unpariserisch). Aus seinen letzten Lebens- und Wahlheimatsjahren in den USA – was blieb als Ausbeute? Die »Bowery«-Nachtasyltramps; »Flaneure« (die spezifisch buntscheckig karierte, geschminkte Mischung von 42. street, Ecke 8. Avenue; die Barbershops und Bar-Leuchtreklam); die schillernde Sky-line der W0lkenkratzer-Kastelle . . . Die hätte er sich ebenso gut in Berlin ausmalen können; ja turbulenter, wie in der Chicago-Fata-Morgana seiner Frühwerke. Die obligaten »Cape Cod« – die konventionellen Texaslandschaften (für einen Warenhauskonzern) – charakteristisch höchstens durch die Pinselschrift . . . Die »Stickmen« (die Besenstielmänner; das Fahnenloch hoch!); eigens für eine Kunstsalonschau fabriziert (»Surrealismus ist doch jetzt Mode!« meinte  er).  . . . In seinem Long lsland Cottage-Atelier – es glich ganz seiner Berlin-Lichterfelde-Klause, tapeziert mit Zirkus- und Varietéaffichen; Kitschpostkarten; Michelangelo- und Matthias-Grünewald-Reproduktionen, möbliert mit Kisten voller akademischer Aktstudien (des Lehrers, Prot. Grosz der »ART STUDENT LEAGUE«); auch Pornographik in der Pieter-Breughel-Manier . . . Dazwischen auch handkolorierte Darstellungen der KZ-Schrecken, denen er gerade noch rechtzeitig entwischt, war; kannte sie nur aus Schilderungen ihm befreundeter Refugees; konnte sich aber in ihre und die Geistesverfassung ihrer Folterknechte so lebhaft einfühlen, wie Dante in die Monstren des Höllenpfuhls . . .  Den hatte er übrigens einmal für eine Pocketbook-Edition bebildert; hatte dazu die Botticelli-Entwürfe studiert; hatte mich ersucht: »Walt! Noch einen Whiskey? Unterstreich mir doch alles mir Illustrierbare! Kennst mich ja!« . . .  Heraus kam eine preußische Travestie der Divina Commedia.

Ganz zuletzt, vor seiner Heimkehr (auf einer Postkarte: »Dear Walt! Ich will doch gar nicht zurück! Es muß aber so sein! Auf bald, in Europe!«), hatte er noch einmal, vom Grauen gepackt, in einer Torschlußpanik, den eisigen Albtraum einer Roten Kosackeninvasion
graphologisch fixiert. Zwei Proben dieser Serie erschienen im »LIFE«-Magazin, posthum . . . 14 Tage nach seinem Herzinfarkttode im Hausflur des Berlin-Charlottenburgplatzes; im Geburtshaus seiner EVA, seines Idealmodells, mit der er dort einst Hochzeit gefeiert hatte. Sie folgte ihm, aus Ascona, wo sie mich noch, schwerkrank, besucht hatte, übers Jahr ins Grab an der Potsdamer »Heerstraße«.

George Grosz! Was war er nun wirklich? Ein genialer Karikaturist – monoman, schizophren – des großenwahnwitzigen Über- und Untermenschen, als der er sich jedem Besucher (Beschauer) der Gedächtnisausstellung in der Akademie der Künste offenbaren wird.

(Entschuldige, Böff, wenn ich nicht dabei bin . . .  »Nö, tue ich nicht« . . . Ich kenn Dich doch, Strich für Strich, in- und auswendig, unvergeßlich! Dein Walt.)

WALTER MEHRING

(Dieser Text ist erschienen in: Friedrich Ahlers-Hestermann (Hg.): George Grosz 1893 – 1959, Katalog zur Ausstellung der Akademie der Künste; Berlin: Akademie der Künste 1962; S. 15 ff).

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1937 Prosa Zeitschriften

Die Friedensgefahr

Man erfährt, daß die japanische Regierung, um den Frieden nicht zu gefährden, an die öffentliche Meinung die drakonische Bitte gerichtet hat, bei der unter Verwendung von Bombengeschwadern, Tanks, Panzerschiffen und anderen modernen Hilfsmitteln ausgeführten Erkundungsexpedition nicht gleich von einem japanisch-chinesischen Krieg zu reden, sondern schlicht von einem „chinesischen Konflikt“.

Wenn diese Methode, die bereits bei der Befriedung Abessiniens erfolgreich angewandt wurde, Allgemeingut wird, so steht ein alter Menschheitstraum vor der Verwirklichung: nämlich die Abschaffung der Kriege. Ganz einfach kraft Abschaffung des Ausdrucks.

Auch ist durch diese Methode stets von vornherein die Kriegsschuldfrage geklärt – zu Gunsten des Angreifers. Das ganze Unheil, der ganze Konflikt kommt daher, daß die Chinesen so tun, als ob der Krieg wäre und zurückschießen, obwohl es sich von Seiten Japans um eine militärische Operation zum Heile Chinas handelt. Hat man je erlebt, daß der Patient bei einer Operation dem Chirurgen den Blinddarm herausnehmen will?

Und die Chinesen haben es dabei nicht bewenden lassen! Aus ihren Reihen hat die Cholera auf die siegreichen japanischen Gäste übergegriffen, obwohl , wie der japanische Generalstab festgestellt hat, „der Gesundheitszustand der Truppen vorher durchaus befriedigend gewesen ist!“ Ein für allemal ist vor der Welt der Anstifter überführt worden. Kein einziger japanischer Patriot ist ausgezogen, um sich die chinesische Cholera zu holen. Hingegen haben die Chinesen, allen Geboten der Humanisierung von Konflikten zum Trotz, den friedlichen Eroberern statt des Landes ihre Epidemie abgetreten.

Und auch damit nicht genug, ist hinter dem Rücken der bewaffneten japanischen Ausflügler im Augenblick, in dem sie ballistische Experimente an der chinesischen Ostküste anstellten, ein chinesischer Taifun über die japanische Westküste niedergegangen, hat 200 Fischerboote versenkt, 46 japanische Häuser mit Sturmbomben belegt, die Drähte der telegraphischen Siegesberichte zerstört, während die Zahl derjenigen, die Harakiri machten, weil sie vom nationalen Unglück verschont blieben, noch nicht bekannt ist.

