Man erfährt, daß die japanische Regierung, um den Frieden nicht zu gefährden, an die öffentliche Meinung die drakonische Bitte gerichtet hat, bei der unter Verwendung von Bombengeschwadern, Tanks, Panzerschiffen und anderen modernen Hilfsmitteln ausgeführten Erkundungsexpedition nicht gleich von einem japanisch-chinesischen Krieg zu reden, sondern schlicht von einem „chinesischen Konflikt“.
Wenn diese Methode, die bereits bei der Befriedung Abessiniens erfolgreich angewandt wurde, Allgemeingut wird, so steht ein alter Menschheitstraum vor der Verwirklichung: nämlich die Abschaffung der Kriege. Ganz einfach kraft Abschaffung des Ausdrucks.
Auch ist durch diese Methode stets von vornherein die Kriegsschuldfrage geklärt – zu Gunsten des Angreifers. Das ganze Unheil, der ganze Konflikt kommt daher, daß die Chinesen so tun, als ob der Krieg wäre und zurückschießen, obwohl es sich von Seiten Japans um eine militärische Operation zum Heile Chinas handelt. Hat man je erlebt, daß der Patient bei einer Operation dem Chirurgen den Blinddarm herausnehmen will?
Und die Chinesen haben es dabei nicht bewenden lassen! Aus ihren Reihen hat die Cholera auf die siegreichen japanischen Gäste übergegriffen, obwohl , wie der japanische Generalstab festgestellt hat, „der Gesundheitszustand der Truppen vorher durchaus befriedigend gewesen ist!“ Ein für allemal ist vor der Welt der Anstifter überführt worden. Kein einziger japanischer Patriot ist ausgezogen, um sich die chinesische Cholera zu holen. Hingegen haben die Chinesen, allen Geboten der Humanisierung von Konflikten zum Trotz, den friedlichen Eroberern statt des Landes ihre Epidemie abgetreten.
Und auch damit nicht genug, ist hinter dem Rücken der bewaffneten japanischen Ausflügler im Augenblick, in dem sie ballistische Experimente an der chinesischen Ostküste anstellten, ein chinesischer Taifun über die japanische Westküste niedergegangen, hat 200 Fischerboote versenkt, 46 japanische Häuser mit Sturmbomben belegt, die Drähte der telegraphischen Siegesberichte zerstört, während die Zahl derjenigen, die Harakiri machten, weil sie vom nationalen Unglück verschont blieben, noch nicht bekannt ist.
Nur die eiserne japanische Disziplin ist es zu danken, daß die Nation, selbst angesichts einer Naturkatastrophe, ihre lächerliche Kaltblütigkeit bewahrt hat und sich nicht dazu heinreißen ließ, die Feindseligkeiten gegen die landfremden chinesischen Eingeborenen einfach einzustellen.
Die gelbe Gefahr, vor der Wilhelm der Zweite die Völker Europas gewarnt hat, bevor er Deutschland ins Exil schickte, ist, seit Japan den Krieg gebrochen und China mit Frieden überzogen hat, wieder akut geworden. Seit Jahren steigern die europäischen Staaten ihre Rüstungen für Friedenszwecke ins Unabsehbare; nur ein Mittel scheint es logischerweise zu geben, um diesem Wahnsinn ein Ende zu machen, das ist: der Krieg! Man zittert vor der Möglichkeit, daß wirklich ein Diktator auf die Idee kommen sollte, sich beim Wort nehmen und seinen Friedenswillen in die Tat umzusetzen.
(Diese Glosse „Die friedensgefahr“ Walter Mehrings ist am 18. September 1937 im Neuen Tag-Buch erschienen und bezieht sich auf die kriegerische Expansion Japans in China. Angesichts der aktuellen Ereignisse in der Ukraine, liest sie sich in Teilen – wenn man Japan gegen Russland und China gegen Ukraine austauscht – hochaktuell. A.O.)
entschuldigen Sie bitte die heutige Störung; aber ich wende mich in einer Angelegenheit an Sie, die mich selber nicht unmittelbar betrifft, und in solchen Fällen stört man andere vielbeschäftigte Menschen leichter und lieber.
Es handelt sich um folgendes:
Walter Mehring war neulich auf einem ganz kurzen Deutschlandbesuch zwei Tage in München und klagte darüber, daß er noch stärker als andere Dichter der Emigration in Deutschland unbekannt sei. lch versprach ihm, da er sofort wieder nach New York zurück musste, mich seiner Sache ein wenig anzunehmen.
