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1921 1971 Kabarett Zeitleiste

Trude Hesterberg: Die „Wilde Bühne“ formiert sich

Trude Hesterberg„Wie es zu den geteilten Meinungen über das Eröffnungsprogramm unseres literarischen Kabaretts kam, will ich jetzt noch zu erklären versuchen. Nach meinem Wiener Gastspiel im Kabarett von Direktor Farkas fuhr ich nach Paris. Dort traf ich Dichters- und Malersleute, die mir das »richtige Paris« zeigten, das Paris der Midinetten, Chansonetten und Clochards und den Montmartre mit seinem berühmten Quartier Latin. Mein Freund, der Maler Kohlhoff, der Paris so gut einfing, kannte sich hier, an der »Wiege des Cabarets«, aus, und so zogen wir von einem Keller zum anderen. Es war vor allem das »Lapin agile«, das mich immer wieder anzog. Alle, die dort auftraten, richteten eine Front auf gegen das Spießertum.

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1920 Kabarett Lyrik Rezensionen

Ernst Richter feiert Walter Mehrings Debüt

Berlin 1920

Unheimlich wuchtet dieses steinerne Meer in die rote Zeit. Schwingend in Tönen, flutend in elektrischen Farben, berstend von Geräuschen, ah eine dämonische Kulisse, schräg gegen den fahlen Horizont gestellt, in dem ein blauer Mond besoffen taumelt. Harfend der Dichter, auf Stahlsaiten, aufsteigend, Brennendes in sich fressend, Geräusche verschluckend, fürwahr ein Nachtwandler, ein grimmassierender Liebhaber.

Berlin – O magisches Zauberbecken, aus dem Wälder auftauchen, Banken, Bahnhöfe. Paläste, Flüsse, Hochbahnen, Automobile, Luftschiffe, Cadeten, und Bankdirektoren, Proleten, Pfaffen, Spaziergänger, Schauspieler und lachende Mädclıen. O Buntheit des einzigen Augenaufschlags, der das Blut in einem Rhythmus rinnen läßt, in einem neuen frechen Walzer . . .  hörst Du? Schieber, Blut, Strolche, schüttelnde Feldgraue, Hasardeure in allen Farben . . . O, schon steigt der Päan aus Schmutz und Rhythmus, schon steigt er in die Sterne, die großen, betrunkenen, streikfreien Sterne der Weltmetropole, der geeinigten Kommune Groß-Berlin!

Auf dem Bauschutt zerbrochener, zertrümmerter Luftschlösser verbeugt sich der junge Cutaway mit dem spitzen Kopf, der von innerem Aufruhr geschüttelt Coupletverse herausschmettert, wie ein Hahn trompetet, der Wortfetzen von sich schleudert wie ein fanatischer Schwindsüchtiger den letzten Lungenrest – meine Damen und Herren in diesem stilvoll gewobenen Rahmen erlaube ich mir den jungen Diclıter Walther Mehring zu präsentieren, der eine besondere Gattung des politischen Couplets neu belebt, gelvanisiert, schicklich appretiert. Diese Couplets fassen mit spitzen etwas verdorbenen Fingern den kleinen Schaumrest von dem Weltmeer ab, der Berlin sich benennt, pusten ihn auf, größer, magischer, verwester spiegelnd, ein Embryo, riesenhafter Ballon, eine Nachtvisioıı mit Schatten, Gespenstern, spiegelnden Erlebnissen – und davon lebt das nun, dieser junge Dichter. Eine chemische Reinigung seines Vorbestellungsbestandes würde ergeben, daß er Mietherr im Kaschemmenviertel ist – aber das lassen wir wohl bleiben, das wollen wir wohl nicht: wir wollen die Romantik der allerrealsten Ereignisse, wir wollen den Dreck und das Brecheisen, das Polizeipräsidium und – natürlich – das Gleisdreieck.

Parbleu, dieses Berlin ist eine ganz neue Erfindung, letzte Neuheit nach dem letzten Streik, vornehmster neuzeitlicher Dessin, in einer halbseidenen Schieberdestille verstohlen herumgereicht. Das ist unser Berlin, in dem wir den Bolschewismus bekämpfen, mit roten Fahnen immer an die Wand lang für die Weltrevolution demonstrieren, Kinos besuchen, das schlankste Füßchen und die dickste Taille prämiieren – o Du herrliche Stadt mit der Sicherheitspolizei, Nachtlokalaushebungen, Schönheitstänzen und es lebe das natura Ballett! Das Alles, meine Damen und Herren, finden Sie bei Waltlıer Mehring. Nur, verstehen wir uns recht, nicht den Worten und Begriffen nach – das bringt die erste beste Lokalzeitung besser: 0 nein, keineswegs, vielmehr als Vorstellung ungewissester und doch präzisester Art, als schaukelnder Klangfetzen, zerbrochener Rhythmus, eckiger Schrei, als nachgeschleudertes Wort, als Vokalkette, als Konsonantencascade – lesen Sie sich das laut vor, meine Herrschaften, es ist einfach der gute Ton, über das Berlin von 1910 unterrichtet zu sein.