Nur die eiserne japanische Disziplin ist es zu danken, daß die Nation, selbst angesichts einer Naturkatastrophe, ihre lächerliche Kaltblütigkeit bewahrt hat und sich nicht dazu heinreißen ließ, die Feindseligkeiten gegen die landfremden chinesischen Eingeborenen einfach einzustellen.

Die gelbe Gefahr, vor der Wilhelm der Zweite die Völker Europas gewarnt hat, bevor er Deutschland ins Exil schickte, ist, seit Japan den Krieg gebrochen und China mit Frieden überzogen hat, wieder akut geworden. Seit Jahren steigern die europäischen Staaten ihre Rüstungen für Friedenszwecke ins Unabsehbare; nur ein Mittel scheint es logischerweise zu geben, um diesem Wahnsinn ein Ende zu machen, das ist: der Krieg! Man zittert vor der Möglichkeit, daß wirklich ein Diktator auf die Idee kommen sollte, sich beim Wort nehmen und seinen Friedenswillen in die Tat umzusetzen.

(Diese Glosse „Die friedensgefahr“ Walter Mehrings ist am 18. September 1937 im Neuen Tag-Buch erschienen und bezieht sich auf die kriegerische Expansion Japans in China. Angesichts der aktuellen Ereignisse in der Ukraine, liest sie sich in Teilen – wenn man Japan gegen Russland und China gegen Ukraine austauscht – hochaktuell. A.O.)

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1925 Prosa Rezensionen

Max Herrmann-Neiße analysiert Mehrings Prosa

Walter Mehrings Prosa

Algier oder Die 13 Oasenwunder (1925)
Algier oder Die 13 Oasenwunder (1925)

Schreiben aus der Technik des Schreibens heraus, aus der überlegnen Freude an der Beherrschung des Apparats, aus einem berechtigten Handwerksstolz existierte bisher in deutschem Schrifttum kaum. Hier gab es immer nur zweierlei: einmal das Schreiben um einer Idee oder um einer Gefühlspropaganda Willen (und mancher, der beides nicht hatte, täuschte es vor, schminkte sich Idee oder Gefühl an, borgte sie sich), dann die snohistische L”art-pouı‘-l’art-Tändelei, den Luxus der Selbstbefriedigung, eine sinnlose Kunst „an sich“. Damit darf man das, was ich im ersten Satz nannte, nicht verwechseln, was ja kein eitles, nutzloses Hantieren im abgesperrten Raume ist, sondern gar sehr die Wirkung auf jedermann erstrebt und diese Wirkung auch trefflich zu berechnen und hervorzurufen weiß. Schreiben aus der Technik heraus wird dieser Technik auch einen Willen unterlegen, wird die Meisterschaft für einen vernünftigen Sinn einsetzen, auf festem Boden stehen, nicht ins Blaue dunstiger Kniffligkeiten faseln.

Es ist kein Zufall, daß derartige literarische Handwerklichkeit vorläufig am ehesten zu finden ist bei ausgesprochen revolutionären, aber zielbewußt und nüchtern fit eine politische Überzeugung eintretenden Schriftstellern (wie Jack London, Franz Jung und andrerseits bei dem anarchistischen Walter Serner. Auflösung und Aufbau berühren sich in ihren Formen. Aber es ist bezeichnend für die Direktions- und Instinktlosigkeit unsrer offiziellen Wertung, daß man den sonst allenthalben angewandten Maßstab des Könnens, der technischen Sicherheit, in der Literatur nicht gebraucht, im Gegenteil, heut Schludern, Leichtfertigkeit, Ratlosigkeit als Kriterium einer genialen Begabung annimmt.

Nun hat unser stärkster Kabarettdichter, Walter Mehring, mehrere Prosabände veröffentlicht, die alle das eine gemeinsam haben: Leichtigkeit der Komposition und instinktíve, ursprüngliche Sprachkultur. Es wäre falsch, zu sagen, es kommt dabei mehr auf das Wie als auf das Was an, aber beides befindet sich im Einklang, und das gemeinsame Fundament ist eine gleichermaßen unbarmherzig fröhliche und herzhaft bittre, ganz unabhängige Verarztung der Welt. Das erste Prosabuch hieß „In Menschenhaut, aus Menschenhaut, um Menschenhaut herum“ (bei Gustav Kiepenheuer, Potsdam. Mit Zeichnungen von Rudolf Schlichter) und enthielt bereits reife Früchte eines großzügigen Arrangiertalents. Diese knappen, kurzweiligen, phantasiereichen Skizzen sind selbständige Exemplare der Kurzgeschichte in Deutschland, auf köstlichen Originaleinfällen aufgebaut, eine wirklich anregende Lektüre, auf einer Mischung von Geist und Herz, Hirn- und Bluterlebnis beruhend. Lästerliches und Idyllisches, Spuk und Lyrik halten sich die Waage, menschliche Wahnvorstellunng wird attackiert, der Popanz als solcher entlarvt, Bürgerliches mit guter Groteske spielend erledigt. Am stärksten von den aggressiven Stücken ist „Unsterblichkeit“, das mit handfester Bealistik die Einzelheiten militärischen Betriebes gestaltet und ihn durch die Wanzenperspektive drastisch kennzeichnet. Ebensogut gelangen die positiven Prosagedichte in der Zärtlichkeit ihrer Anteilnahme: da ist die reizvolle Verschlungenheit von „Bouquins, bouquinistes, bouquineurs“, die
diffizile Tragik „Vom Mann, der die fünf Minuten verlor“, die graziöse Erotik des Märchens vom „Lederstrumpf“, endlich das Bravourstück der trocken gebrachten Abenteuergeschichte „Die Thöle“.