Als erstes Buch, das er gern hier herausgebracht sähe, hat er einen Chanson-, Gedicht- und Liederband zusammengestellt, der aus einigen, und zwar den bewährtesten seiner alten Texte, sowie aus einer grösseren Anzahl in der Emigration entstandener Gedichte besteht. Das Material wird mir demnächst zugänglich gemacht werden.
Was ich heute gern wüsste ist, ob Sie im Prinzip bereit wären, in absehbarer Zeit, einen solchen Band Mehrings herauszubringen.
Ich wäre Ihnen ausserordentlich dankbar, wenn Sie mir rasch Antwort zukommen lassen könnten, und bin mit den besten Grüssen und Wünschen,
lhr
Erich Kästner
(Erich Kästner hat sich 1950 auch mit einem Brief an den Piper-Verlag versucht, Walter Mehring eine Publikationsmöglichkeit zu finden. Aber weder bei Piper, noch bei Suhrkamp hat es geklappt. „Arche Noah SOS“ ist als erstes Buch Mehrings seit seiner Flucht aus Deutschland 1951 bei Rowohlt in Hamburg erschienen) A.O.
besten Dank für Ihren Brief, woran mich besonders die aufsteigenden Schriftstellen erfreut haben, da dies ja unter Graphologen für ein Zeichen von unerschöpflichem Optimismus gilt. Davon befeuert habe ich mich sofort mit dem in München stationierten Piper-Verlag in Verbindung gesetzt, und der Cheflektor dieses angesehenen Unternehmens, ein Dr. Albrecht Knaus (München 13, Georgenstr. 4), zeigte sich, soweit sich das am Telefon erspähen lässt, recht interessiert. Er hätte, sagte er, gern einmal ein paar Ihrer lyrischen Bände studiert, und ich sagte ihm, er könne sich bei mir zu diesem Behufe das „Ketzerbrevier“ und den bei S. Fischer erschienenen Band „Chansons, Lieder“ abholen lassen. Von „lassen“ wollte er nichts hören, sondern höchst selbst vorbeikommen.
Da er weder gestern noch heute höchst selbst vorbeikam, werde ich morgen oder übermorgen das Telefon erneut bemühen. Im Piper-Verlage sind ja Morgenstern und Owlglass erschienen, womit also eine gewisse Kontinuität gegeben ist.
Der Endesunterfertigte hofft, Ihnen bald Weitere Nachricht zu geben, hoffentlich eine solche, die die Aufwärtsrichtung Ihrer Schriftlinien ins Ungewisse steigert.
Mit den herzlichsten Grüssen, unbekannterweise auch an Ihre Frau, immer
Ihr
Erich Kästner
1950 weilte Walter Mehring für einige Tag ein Deutschland. Dabei begegnete er auch Erich Kästner. Dieser hat ihm versprochen, bei der Suche nach einem Verlag zu helfen. Wie dieser Brief Erich Kästners an Walter Mehring zeigt, hat er sein Versprechen auch sofort umgesetzt. (aus: Erich Kästner: Dieses Na ja!, wenn man das nicht hätte! – Ausgewähle Briefe von 1909 bis 1972 (Hg. v. Sven Hanuschek) Zürich: Atrium Verlag 2003, S. 168) A.O.
Als wir das Linden-Hotel verlassen, ist es warm, und die Straße riecht nach Frühling. Wachsmann ist gut gelaunt. Er geht mit offenem Mantel und pfeift eine fröhliche Melodie. An der Kreuzung Friedrichstraße/Unter den Linden bleibt er stehen, mustert das fünfgeschossige Gebäude mit den kursächsischen Schwertern an der Giebelfront.
„Gibt es dort Meißner Porzellan?“ fragt er und pfeift weiter. „Ich hätte Lust, hier in der Sonne zu dösen“, meint er dann lächelnd.
„Und die Zeit?“ frage ich erstaunt. „Oder wollen Sie nicht mehr in die Schumannstraße?“
„Doch“, sagt er lachend und singt: «Die Linden lang! Galopp! Galopp! Zu Fuß, zu Pferd, zu zweit! Mit der Uhr in der Hand, mit’m Hut aufm Kopp, keine Zeit! Keine Zeit! Keine Zeit! – Kennen Sie das?“ Wachsmann sieht mich neugierig an.