Wirkliclı: mein ganzes literarisches Milieu stimmt mich zur Seelenmanicure: hüten Sie sich vor der Rückständigkeit. Dadaistische Ausstellungen besuchen, ein bischen in expressionistische Filme gehen, der Consum des Großen Schauspielhauses, die Lektüre der Roten Fahne – gewiß, das ist alles schon sehr schön, aber fördert wirklich nicht
llıren seelischen Stoffwechsel wie es die Hygiene verlangt. Tun Sie etwas für Ihr darbendes Gehirn. Füttern Sie es mit Melıring. Sie werden begeistert sein von einer neuartigen, entscheidenden Reinigung der Gehirnbahnen. Sie werden den Kurfürstendamm und die lnvalidenstraße, Altmoabit und Bahnhof Alexanderplatz mit neueroberten seelischen Kräften erleben, die Sie selbst überraschen. Was ist Kola-Dultz, was ist Yohimbim dagegen! Versuchen Sie es! Vollziehen Sie Ihre innere Revolution! Man weiß ja nicht, was mit Berlin passiert! Man muß fest auf seinen Beinen stehen, muß auf Alles gefaßt sein, was ein sozialistischer Magistrat in die Welt befördert, muß nicht erschreckt sein, wenn der Magistrat morgen mit schwarzweißroten Fähnchen durch die Friedrichstraße zieht. Verschaffen Sie sich unter allen Umständen einen archimedischen Punkt, einen topographisch sicheren Standort in der geistigen Siedlungsfläche Großberlins. Eine
ernste Lektüre der Mehringschen Couplets bewerte ich wie sieben halbtiefe Kniebeugen. Gehen Sie an die Arbeit.

(Richter, Ernst: Berlin 1920; in: Schall und Rauch, 1. Jg/Nr. 2 vom Oktober 1920; S. 1 f.
Diese Rezension ist einer der ersten Texte, der über ein Buch Walter Mehrings erschienen ist. )

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1929 Lyrik Rezensionen

Wolf Zucker sieht Mehrings Lyrik ganz anders als Walter Benjamin

In der „Literarischen Welt“ entdeckt Wolf Zucker in „Die Gedichte Lieder und Chansons des Walter Mehring“ das wirklich Besondere. Anders als Walter Benjamin, konzentriert sich Zucker auf die Wirkung und die große Bandbreite der Tonalität in Mehrings Lyrik. Dieser unideologische Blick ist denn auch mehr als 80 Jahre nach entstehen des Textes erhellend:

Walter Mehring gehört zu jenen Autoren, deren Wirkung viel weiter geht, als sie selber ahnen. Ohne daß sein Name genannt wird, sind seine Chansons weit über den engen Kreis der Literaturfreunde hinaus bekannt. Es gibt kein schöneres Lob für seine Gassenhauer, als daß sie wirklich in Kneipen bruchstückhaft gesungen werden. Dabei sind die Chansons, Legenden und Balladen mit einer so raffinierten Klugheit und Beherrschung aller sprachlichen Register geschrieben, daß sie oft naturgewachsene Wunderwerke an Ausdrucksfähigkeit zu sein scheinen. Mehring, dessen Wortschatz von der Grenadierstraße bis zum Boulevard de Clichy, von Oberammergau bis hinter die Reeperbahn reicht, hat etwas fertig gebracht, was es in deutscher Sprache sehr selten gibt:
Gedichte im „Volkston“. Gewöhnlich verstand man ja darunter eine gewisse künstliche Naivität, die auf ihre abgebrauchten Phrasen stolz war, die „Maienblüte“ und .‚Lerchensang“ als volkstümlich ausgab. Mehring ist auch nicht der Versuchung des neuromantischen Maschinenkjtschs erlegen, ist weder Naturalist noch Symbolist, sondern etwas ganz und gar Eigenes.
Was Paul Whitman für die Musik, das hat Mehring für das moderne Chanson geleistet: Die Verjazzung von Rhythmus und Melos. Jener synkopische Versstil, den schon Liliencron gelegentlich hatte, wird bei Mehring zur letzten Konsequenz ausgebaut. Aber eine solche Verwendung technischen Raffinements bleibt bei ihm nicht mechanisch. Gerade die völlige Durchdachtheit seiner Strophen gibt den Gedichten ihren besonderen Charakter. Bei allem Temperament hat Mehring jene sprachliche Disziplin, die für das Chanson Vorbedingung ist. Sein „‘ck bin jefiehllos, ’ck bin Poet!“ könnte als Motto über einer Theorie der Mehringschen Lyrik stehen. Und man würde damit sagen, daß hier ein Dichter mit Gefühl aber nicht „jefiehlvoll“ geschrieben hat.

Wolf Zucker: Die Gedichte, Lieder und Chansons des Walter Mehring; in: Die Literarische Welt Nr. 30, 5. Jg. vom 26. Juli 1929, S. 9.