Das in sich geschlossene Brevier einer imaginären und doch sehr robusten Meerfahrt ist „Westnordwestviertelwest oder Über die Technik des Seereisens“ (im Verlag Elena Gottschalk, Berlin. Mit Umschlagbild und Textzeichnungen von Walter Mehring). Elf noch kürzere als Kurzgeschichten, norddeutsche Altenbergiaden eines schnurrigen Ringelnatzbruders, aber beileibe weder Altenberg- noch Ringelnatz-lmitationen, sondern wieder etwas eigenes, Gebilde, die scharfen Blick für des Lebens kuriose Kleinzüge und Freude am Fabulieren merkwürdig vereinen und immer signiert sind mit der Stimmungsnuance ihres Autors, der guten Zusammenstellung: Skepsis und Liebe zu den Dingen dieser Welt. (Skepsis allein ist ebenso unfruchtbar, unnütz, billig wie eine blinde, rührselige, von sich selbst besoffne, hemmungslose Hingabe wahl- und distanzlos an jeden Dreck!) Und nicht der kleinste Zauber des Buches ist seine undefinierbare Balance in einer Zwischenlage zwischen Ernst und Ironie, Sachlichkeit und Lust am Spintisieren, daß in gleicher Überzeugungskraft die Unterhaltung von Kapitänen, die mönchische Abgeschiedenheit der Feuerschiffe, die Vision der Seehundsmenschen, der unbeholfen liebe Brief eines kleinen Mädchens und die nicht ganz klaren Verhältnisse im scheinbar recht vielseitigen Laden der englischen Siedlung Jarrow getroffen sind. „Bouquins, bouquinistes, bouquineurs“ hatte schon Mehrings Abenteurerneigung zu den abenteuerlichen Mysterien alter Schwarten verraten, eine sehr begreifliche Neigung aller Phantasten, an phantastische Tradition anzuknüpfen, aller Ironiker, sich magisch zu maskieren und in den Absonderlichkeiten vergangenen
Geheimniskrams und Luftgespinstes herumzustöbern.

Solcher Lust (die auch schon im letzten Abschnitt seines Kabarettbuches „Das Ketzerbrevier“ geisterte) frönt leidenschaftlich der Band „Neubestelltes abenteuerliches Tierhaus. Eine Zoologie des Aberglaubens, der Mystik und Mythologie vom Mittelalter bis auf unsre Zeit“ (Gustav Kiepenheuer, Potsdam). Mehring nimmt sich darin der Geschöpfe an, die in den Akten einer zünftigen Zoologie nicht registriert wurden, der Fabelviecher und Merkwürdigkeiten wie Einhorn, Drache, Basilisk, Lintwurm, Greif, Seeschlange und bürgerlicherer Monstra: die Ziege mit zwei Köpfen, das schlesische schwarze Schwein, die Zeitungsente. Satire und Mystik feiern Schlachtfeste ihrer Verwandtschaft, und noch in so gelehrsamen, durch die rarsten Zitate beglaubigten Traktaten ist Mehrings Angriffslust aktuell rege. So wird endlich einmal konstatiert, daß auch die menschliche Überhebung übers Tier Zeichen antisozialen Sinnes und Kastengeistes ist, Herrenanmaßung, die gottgewollte Abhängigkeit des Tieres vom Menschen zu proklamieren. Einen noch gröberen Schlag bekommt der Stolz mit der Versicherung, wie zufällig die Seele einen Menschenkörper bewohnt, wenn der Dünkel gezwungen wird, sich in eine Heuschrecke zu verwandeln, der Herr Wirkliche Geheime Rat im Polizeipräsidium, Abteilung la, plötzlich als Insekt hilflos umzulernen sucht. Irgendwo existiert das Namenlose, ein Sackermentsding, das jeder Definition spottet und für solche Extravaganz in unsrer Zeit geschäftlich nüchterner Ordnung schwer büßen muß, indem es als Fabrikzeichen für Bitterwasser ein blamables Ende nimmt. Die Parole dieser ehrfurchtslos nur dem Nützlichkeitswahn huldigenden Epoche wird prägnant auf die Formel gebracht: „Quäle nie ein Tier zum Scherz, wenn du nicht Gelehrter bist!“ und präzis genug ausgesprochen: „Die Geschichte der Zivilisation, das ist die Geschichte der falschen Scham und beginnt schon im Paradiese. – Scham ist die Angst vor der Natur, vor den Trieben und Ungeheuern.“ Die Schöpfungsgeschichte erfährt eine Beleuchtung von revolutionärem Standpunkte aus: da ist die paradiesische Schlange die „Todfeindin aller Regierungen“, die die Privilegien, „die Früchte der Erkenntnis und die Schätze der Erde, zu deren Hüterin sie bestellt war, an die Menschheit auslieferte“. Schließlich siegt eine nüchterne Götterdämmerung, das Ungeheuer Moral erledigt die ungeheueren Tiere und beschert dafür der Menschheit die negativen Ungetüme, Bakterien und Mikrokokken. Wir Poeten aber flüchten uns zu entzückenden Besuchen bei dem sympathischen alten Weib, das um Grönland herum bei ihrer Tranlampe zutiefst im Meere sitzt und das von Zeit zu Zeit die Walrosse mit ihren Riesenzähnen lausen, sind gern zu Gaste beim Weiland Herrn von Megenberg in seinem kuriosen Aquarium, gut Freund mit Meermönch, Meerbischof, Meerfratz, vertraun uns lieber Schäfern und Spökenkiekern an als der täglich dementierten Zeitungs-„Wahrheit“. Lieben den Bieresel, der alles zerwirft, wenn ihm nachts nicht ein Krug mit Bier an einen bestimmten
Ort gesetzt wird, und sind natürlich herzlich gern in „Wirtshäusern nach Feierabend“, die viel Spukiges haben „durch jenes rätselhafte, menschenverlassene Durcheinander, in ihrer tristen Öde voll von Spuren besoffenen Radaus“. Diese Registrierung vergeht nicht mit Vergangenem, notiert sich flink bis auf die jüngste Gegenwart durch: die Folies-Bergère-Revue schließt sich den Schimären von Notre-Dame an, und die Tiller-Girls tanzen in den Hexensabbat, bis der Kilometerfresser Auto, der Drache von heut, alles in Angst setzt. Menschen mit Tierköpfen spazieren neben uns, Geier mit Intelligenzbrillen, Wirtinnen, die ihre Gäste in Schweine verwandeln, Generäle mit Bulldoggenschädel, verzerrt durch Bigotterie. Was ähnliche Typen vergangner Zeiten als Werwolf schreckte, heißt heut kraß plakatiert „Bolschewistenscheusal“. Es liegen die halb ernsthaften, halb skurrilen, absichtlich barocken Exkurse dieses prächtig vielseitigen Buchs ganz in der Sphäre jener bewußten Lebens- und Philosophietravestien, wundervollen Wunderlichkeiten, antiphilologischen Belesenheitsorgien, deren scheinbare \/Vindigkeit sehr schnell Sturm werden kann und deren Tollheit zuletzt die sehr klare Abrechnung mit einer nüchtern ungerechten Welt wird. Diesen Bogen mit Namen wahllos zu kennzeichnen: Rabelais, F ischart, Christian Reuter, Sterne, Jean Paul.