Ich überlege verzweifelt, wie der Text weitergeht. Dann fallt mir doch nur der Refrain ein: „Mach Kasse! Mensch! Die Großstadt schreit: Keine Zeit! Keine Zeit! Keine Zeit!“
„Gut“, sagt Wachsmann. „Nur haben Sie die Hälfte unterschlagen! Man knutscht, man küßt, man boxt, man ringt, een Pneu zerplatzt …“, singt er weiter, und wir lachen über die Passanten, die uns neugierig betrachten. „Walter Mehring in Berlin“, sagt er dann. „Das hätten Sie erleben müssen. Es gab kein Hotel, keine Kneipe, kein Café, in denen er nicht gesessen hatte, und es gab in Berlin auch kaum Leute, die er nicht kannte: Abgeordnete und Straßenmädchen, Galeristen und Künstler, Taxifahrer, Kellner, Journalisten, Schauspieler, Ladenmädchen, Regisseure und Buchhändler. Leider haben wir uns erst getroffen, als ich auf dem Berliner Parkett schon ein wenig laufen konnte – im Frühsommer 1920 in Reinhardts zweitem ‚Schall und Rauch‘. Dort war es immer krachend voll, und so bin ich versehentlich einem hinter mir Stehenden auf den Fuß getreten. Darauf flüsteıte mir dieser Mensch sehr bestimmt, sehr freundlich und sehr berlinerisch: Du Rindvieh! ins Ohr. Ich drehte mich um und konterte mit Affe. So ging es weiter, bis unsere zoologischen Kenntnisse erschöpft waren und wir zudem feststellten, uns schon gesehen zu haben. Natürlich im Romanischen Café. Also beschlossen wir, lieber etwas zu trinken. Sicher wäre es besser gewesen, das zu lassen. Aber dann hätte ich Walter Mehring erst viel später oder vielleicht gar nicht näher kennengelernt. Jedenfalls bin ich am nächsten Vormittag in seiner Wohnung wieder zu mir gekommen. Mein Zustand war noch immer furchtbar, und Mehring erschreckte mich mit Skandalen, die ich verursacht haben sollte. Da mir jegliche Erinnerung fehlte, glaubte ich natürlich alles: von eindeutigen Anträgen, die ich wildfremden Damen gemacht, bis zu Prügeln, die ich deren entrüsteten Ehemännern angedroht hätte, und letztlich den Versuch, einen Schutzmann als Baum zu mißbrauchen. Zwei Stunden später saßen wir im Romanischen Café, und ich erfuhr unter dem Gelächter des Mehringschen Bekanntenkreises, daß er das alles erfunden hatte. Von dieser Stunde an gehörte ich im Romanischen Café zu den ‚Schwimmern‘ und lernte all jene Leute kennen, die ich vorher nur anzustaunen gewagt hatte: Else Lasker-Schüler und Herwarth Walden, Däubler, den Schachweltmeister Emanuel Lasker, den Dichter John Höxter, der ein Morphinist war, und die Dadas natürlich, die Saison hatten.“
Konrad Wachsmann, einer der großen deutschen – später deutsche-amerikanischen – Architekten des 20. Jahrhunderts wurde 1901 in Frankfurt (Oder) geboren. Er lebte, studierte und arbeitete in den 1920er-Jahren in Berlin. Dort lernte er bereits 1920 Walter Mehring kennen. Michael Grüning führte 1979 ausgiebige Interviews mit dem damaligen Besucher Ost-Berlins. Aus diesen Gesprächen entstand das Buch „Der Wachsmann-Report“, eine Art Autobiografie in Vermittlung Grünings. In diesem Buch erzählt Wachsmann auch von einigen Begegnungen mit Walter Mehring. Die erste ist die oben zitierte, von der er Grüning bei seinem Besuch 1979 in Ost-Berlin erzählte. (Michael Grüning: Der Wachsmann-Report – Auskünfte eines Architekten; Berlin: Verlag der Nationen 1985; S. 46 f.)