Aus dem Aufgehen, Sicheinleben in solch putzige Luft, in ihren Stil und in ihren erfreulich unabhängigen, dreisten Geist schuf Mehring schließlich eine ganz unvergleichliche Nachdichtung von Balzacs „Contes drôlatiques“, die unter dem Titel „Trollatische Geschichten“ in der schönen, handlichen Balzacausgabe des Verlages Ernst Rowohlt, Berlin, erschien. Es mußte einer kommen, der das Gefühl hat für sprachliche Besonderheiten, Abnormitäten, Revolten (die auch geistige sind), um die nach Regis beste Übertragung dieses unbefangen saftigen, aus richtiger poetischer Spiel- und Verkleidungefreude gewachsnen Werkes in ein kongruentes Altertümlichkeitsdeutsch der Fischart- und Katzipori-Schwänke zu schaffen. Es wurde kein Altertümeln und Verschnörkeln daraus, sondern die Transponierung in ein Deutsch, das die Sprachkraft von einst jedem, der heut überhaupt Gefühl für Sprache hat, verständlich macht, herznah bringt.

Max Herrmann-Neiße: Walter Mehrings Prosa; erschienen in: Die neue Bücherschau, 3. Folge, Heft 5, Berlin: 1925

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2013 Dramatisches Prosa

Sven j. Olsson dramatisiert Mehrings Müller

Müller - Chronik einer deutschen Sippe, dramatisiert von Sven j. Olsson (2013)
Müller – Chronik einer deutschen Sippe, dramatisiert von Sven j. Olsson (2013)

Walter Mehrings „Müller – Chronik einer deutschen Sippe“in einem Kindertheater-Verlag zu publizieren ist schon gewagt. Aber Sven j. Olsson will, dass der Text aus dem Exil nicht vergessen wird. Und so hat er sich vorgenommen, diesen Roman über den deutschen Untertanen in eine neue Form zu bringen, um ihn einer neuen Generation nahe zu bringen.

Dazu nimmt sich Olsson vor, den Text so weit wie möglich in seine Bühnenfassung einzubinden. Mehrings Ritt durch fast zwei Jahrtausende Deutschtum seit Tacitus folgt er. Eine Fülle von historischen Szenen wechseln sich ab, viele Müllers kommen dabei nur sehr kurz vor. Das erschwert auf der einen Seite das Verstehen der einzelnen Müllers. es macht auf der anderen Seite aber die dramatischen Effekt der Herausbildung eines Typus leicht. Denn egal in welchem Deutsch der Müller spricht, egal in welcher Zeit er beheimatet ist, er duldet die Obrigkeit nicht nur. Nein, er verehrt sie geradezu.

Olsson legt das Theaterstück nicht nur in der Abfolge der Müllers in ihrer jeweiligen Zeit wie den Roman an. Er folgt Mehring auch in der Rahmenhandlung. Auch auf der Bühne verortet er den Dr. Armin Müller, den Oberstudienrat des Königlischen Wilhelms-Gymnasium, der als NSDAP-Mitglied um seinen arischen Stammbaum und damit die Anerkennung des von ihm so bewunderten Systems kämpft. Anders als im Roman wird Armin Müller viel stärker als verbindendes Glied im Textgefüge eingesetzt. Er ist in und zwischen den Szenen immer wieder in seinem Kampf um den Ariernachweis zu sehen. Das festigt das Stück sehr, gibt ihm Kontur uns den jugendlichen Zuschauersn, für die die Dramatisierung ja verfasst wurde, den Halt, den sie benötigen dürften, um dem Stück zu folgen.

Olsson arbeitet zudem mit dem „Lied der Straßenkehrer“ und weiteren Versen Mehrings, um dem Stück Halt und Schwung zu geben. Er legt des Text als einen rasanten Wechsel von Zeitebenen, Bühnenebenen und Rollenwechseln der Schauspieler an. Das kann, wenn es gut inszeniert ist und die Schüler Spaß am Spielen haben, bestimmt sehr gut werden. Es birgt aber auch die Gefahr, dass sich in der großen Vielfalt des Geschehens das Stück im Klamauk oder im Bühnenchaos verliert. Auf jeden Fall ist die Dramatisierung von „Müller – Chronik einer deutschen Sippe“ ein Stück, das es wert ist, auf der Bühne ausprobiert zu werden. Wer die Inszenierung des „Kaufmanns von Berlin“ in der Berliner Volksbühne gesehen hat, kann sich vorstellen, dass Olssons Müller-Fassung besser beim Publikum ankommt als Castorffs Kaufmann. Denn die Kraft der Satire, die in Mehrings Müller steckt, hat Olsson auf jeden Fall erhalten. (A.O.)

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1979 Biografisches Prosa

Pressetexte zur Werkausgabe – Wir müssen weiter

Walter Mehring

WIR MÜSSEN WEITER
Fragment aus dem Exil
160 Seiten, geb., claassen Verlag GmbH, Düsseldorf, DM 19,80

Wir müssen weiter - Fragmente aus dem Exil (1979)
Wir müssen weiter – Fragmente aus dem Exil (1979)

Walter Mehrings Erinnerungen an Flucht und Exil in Österreich, Frankreich und USA umfaßten ursprünglich 800 Seiten. Das Manuskript, das unter dem Titel „Topographie einer Hölle – Reportagen der Unter-Weltstädte“ veröffentlicht werden sollte, ging 1976 „irgendwo zwischen München und Zürich“ verloren. Erhalten geblieben sind ca. 400 meist handgeschriebene Manuskriptblätter: Entwürfe, Notizen, Durchschläge einzelner Manuskriptseiten, aus denen sich einige Zeitabschnitte rekonstruieren ließen.

Unter dem Titel „Hitler saß uns auf de Versen“ beschreibt Mehring die Stationen seines Exils in Österreich und Frankreich und die Apokalypse seiner Flucht vor den Deutschen. So enthält der Band Kapitel über

– den Ausnahmezustand in Wien kurz nach dem Attentat auf Dollfuß, die letzten Stunden vor dem Anschluß Österreichs,

– Schicksale der in der „buckligen Fremdengaststätte und Exilkommode“ wohnenden Emigranten,

– Horvaths Tod,

– die Treffs der Pariser Bohême,

– die letzten Tage von Paris vor dem Einmarsch der „boches“,

– die Flucht von Paris über Bayonne und Toulouse nach Marseille,

– Paßfälscher, Denunzianten und die um freie Caféhausplätze streitenden Literaten in Marseille,

– das demütigende Anstehen vor den Polizeipräfekturen um Übersee- und Niemandslandpässe,

– die Verhaftung in Marseille und die Internierung im Lager St. Cyprien,

– die Flucht mit einem Frachtdampfer in die USA.

WIR MÜSSEN WEITER ist keine Biographie einer außer Rand und Band geratenen Zeit, sondern ein sehr persönliches, manchmal zorniges, manchmal satirisches, manchmal dadaistisches, manchmal pamphletisches Erinnerungsbuch eines Betroffenen.

Mehring zerstört die Legende von der antifaschistischen Einheitsfront, zeigt politische Widersprüche unter den emigrierten Intellektuellen, schildert Fehden um Ausreisepapiere, macht eindringlich deutlich, was Emigration heißt – jeden Tag die angstvolle Frage: was bringt der nächste Tag? Werden wir durchkommen?

Walter Mehring,
geboren 1896 in Berlin, entging seiner Verhaftung durch die SA nur knapp, emigrierte nach Frankreich, wurde 1939 interniert und konnte 1941 in die USA entkommen. Mehring lebt heute zurückgezogen in Orselina bei Locarno. Bisher sind erschienen:
MÜLLER und DIE VERLORENE BIBLIOTHEK.

Die Pressesstelle des Claassen-Verlags hat diesen Pressetext als “Besprechungsunterlage” mit dem Band für die Rezension verschickt. Zwei Belege der Rezension hat sich der Verlag von den Rezensenten erbeten. (A.O.)

Mehr Pressetexte zur Werkausgabe:
Die Höllische Komödie
Paris in Brand
Algier oder die 13 Oasenwunder – Westnordwestviertelwest
Verrufene Malerei – Berlin DADA
Chronik der Lustbarkeiten / Staatenlos im Nirgendwo

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1978 Biografisches Prosa

Pressetext zur Werkausgabe – Müller / Die verlorene Bibliothek

Walter Mehring
MÜLLER – CHRONIK EINER DEUTSCHEN SIPPE
Roman
272 Seiten, geb., claassen Verlag GmbH,
Düsseldorf, DM 28,–

DIE VERLORENE BIBLIOTHEK
Autobiographie einer Kultur
320 Seiten, geb., claassen Verlag GmbH,
Düsseldorf, DM 29,80

Die Bucher Walter Mehrings, nach dem K iege meist in fehlerhaften Ausgaben oder in schlechten Reprints herausgebracht, erscheinen nun zum ersten Mal in einer sorgfältig edierten und vom Autor durchgesehenen Werkausgabe. Der ctaassen-Verlag verbindet mit dieser Ausgabe die Hoffnung, daß Mehring, „einer der wenigen großen Satiriker, die Deutschland in diesem Jahrhundert hervorgebrach hat“ (Jürgen Serke), endlich den ihm gebührenden Platz in der deutschen Literatur findet. Denn der Tucholsky-Freund, den Hermann Kesten mit Heine und Villon verglich, ist bei uns immer noch ein weitgehend Unbekannter, ein zwischeen allen Stühlen sitzender ‚Exilierter‘.

Müller - Chronik einer deutschen Sippe (1978)
Müller – Chronik einer deutschen Sippe (1978)

Walter Mehring hat – und das ist bezeichnend für ihn – den MÜLLER-Roman als Band 1 der Werk-Ausgabe ausgewählt. Die CHRONIK EINER DEUTSCHEN SIPPE, Parodie und Paraphrase auf Gustaf Freytags „Ahnen“, ist eine – wie es scheint: zeitlose Satire auf den ewigen Untertan. Gleichgültig, ob sie Milesius, Mülibert, Mulobrad oder Mühlicher hießen, immer haben sich die Müllers getreu dem preußischen Kasernenhof-Dogma „Nur nicht auffallen!“ durch die Geschichte geschlagen, „haben das Heidentum abgeschworen, als es die Staatsraison von ihnen verlangte, dem Teufel widerstanden, als er auf Erden umging, sie wurden gut lutherisch zugleich mit ihren Fürsten, haben jeder Einberufung zum Heerdienst Folge geleistet, ihrem Herrn und Kaiser gedient unter der Monarchie wie in der Republik.“ (Walter Mehring)

Grundlage des Romans sind die Chroniken, Urkunden und Dokumente, auf die der Pg un Tacitus-§pezialist Dr. Armin Müller, Oberlehrer im Berliner Kgl. Wilhelmsgymnasium, 1933 gestoßen ist, als er im Zuge der allgemeinen Forderung nach Rassenreinheit den Beleg seines Ariertums zu erbringen hatte. Walter Mehring hat die Chronik der Müllers mit großem Einfühlungsvermögen in die literarischen Stile der Epochen und mit dem toternsten Witz des Satirikers aufgezeichnet. Das Buch wird bleiben, solange es MÜLLERS gibt…

Die verlorene Bibliothek, Autobiografie einer Kultur (1978)
Die verlorene Bibliothek, Autobiografie einer Kultur (1978)