Walter Mehrings neueste Coupletsamınlung gibt das Muster eines richtigen Kabarettabends mit Conference und vier Hauptabteilungen. Dieses Muster hat Vielfalt, geistigen wie artistischen Gehalt. Form, Gliederung, Originalität und Anarchie des Gedankens. Was Mehring vor allem zu seinem Metier befähigt, ist eine rhythmische Feinfühligkeit, eine Treffsicherheit, den richtigen Vortragsschwung jedem einzelnen Couplet gleich mitzugeben, daß schon im Takt die Situation sich ausdrückt und Melodik und Stimmung sich vollkommen decken. Seine Verse hämmern sich beim bloßen Lesen ein, sind auch fürs Auge allein schon komponierte Texte. Dabei ergibt sich die verschiedenen Gelegenheiten eine dementsprechende Abwechslung: eine Ahnung vom Tonfall Bruantscher Schreckenslieder „Die Kartenhexe“, „Zum Blauen Affen“, „Cabaret Schwalbennest“), die Kehrreimweise („Moralisches Glockengeläute,“ „Kinderlied“), eine Simultaneität, die von der »Fortgeschrittenen Lyrik« manches nutzte „Graduale“), und schließlich das originalste Produkt eines freien Rhythmusses der Couplet-Teclmik, wie es beispiellos leuchtet in „Die Reklame bemächtigt sich des Lebens“. Es muß einmal konstatiert werden, daß der nun so oft dünner nachgemachte Vortragselan, der die rasende Mechanik des Großstadtgetriebes exakt ausdrückt, und so etwas wie einen ››EXpressionismus« der Brettldichtung, eine im Automobiltempo losgelassene, gebremste und Kurven nehmende Momentaufnahme, zuerst und am intensivsten moussierte in solchen Mehringoriginalen wie „Achtung Gleisdreieck“, „Sensation“, „Salto mortale!“ Er erwischt alte und neue Medien gerade im rechten Moment, ladet sie mit seiner Elektrizität, und eine eigene tadellos funktionierende Walze ist perfekt. Er würfelt die ulkigsten Reime erster und zweiter Ordnung durcheinander, macht aus überstürzendem Radebrechen eines liebestollen Fremdlings die Note des „Kaukasierliedes“, mit aus Niggersong, Ragtime und Operettenrefrain einen „Jazzband“, eine mit Sätzen verübte Tanzorgie, und kurbelt die gute alte Populariät des Berliner Gassenhauers in eine ganz gegenwärtige Vehemenz.
Diejenigen, die zu Unrecht den Mehring nur als den poetischen Lokalreporter gelten lassen möchten, werden durch die Vielseitigkeit dieser Sammlung eines Besseren belehrt; aber das eine stimmt, daß Mehring, unter anderem, den Jargon des »Berliner Schlagers«
wie kein zweiter meistert, ihn für modernste Force gebrauchsfertig machte mit all seinem Mutterwitz, seinen pfiffigen Worteinfällen, dem derben Rotwelsch seiner Respektlosigkeit. Sein Bezirk ist nicht bloß ein Rummelplatz, nicht nur der größre Rummelplatz Berlin,
sondern die heutige Erdoberfläche schlechthin. Dies Buch zeigt die Internationalität seiner Sujets und beweist auch, daß Mehring sich nicht einmal auf ein einziges Temperament, auf eine einzige Gefülsnuance festlegen läßt. Mokante Kaltschnäuzigkeit, absolute Gemüstlosigkeit war die Signatur, mit der man ihn abstempelte, und nun beunruhigen hier in diesem Bändchen auf einmal so gar nicht ins Schema passende Sachen wie z. B. „Die Kälte“, wo ein schnoddriger Spötter – poetisch kommt! Ein Grundzug Mehrings ist schon die blutige Skepsis, die sich von keiner Illusion mehr zu Ehrerhietung anführen läßt und auf die Kaffrigkeit der lieben Umwelt spuckt, aber schonungslosen Zynismus und krasse Verachtung bringt erst der auf, der im Tiefsten einer zarteren Besaitung tödlich enttäuscht wurde. Solches Getroffensein wächst zum diabolischen Aufschrei des Puppenspiels „Die schwarze Messe“. Ein so scharfer Revoltedrang in diesem Schlußstück rumort oder in den Geißelliedern „Litanei“ und „Schwarze Ostern“ – es scheint mir eine Gefahr des Menschenmißtrauens, daß es in der Wirkung das Aufrührerische verliert und dem Publikum als eine bequeme Weltanschauung, die jedes Passivbleiben deckt, wohl eingeht. Alles gleichermaßen zum Speien finden, heißt: sichs allzu leicht machen. Mehring sollte, diesem Verdacht zu entgehn, nicht ganz ohne Route sein. Sonst sieht, was als Gegenteil geplant war, wie Kompromiß aus, der Durchschnitt hört sich doch bloß heraus, was ihm paßt, aus dem „Nekrolog“: „Hetzern . . . uns uffzuwiegeln“ und aus dem Berliner Tempo eine lokalpatriotische Bestätigung.