Als die 1951 in New York herausgebrachte LOST LIBRARY als DIE VERLORENE BIBLIOTHEK. AUTOBIOGRAPHIE EINER KULTUR erstmals in deutscher Sprache erschien, schrieb Walter Mehring über die Entstehung des Buches: „Der Entschluß, die Lebensgeschichte einer Literatur – genauer gesagt: die Fabel einer mir verwandten Bibliothek – zu erzählen, kam mir auf der anderen Erdhälfte in Amerika, auf einer New England-Farm, deren Entlegenheit… mich wieder lehrte, Schritt für Schritt des Gelesenen mich zu erinnern.“

DIE VERLORENE BIBLIOTHEK zeigt Walter Mehring als den großen Kenner der Weltliteratur. Seine AUTOBIOGRAPHIE EINER KULTUR ist Literatur- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, ist zugleich – und das macht ihren besonderen Reiz und ihre Authentizität aus – e r l e b t e L i t e r a t u r aus der Feder eines Z e i t g e n o s s e n, der mit der Berliner Dada-Bewegung da-da-i-sierte, zu Herwarth Waldens „Sturm“-Kreis gehörte, Mitbegründer des Max Reinhardt-Kabaretts ‚Schall und Rauch‘ war und mit den „Dichtern und Denkern“ seiner Zeit (streitbaren) Umgang pflegte. Erinnerungen und Begegnungen – und doch nicht nur das.

Walter Mehring nimmt die Werke von Dante, Büchner, Balzac, Hegel, Fichte, Freud u.v.a. aus den Regalen der väterlichen Bibliothek und legt vor dem verblüfften Leser literarische Traditionslinien frei, streitet im Geiste des aufgeklärten Europäers, kommentiert als unbeugsamer Humanist. Dabei ist DIE VERLORENE BIBLIOTHEK kein Werk trocken philosophierender Gelehrsamkeit, sondern ein literarisch-kritisches Feuerwerk, das in seiner Anschaulichkeit, Lebendigkeit und Sprachgewalt in der – europäischen Literatur ohnegleichen ist.

MÜLLER. CHRONIK EINER DEUTSCHEN SIPPE und DIE VERLORENE BIBLIOTHEK. AUTOBIOGRAPHIE EINER KULTUR sind die ersten beiden Bände der Walter-Mehring-Werkausgabe im claassen-Verlag. 1979 wird von Walter Mehring als dritter Band der Werkausgabe das noch nicht veröffentlichte Buch, das er jetzt vollendet hat, „WIR MÜSSEN WEITER… Fragmente aus dem Exil” erscheinen. Die Werkausgabe wird herausgegeben von Christoph Buchwald.

Walter Mehring,
Lyriker, Essayist, Erzähler, Dramatiker, Film- und Funkautor und Übersetzer wurde am 29. April 1896 in Berlin geboren. Mehring gehört zu den Gründern des „Politischen Cabarets“ in Berlin und schrieb u.a. Texte für Max Reinhardts Kabarett „Schall und Rauch“. Seine von Tucholsky gerühmten Gedichte, Lieder und Chansons machten ihn früh berühmt und – verhaßt: viele seiner Bücher landeten am 10.Mai 1933 auf dem Scheiterhaufen. Walter Mehring entging seiner Verhaftung durch die SA nur knapp, emigrierte, wurde 1939 in Frankreich interniert und entkam 1941 in die USA. Nach dem Kriege kehrte Walter Mehring nach Europa zurück. Er lebt heute zurückgezogen in Zürich.

Die Pressesstelle des Claassen-Verlags hat diesen Pressetext als “Besprechungsunterlage” mit dem Band für die Rezension verschickt. Zwei Belege der Rezension hat sich der Verlag von den Rezensenten erbeten. (A.O.)

Mehr Pressetexte zur Werkausgabe:
Die Höllische Komödie
Paris in Brand
Algier oder die 13 Oasenwunder – Westnordwestviertelwest
Verrufene Malerei – Berlin DADA
Chronik der Lustbarkeiten / Staatenlos im Nirgendwo
Die Nacht des Tyrannen

Kategorien
1983 Prosa

Pressetext zur Werkausgabe – Die Nacht des Tyrannen

Die Nacht des Tyrannen (1983)
Die Nacht des Tyrannen (1983)

Walter Mehring
Die Nacht des Tyrannen – Roman –
Herausgegeben von Christoph Buchwald
144 Seiten, geb.,
DM 24,–, Sfr. 22,30, Ös 182,40,
ISBN 3-546-46455-9

Walter Mehrings Abrechnung mit der Diktatur

„Als Martinez Llalado das Gebäude des Präsidenten verließ, sprang ein jugendlicher, schlanker Mann in hellgrauem Sakko aus der Reihe der Neugierigen und gab einige Schüsse aus nächster Nähe auf ihn ab.“

So beginnt Mehrings Roman, der zuerst 1937 in der Schweiz veröffenlicht wurde. Llalado ist der Typ eines Führers, der die Problematik der Tyrannis „rein“ verkörpert, unabhängig von allen zeitgenössischen Vorbildern. Er geht den Weg eines Außenseiters, der sich für die erlittenen Erniedrigungen rächt, indem er die unwissende Landbevölkerung gegen die Regierung, die Republik, die Zivilisation organisiert. Seine Gegner, die Sozialisten und die Republikaner konnten sich bislang nicht auf ein gemeinsames Vorgehen gegen ihn einigen. Nun, in der Nacht nach dem Attentat, entscheidet sich das Schicksal der Demokratie.

„Die Nacht des Tyrannen“ ist ein spannender, meisterhaft erzählter Roman, der nichts an Aktualität eingebüßt hat.

Autor:
Walter Mehring, geboren 1896 in Berlin, gestorben 1981 in Zürich. Im Rahmen der Werkausgabe liegen bisher vor: „Müller – Chronik einer deutschen Sippe“, „Die verlorene Bibliothek“, „Die  höllische Komödie“ , „Paris in Brand“, „Wir müssen weiter“, „Chronik der Lustbarkeiten“, „Staatenlos im Nirgendwo“, “Algier oder Die 13 Oasenwunder/Westnordwestviertelwest“ und „Verrufene Malerei/Berlin DADA.

Mehr Pressetexte zur Werkausgabe:
Die Höllische Komödie
Paris in Brand
Müller / Die verlorene Bibliothek
Algier oder die 13 Oasenwunder – Westnordwestviertelwest
Verrufene Malerei – Berlin DADA
Chronik der Lustbarkeiten / Staatenlos im Nirgendwo

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1983 Biografisches Prosa

Pressetext zur Werkausgabe – Verrufene Malerei – Berlin DADA

Frühjahr 1983 – Claassen

Walter Mehring
Verrufene Malerei – Berlin DADA
Erinnerungen eines Zeitgenossen
Herausgegeben und mit einem Nachwort
von Christoph Buchwald
336 Seiten, 26 Abb. sw., Pappband DM 38,–,
ÖS 288,80 – Sfrs 35,–
ISBN 3-546-46454-0

Walter Mehring über die Geburtsstunde der modernen Malerei in Paris und die DADA-Szene in Berlin

Verrufene Malerei - Berlin DADA
Verrufene Malerei – Berlin DADA

Was Walter Mehrings berühmt gewordene „Verlorene Bibliothek“ für die Literatur ist, ist die „Verrufene Malere'“ für die bildende Kunst: ein witziges, überaus kenntnisreiches Erinnerungsbuch über die „Geburtsstunde der modernen Malerei“,geschildert von einem, der dabei war.

„Berlin DADA“ dokumentiert den Wechsel Walter Mehrings vom Kreis um Herwath Waldens „Sturm“ ins politisch-revolutionär sich gebärende Lager der Dadaisten.

Abgeschlossen wird dieser neunte Band der Werkausgabe durch ein erläuterndes, biographisches Nachwort , einen Aufsatz von George Grosz über den Maler Walter Mehring sowie zeitgenössische Rezensionen der beiden Bücher, die 1958 bzw. 1959 zum ersten Mal erschienen. Die Texte bieten überraschende Einblicke in eine revolutionäre Umbruchdekade der modernen Malerei und Literatur.

Autor:
Walter Mehring, geboren 1896 in Berlin, gestorben 1981 in Zürich, gehort zu den Gründern des „Politischen Kabaretts“ in Berlin und schrieb u.a. Text für Max Reinhardts „Schall und Rauch“. Seine Gedichte, Lieder und Chansons machten ihn früh berühmt und – verhaßt:  viele seiner Bücher  wurden am 10. Mai 1933 verbrannt. Walter Mehring entging nur knapp Verhaftung durch die Gestapo, emigrierte, wurde 1939 und 1941 in Frankeich interniert und entkam 1941 in die USA. Nach dem Kriege kehrte er nach Europa zurück und lebte zurückgezogen in Zürich.

Die Pressesstelle des Claassen-Verlags hat diesen Pressetext als “Besprechungsunterlage” mit dem Band für die Rezension verschickt. Zwei Belege der Rezension hat sich der Verlag von den Rezensenten erbeten. (A.O.)

Mehr Pressetexte zur Werkausgabe:
Müller – Chronik einer deutschen Sippe / Die verlorene Bibliothek
Die Höllische Komödie
Paris in Brand
Müller / Die verlorene Bibliothek
Algier oder die 13 Oasenwunder – Westnordwestviertelwest
Chronik der Lustbarkeiten / Staatenlos im Nirgendwo
Die Nacht des Tyrannen

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1983 1991 Biografisches Prosa Wissenschaft

Anthony Heilbut ist über „Die verlorene Bibliothek“ erstaunt

Anthony Heilbut, der Sohn emigrierter deutscher Eltern, hat 1983 eine große Monografie über die Emigration in die USA vorgelegt. In ihr bespricht er auch „Die verlorene Bibliothek“. Zwar stimmen nicht alle Fakten. So war Richard Huelsenbeck Herausgeber des Dada-Almanach von 1920. Er ist also nicht Walter Mehrings Buch, auch wenn Mehring Texte beisteuerte. Dennoch ist der Auszug aus dem 480 Seiten starken Taschenbuch lesenswert, weil er den Blick auf Mehring nicht mit der rein deutschen Brille wirft. Und in einem Jahr, in dem „Die verlorene Bibliothek“ neu im Elster-Verlag aufgelegt wurde, sind solche Fundstellen umso lesenswerter. (A.O.)

Den vielleicht wehmütigsten Abgesang auf die Emigrantenkultur stimmte unerwarteterweise Walter Mehring an. Im Unterschied zu den anderen Schriftstellern war er ein echter  Berliner, dort geboren und Sohn des Zeitungsverlegers Franz Mehring, der einst Rosa Luxemburg unterstützt hatte [Mehrings Vater war Sigmar Mehring. Der Fehler steht so in Heilbuts Text.]. Sein kulturelles Debüt hatte Walter Mehring im Alter von zweiundzwanzig Jahren gegeben, als er zusammen mit seinem Freund George Grosz eine Dada-Matinee auf die Bühne brachte. Höhepunkt der Show war ein Wettrennen zwischen einer Nähmaschine und einer Schreibmaschine. Zwei Jahre später erschien, illustriert von George Grosz und verlegt von Wieland Herzfelde, sein Dada-Almanach von 1920. Mehrings Gedichte erinnern an Pop-Lyrik („Berlin, dein Tänzer ist der Tod – Foxtrott und Jazz -„), und das Kabarett war ihr Forum. Als Berlins führender Kabarett-Dichter fand Mehring bald Eingang in die Kreise um Brecht, Grosz und Reinhardt. Lange vor der überschätzten, unausgegorenen Pop-Poesie der sechziger Jahre schuf Mehring etwas wirklich Neues, verflocht Töne und Bilder zu Rhythmen seiner Stadt – ein Foxtrott am Rande des Abgrunds.