Max Herrmann-Neiße: Walter Mehring: Das Ketzerbrevier; erschienen in: Berliner Börsen-Courier, Nr. 213 vom 7. Mai 1922.
…Der beste Jahrgang deutscher Reben ließ vor der Ernte so sein Leben… Walter Mehring 1896 – 1981
Diese Verse aus dem Refrain des zehnten Briefes aus der Mitternacht hat die Künstlerin Renate Sendler-Peters 1982 unter ihr Porträt Walter Mehrings gesetzt. Auch wenn diese Worte gut 40 Jahre nach ihrem Entstehen auf den überlebenden Mehring nicht ganz passen, sind sie doch so wie das ganze Gedicht bewegend. Die Radierung ist in einer kleinen Auflage gedruckt worden. Sendler-Peters hat sehr viele Schriftsteller-Porträts gestaltet, etwa für den Insel-Verlag.
Schreiben aus der Technik des Schreibens heraus, aus der überlegnen Freude an der Beherrschung des Apparats, aus einem berechtigten Handwerksstolz existierte bisher in deutschem Schrifttum kaum. Hier gab es immer nur zweierlei: einmal das Schreiben um einer Idee oder um einer Gefühlspropaganda Willen (und mancher, der beides nicht hatte, täuschte es vor, schminkte sich Idee oder Gefühl an, borgte sie sich), dann die snohistische L”art-pouı‘-l’art-Tändelei, den Luxus der Selbstbefriedigung, eine sinnlose Kunst „an sich“. Damit darf man das, was ich im ersten Satz nannte, nicht verwechseln, was ja kein eitles, nutzloses Hantieren im abgesperrten Raume ist, sondern gar sehr die Wirkung auf jedermann erstrebt und diese Wirkung auch trefflich zu berechnen und hervorzurufen weiß. Schreiben aus der Technik heraus wird dieser Technik auch einen Willen unterlegen, wird die Meisterschaft für einen vernünftigen Sinn einsetzen, auf festem Boden stehen, nicht ins Blaue dunstiger Kniffligkeiten faseln.
Es ist kein Zufall, daß derartige literarische Handwerklichkeit vorläufig am ehesten zu finden ist bei ausgesprochen revolutionären, aber zielbewußt und nüchtern fit eine politische Überzeugung eintretenden Schriftstellern (wie Jack London, Franz Jung und andrerseits bei dem anarchistischen Walter Serner. Auflösung und Aufbau berühren sich in ihren Formen. Aber es ist bezeichnend für die Direktions- und Instinktlosigkeit unsrer offiziellen Wertung, daß man den sonst allenthalben angewandten Maßstab des Könnens, der technischen Sicherheit, in der Literatur nicht gebraucht, im Gegenteil, heut Schludern, Leichtfertigkeit, Ratlosigkeit als Kriterium einer genialen Begabung annimmt.
Nun hat unser stärkster Kabarettdichter, Walter Mehring, mehrere Prosabände veröffentlicht, die alle das eine gemeinsam haben: Leichtigkeit der Komposition und instinktíve, ursprüngliche Sprachkultur. Es wäre falsch, zu sagen, es kommt dabei mehr auf das Wie als auf das Was an, aber beides befindet sich im Einklang, und das gemeinsame Fundament ist eine gleichermaßen unbarmherzig fröhliche und herzhaft bittre, ganz unabhängige Verarztung der Welt. Das erste Prosabuch hieß „In Menschenhaut, aus Menschenhaut, um Menschenhaut herum“ (bei Gustav Kiepenheuer, Potsdam. Mit Zeichnungen von Rudolf Schlichter) und enthielt bereits reife Früchte eines großzügigen Arrangiertalents. Diese knappen, kurzweiligen, phantasiereichen Skizzen sind selbständige Exemplare der Kurzgeschichte in Deutschland, auf köstlichen Originaleinfällen aufgebaut, eine wirklich anregende Lektüre, auf einer Mischung von Geist und Herz, Hirn- und Bluterlebnis beruhend. Lästerliches und Idyllisches, Spuk und Lyrik halten sich die Waage, menschliche Wahnvorstellunng wird attackiert, der Popanz als solcher entlarvt, Bürgerliches mit guter Groteske spielend erledigt. Am stärksten von den aggressiven Stücken ist „Unsterblichkeit“, das mit handfester Bealistik die Einzelheiten militärischen Betriebes gestaltet und ihn durch die Wanzenperspektive drastisch kennzeichnet. Ebensogut gelangen die positiven Prosagedichte in der Zärtlichkeit ihrer Anteilnahme: da ist die reizvolle Verschlungenheit von „Bouquins, bouquinistes, bouquineurs“, die
diffizile Tragik „Vom Mann, der die fünf Minuten verlor“, die graziöse Erotik des Märchens vom „Lederstrumpf“, endlich das Bravourstück der trocken gebrachten Abenteuergeschichte „Die Thöle“.
Das in sich geschlossene Brevier einer imaginären und doch sehr robusten Meerfahrt ist „Westnordwestviertelwest oder Über die Technik des Seereisens“ (im Verlag Elena Gottschalk, Berlin. Mit Umschlagbild und Textzeichnungen von Walter Mehring). Elf noch kürzere als Kurzgeschichten, norddeutsche Altenbergiaden eines schnurrigen Ringelnatzbruders, aber beileibe weder Altenberg- noch Ringelnatz-lmitationen, sondern wieder etwas eigenes, Gebilde, die scharfen Blick für des Lebens kuriose Kleinzüge und Freude am Fabulieren merkwürdig vereinen und immer signiert sind mit der Stimmungsnuance ihres Autors, der guten Zusammenstellung: Skepsis und Liebe zu den Dingen dieser Welt. (Skepsis allein ist ebenso unfruchtbar, unnütz, billig wie eine blinde, rührselige, von sich selbst besoffne, hemmungslose Hingabe wahl- und distanzlos an jeden Dreck!) Und nicht der kleinste Zauber des Buches ist seine undefinierbare Balance in einer Zwischenlage zwischen Ernst und Ironie, Sachlichkeit und Lust am Spintisieren, daß in gleicher Überzeugungskraft die Unterhaltung von Kapitänen, die mönchische Abgeschiedenheit der Feuerschiffe, die Vision der Seehundsmenschen, der unbeholfen liebe Brief eines kleinen Mädchens und die nicht ganz klaren Verhältnisse im scheinbar recht vielseitigen Laden der englischen Siedlung Jarrow getroffen sind. „Bouquins, bouquinistes, bouquineurs“ hatte schon Mehrings Abenteurerneigung zu den abenteuerlichen Mysterien alter Schwarten verraten, eine sehr begreifliche Neigung aller Phantasten, an phantastische Tradition anzuknüpfen, aller Ironiker, sich magisch zu maskieren und in den Absonderlichkeiten vergangenen
Geheimniskrams und Luftgespinstes herumzustöbern.
Solcher Lust (die auch schon im letzten Abschnitt seines Kabarettbuches „Das Ketzerbrevier“ geisterte) frönt leidenschaftlich der Band „Neubestelltes abenteuerliches Tierhaus. Eine Zoologie des Aberglaubens, der Mystik und Mythologie vom Mittelalter bis auf unsre Zeit“ (Gustav Kiepenheuer, Potsdam). Mehring nimmt sich darin der Geschöpfe an, die in den Akten einer zünftigen Zoologie nicht registriert wurden, der Fabelviecher und Merkwürdigkeiten wie Einhorn, Drache, Basilisk, Lintwurm, Greif, Seeschlange und bürgerlicherer Monstra: die Ziege mit zwei Köpfen, das schlesische schwarze Schwein, die Zeitungsente. Satire und Mystik feiern Schlachtfeste ihrer Verwandtschaft, und noch in so gelehrsamen, durch die rarsten Zitate beglaubigten Traktaten ist Mehrings Angriffslust aktuell rege. So wird endlich einmal konstatiert, daß auch die menschliche Überhebung übers Tier Zeichen antisozialen Sinnes und Kastengeistes ist, Herrenanmaßung, die gottgewollte Abhängigkeit des Tieres vom Menschen zu proklamieren. Einen noch gröberen Schlag bekommt der Stolz mit der Versicherung, wie zufällig die Seele einen Menschenkörper bewohnt, wenn der Dünkel gezwungen wird, sich in eine Heuschrecke zu verwandeln, der Herr Wirkliche Geheime Rat im Polizeipräsidium, Abteilung la, plötzlich als Insekt hilflos umzulernen sucht. Irgendwo existiert das Namenlose, ein Sackermentsding, das jeder Definition spottet und für solche Extravaganz in unsrer Zeit geschäftlich nüchterner Ordnung schwer büßen muß, indem es als Fabrikzeichen für Bitterwasser ein blamables Ende nimmt. Die Parole dieser ehrfurchtslos nur dem Nützlichkeitswahn huldigenden Epoche wird prägnant auf die Formel gebracht: „Quäle nie ein Tier zum Scherz, wenn du nicht Gelehrter bist!