Mehrings Talent war nicht nur, wie Grosz vermerkte, beseelt von François Villon und Heine, sondern auch von anderen, überraschend literarischen Vorbildern. Der französische  Vaganten-Dichter und der frankophile deutsche Jude waren in der Tat angemessene geistige Ahnen. Mehring selbst verbrachte die zwanziger Jahre zum großen Teil in Paris. Tucholsky pries ihn als den ersten, der Berlin so sehe, wie die Welt gewöhnt sei, Paris zu sehen. Anfang der dreißiger Jahre wollten die Nazis ihn verhaften. Sie fanden ihn wie gewöhnlich in einem Café, doch Mehring gab vor, nicht er selbst zu sein, entkam seinen Häschern und kehrte nach Paris zurück. Dort verlebte er die dreißiger Jahre inmitten seiner Mitexilanten, und der Galgenhumor, mit dem er sie unterhielt, ließ auch den alten Berliner Kabarett-Geist  überleben. Während dieser Zeit entfremdete er sich zunehmend seinen marxistischen Freunden, die ihre Ideologie je nach Weisung Moskaus änderten. Der loyale Kommunist
Wieland Herzfelde hat Mehring die Abwendung von der Sowjetunion nie verziehen und warf ihm vor, deren Krieg mit Finnland (1939) ganz einfach mißverstanden zu haben. In einem Brief, den er Mehring zum fünfzigsten Geburtstag schrieb, nannte er ihn einen „bastard“.

Aus Frankreich entkam Mehring über Marseille und erreichte 1941 die USA. Er verbrachte die übliche unerfreuliche Zeit in Hollywood und ging dann nach New York, wo auch seine alte Freundin Hertha Pauli und ehemalige Dadaisten-Kollegen wie Huelsenbeck, Grosz und Herzfelde lebten. 1944 erschien eine Sammlung seiner Gedichte, illustriert von George Grosz und übersetzt von einem linken amerikanischen Freund Erwin Piscators.  Vorübergehend arbeitete Mehring auch für die Propaganda-Abteilung des Office of Strategic Service und brachte sich später als Arbeiter in einer Fabrik auf Long Island durch.

1951 veröffentlichte er The Lost Library: Autobiography of a Culture, das er zum Teil auf der Tabakfarm eines Pazifisten und Jazzmusikers in New England geschrieben hatte. Wer hätte solch ein Buch von ihm erwartet? Mehring gedenkt der Berliner Bibliothek seines Vaters und bekennt sich damit zu der gelehrten humanistischen Tradition, der er  entstammte und die er mit seinem eigenen populären Stil einst schmähte. Aber irgendwie brachte die amerikanische Umgebung eine Annäherung zwischen Vater und Sohn, hoher Kultur und Kabarett. Mehring beschwört die Tradition mit jenem echten Berliner Ton, keck, dicht und sehr smart. Wenn er will, weiß er mit literarischer Mimesis so sorgsam umzugehen wie Erich Auerbach. Doch öfter noch ist er von ganz erdgebundener Respektlosigkeit: Marx ist ein unlesbarer alter Langeweiler, Nietzsche und Schopenhauer hat die Syphilis den Verstand geraubt. Mit Melancholie hat er als typischer Emigrant nichts im Sinn. Gegen den Kummer über die verlorene Bibliothek empfiehlt er gute Laune und guten Sex, nicht ein besseres Buch, sondern einen besseren Orgasmus.

Doch trotz seines smarten Tons ist es kein glückliches Buch, und am traurigsten ist es da, wo Mehring in literarischen Schätzen schwelgt und zugleich erkennt, wie nichtig und ohne Wert sie in der gegenwärtigen Zeit waren. Als Kabarettdichter und -komponist verstand Mehring sich auf sprachliche Rhythmen. Er sah, daß sich eine Veränderung der Wirklichkeit in der Grammatik widerspiegeln kann, noch bevor die Betroffenen sie wahrnehmen. Sprache vermag nicht viel, aber sie kann den Leser auf das vorbereiten, was in der Zukunft auf ihn wartet. Davon war Mehring überzeugt, und darum nahm er auch gegen Gide Partei für Proust. Gide hatte dem Jüngeren „willkürliche Behandlung der Zeiten“ und „verschwenderischen Mißbrauch des Subjunctivs“ vorgeworfen. Gide, so Mehring, sah nicht, daß Proust der Grammatik und der Syntax von Weissagung und prophetischen Träumen folgte und daß sein Subjunctiv der „Subjunctiv des Zweifels“ war. Dieser letzte glänzende Gedanke ist nicht nur gültig für die Ereignisse in Prousts Roman, er trifft auch das Emigrantenleben, denn im Bewußtsein vergangenen Verrats und Betrugs – „der Korruption aller Bindungen“ – weckte jeder erfüllte Wunsch Argwohn. Der Subjunctiv des Zweifels mißbilligte sehnendes Verlangen und gestattete eine schützende Distanz zu der inneren Gewißheit, daß unsere Hoffnungen entweder banal oder zum Scheitern verurteilt sind.

Die Bibliothek ist verloren. Die Weisheit, die sie enthielt, ist verstreut in Zeit und Raum, unendlich weit entfernt von einer New-England-Farm des Jahres 1950. „All diese Dinge existieren nur noch im Plusquamperfekt oder in einem passé defini“: Die Angelegenheit hat ihre grammatische Form gefunden und ist damit erledigt. Kundig zu lesen sei des Emigranten größtes Talent, schreibt Mehring, doch gibt er zu, daß die Besinnung auf Vergangenes ein müßiges Unterfangen sei, obwohl doch sein Buch beweist, daß es gerade jene Besinnung war, die den Emigranten half, durchzuhalten. Was bleibt? Was hat noch Sinn? Politisches  Engagement jedenfalls nicht, wenn es nach Mehring geht. Am besten ist es noch, nach „Korrektur seiner selbst“ zu streben: ein Rückzug oder Ausweg, der nicht weniger in die Enge führt als der Weg von Berlin auf eine Tabakfarm. Das Nächstbeste ist die Fähigkeit, andere zu unterhalten. In einer letzten Berliner Posse verrät man seine ernsthafte Seite und zieht sich auf die Komödie zurück. Einen Galgenhumoristen hängt man nicht: Die Emigration hat ihn gelehrt, daß es sich auszahlt, sein Innerstes zu verbergen.

(Anthony Heilbut: Kultur ohne Heimat – Deutsche Emigranten in den USA nach 1930; Reinbek: rororo 1991; S. 281-283).