“ und präzis genug ausgesprochen: „Die Geschichte der Zivilisation, das ist die Geschichte der falschen Scham und beginnt schon im Paradiese. – Scham ist die Angst vor der Natur, vor den Trieben und Ungeheuern.“ Die Schöpfungsgeschichte erfährt eine Beleuchtung von revolutionärem Standpunkte aus: da ist die paradiesische Schlange die „Todfeindin aller Regierungen“, die die Privilegien, „die Früchte der Erkenntnis und die Schätze der Erde, zu deren Hüterin sie bestellt war, an die Menschheit auslieferte“. Schließlich siegt eine nüchterne Götterdämmerung, das Ungeheuer Moral erledigt die ungeheueren Tiere und beschert dafür der Menschheit die negativen Ungetüme, Bakterien und Mikrokokken. Wir Poeten aber flüchten uns zu entzückenden Besuchen bei dem sympathischen alten Weib, das um Grönland herum bei ihrer Tranlampe zutiefst im Meere sitzt und das von Zeit zu Zeit die Walrosse mit ihren Riesenzähnen lausen, sind gern zu Gaste beim Weiland Herrn von Megenberg in seinem kuriosen Aquarium, gut Freund mit Meermönch, Meerbischof, Meerfratz, vertraun uns lieber Schäfern und Spökenkiekern an als der täglich dementierten Zeitungs-„Wahrheit“. Lieben den Bieresel, der alles zerwirft, wenn ihm nachts nicht ein Krug mit Bier an einen bestimmten
Ort gesetzt wird, und sind natürlich herzlich gern in „Wirtshäusern nach Feierabend“, die viel Spukiges haben „durch jenes rätselhafte, menschenverlassene Durcheinander, in ihrer tristen Öde voll von Spuren besoffenen Radaus“. Diese Registrierung vergeht nicht mit Vergangenem, notiert sich flink bis auf die jüngste Gegenwart durch: die Folies-Bergère-Revue schließt sich den Schimären von Notre-Dame an, und die Tiller-Girls tanzen in den Hexensabbat, bis der Kilometerfresser Auto, der Drache von heut, alles in Angst setzt. Menschen mit Tierköpfen spazieren neben uns, Geier mit Intelligenzbrillen, Wirtinnen, die ihre Gäste in Schweine verwandeln, Generäle mit Bulldoggenschädel, verzerrt durch Bigotterie. Was ähnliche Typen vergangner Zeiten als Werwolf schreckte, heißt heut kraß plakatiert „Bolschewistenscheusal“. Es liegen die halb ernsthaften, halb skurrilen, absichtlich barocken Exkurse dieses prächtig vielseitigen Buchs ganz in der Sphäre jener bewußten Lebens- und Philosophietravestien, wundervollen Wunderlichkeiten, antiphilologischen Belesenheitsorgien, deren scheinbare \/Vindigkeit sehr schnell Sturm werden kann und deren Tollheit zuletzt die sehr klare Abrechnung mit einer nüchtern ungerechten Welt wird. Diesen Bogen mit Namen wahllos zu kennzeichnen: Rabelais, F ischart, Christian Reuter, Sterne, Jean Paul.
Aus dem Aufgehen, Sicheinleben in solch putzige Luft, in ihren Stil und in ihren erfreulich unabhängigen, dreisten Geist schuf Mehring schließlich eine ganz unvergleichliche Nachdichtung von Balzacs „Contes drôlatiques“, die unter dem Titel „Trollatische Geschichten“ in der schönen, handlichen Balzacausgabe des Verlages Ernst Rowohlt, Berlin, erschien. Es mußte einer kommen, der das Gefühl hat für sprachliche Besonderheiten, Abnormitäten, Revolten (die auch geistige sind), um die nach Regis beste Übertragung dieses unbefangen saftigen, aus richtiger poetischer Spiel- und Verkleidungefreude gewachsnen Werkes in ein kongruentes Altertümlichkeitsdeutsch der Fischart- und Katzipori-Schwänke zu schaffen. Es wurde kein Altertümeln und Verschnörkeln daraus, sondern die Transponierung in ein Deutsch, das die Sprachkraft von einst jedem, der heut überhaupt Gefühl für Sprache hat, verständlich macht, herznah bringt.
Max Herrmann-Neiße: Walter Mehrings Prosa; erschienen in: Die neue Bücherschau, 3. Folge, Heft 5, Berlin: 1925
Walter Mehring freute sich sehr über die Neuinszenierung seines „Kaufmanns von Berlin“ von Rainer Behrend. Die Berliner „Tribüne“ hatte schon vorher einige Programme mit kabarettistischen Texten in den 1970er-Jahren aufgeführt. Dieser Brief wurde in der Zeitschrift „Theater heute“ veröffentlicht. In ihr wurde auch der gesamte Text des Stückes abgedruckt.
Das ist mehr als das brauchbarste Arsenal für ein radikal kämpferisches, überlegen geistiges Kabarett, das ist ein lyrischer Zeitspiegel von gewíssenhafter Schärfe und unerbittlichem Wahrheitsmut. Einem sintflutwürdigen Weltzustand sagen diese saftigen Gesänge die bittere Meinung. Mehring hat hier zwei herrliche Eigenschaften, die bei der heute üblichen Art der Künstler, sich vor eindeutiger Stellungnahme zu drücken, dumm zu stellen, in neutrale Spielplätze zu retten, ebenso selten wie aller Ehren wert sind. Er bekennt sich zu seinen menschlichen, freiheitlichen Prinzipien nicht Weniger mannhaft, als das die Anhänger barbarischer Ansichten zu tun pflegen. Und er kann seine Überzeugung auf eine Art ausdrücken, die jedem Menschen leicht eingeht und auch dem Einfachsten sich mit ihrer volkstümlichen Musik einprägt. Es ist stilistisch interessant, die Entwicklung seiner Form zu beobachten. Da wurde aus der Tradition von Pottier bis Bruant und einem Schuß Spreewasser mit Zielsicherheit diese jetzt ganz gefestigte, unverwechselbare Walter-Mehring-Weis, eine Diktion, die den einfachsten Ausdruck, Vertrautheit mit allerlei Mundartlichkeit, ein drängendes Vorwärts im Rhythmus, echte Keßheit und ebenso echte Herzlichkeit niet- und nagelfest eint und in sicherlich strenger Arbeit zum straffpointierten Schlager stählt. Ein Bänkelsang-Swift, möcht man sprechen, wobei das Wort Bänkelsang keine Herabsetzung sein soll, im Gegenteil, die Anerkennung, wie nah Mehring dem heut möglichen Begriff Volkslied kommt. Wer Ohren hatte zu hören, konnte es schon aus Mehrings früheren Werken heraushören; in diesem neuen Bande dürfte es wohl auch für Begriffsstutzigere spürbar sein, daß Mehring auf seine Fasson ein ernst zu nehmender, echter Lyriker ist. Das ist keine journalistische Fixigkeit, die aus der Zeit gereimte Zeilen schindet, sondern liebebedürftiges, liebewilliges Poetentum, das an der Tücke des gegenwärtigen Tatbestandes leidet. Die Provokation kommt aus der eigenen Todesverzweiflung, das Segenswort für alle Art Kummer ist so drastisch, wie es sein muß. Die „Kantate von Krieg, Frieden und Inflation“ enthält akkurat die krasse Wahrheit über ein Stück Historie, aus dem sinnlosen Wüsten unserer sogenannten Rechtspflege werden drei besonders arge Fälle konserviert, „Gebet über Beuthen“ ist hochaktuell als massive Absage an allen nationalen Beneblungsdreh. Schließlich gibt es die phantastischen, überlebensgroßen Gebilde „Mond und Liebe über großen Städten“, „Singweise vom Paradies“ (in wundervoller Leichtigkeit und Grazie), zuletzt nimmt Mehrings Ton etwas von Benn an („Das Lied vom Schlaf der Tier- und Menschenjungen“ und „Die betrübte Ballade vom Menschen und den Tieren“) und mündet damit in den richtigen, für ihn zuständigen Himmel.
„Arche Noah SOS“ ist ein gewichtiger, mit eigener Geistigkeit bewehrter, mit unwiderstehlicher Musik werbender Dichterangriff auf
die deutsche Kulturreaktion.
Max Herrmann-Neiße: Walter Mehring: Arche Noah SOS; erschienen in: Die literarische Welt, 7. Jg. Nr. 19, Berlin 1931.