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1925 Rezensionen Zeitschriften

Max Herrmann-Neiße blickt 1925 auf neue Kabarettdichtung

Neuere deutsche Kabarettdichtung

Lange fehlten in Deutschland jene Dichter des packenden, urwüchsigen, aktuellen Schlagers, die in Frankreich die Entwicklung des Kabaretts zu einem eignen vollwertigen Kunstzweige früh gefördert hatten, gab es gar keine Schriftsteller, die spezifisch dahin begabt waren, ein Ereignis sofort rücksichtslos zu entblößen und unterm amüsanten Pfeilregen des Witzes zu begraben. Gab es keine Künstler, denen jene leichte Musikalität im Blute liegt, die im einprägsamen Rhythmus und mit dem volkstümlichen Gedächtnisanhalt des Refrains gleichsam spontan Empfindung und Meinung sich äußern läßt. Gab es auch keine abseitigen, untergründigen Urwuchspoeten, Bänkelsangdichter voll Dämonie und satzungsferner Doppelbödigkeit.

Die Textlieferanten der ersten deutschen Überbrettlära waren lyrische Limonadenfabrikanten (Ernst von Wolzogen, Bierbaum), platte Bonmotdrechsler und Bonhomiesatiriker (Pserhofer, Rideamus). Und die Dichter, die damals zufällig im Rahmen dieser Kabaretts auftraten, schrieben nicht fürs Kabarett und schrieben nicht so, daß ihre Werke irgend eine Möglichkeit gehabt hätten, vom Kabarett aus zu wirken. Von wirklichen
Künstlern gemachtes, Kabarett, das eine Welt für sich darstellte, war erst das der »Elf Scharfrichter« mit den Dichtern Wedekind, Lautensack. Leo Greiner, Gumppenberg, Ludwig Scharf. Dann gab es in den drei, vier Jahren, die dem Weltkrieg vorausgingen, eine Dichtung, die zwar nicht direkt fürs Kabarett gemacht war, aber ihrer Struktur nach einem wirklich künstlerischen und selbständigen Kabarett geeignetes Material zu bieten hätte. Die impressionistisch-naturalistische Literaturepoche hatte es in ihrem Ausgang zur Groteske gezogen: nach der Erringung eines hohen formalen Niveaus führte man akrobatische Wagestücke und verblüffende Fingerfertigkeiten vor, hielt Berlins Großstadtsensationen in grotesk frisierter Verklärung lyrisch fest. Die Reihe der Dichterexzentriks war groß und mannigfaltig, Scheerbart, Meyrink, Mynona waren ebenso darin wie Hardekopf, van Hoddis, Lichtenstein, Blass, Hugo Kersten und das Autorenterzett der »Kriminalsonette«. Die Schwindelatmosphäre des Kriegs- und Nachkriegsbetriebs nimmt die deutsche Abart des Dadaismus dann einfach als Technik auf, erbarmungslos, exakt, mit nötiger Kaltschnäuzigkeit, marschartigem Draufloshämmern, marktschreierischer Inseratenstrophe, marionettenhafte Geschäftigkeit, betreibt die Tollheit als Gewerbe und schafft so auch für ein selbstherrliches Kunstkabarett bizarre, klischeefeindliche Vorlagen in Gedichten von George Grosz, Richard Huelsenbeck, Hans Arp, Kurt Schwitters. Die Reihe der Außenseiter-, Urwuchs-, Unbandpoeten, jener Dichter, die durch die Konventionslosigkeit,
ja Vogelfreiheit ihres Werks für ein geistiges, kämpferisches Kabarett wichtige Anreger blieben, setzte sich inzwischen von Wedekind, Ludwig Scharf, über den gesinnungsechten Barden Erich Mühsam, die lebensechte, schicksalshafte Bohemienhaltlosigkeit der Emmy Hennings, den Dramatiker Bert Brecht, der zugleich der erschütternde Bänkelsänger der milden Moritat Apfelböck oder die Lilie auf dem Felde und der großartig aufreizenden Ballade vom toten Soldaten ist, bis zu dem in seiner Art einmaligen Daseinsbohemien, Grotesketragiker Joachim Ringelnatz fort. Das ist der Ausbund von einem heutigen Vagantendichter, der erschüttert, wie nur die Einheit von Dichter, Werk, Leben erschüttern kann. Ein Original, etwas herrlich eralkoholisiertes, Urviechiges mit dem niederträchtigen Dichterblick für die Kleinzüge allen Außenseitertums, dem etwas für seinen Bezirk so Klassisches entstammt wie Noctambulatio. In den Turngedichten, in den Phantasien des Matrosen Kuddel Daddeldu (beide bei Kurt Wolff, München) und im Geheimen Kinder-Spiel-Buch (Gustav Kiepenheuer, Potsdam) schuf er sich eine ganz eigentümliche barocke Ausdrucksform, einen Ton und Rhythmus, den nur er so hat, für eine ganz eigne Erlebniswelt. Das sind drei Maskierungen oder Demaskierungen ein und desselben Wesens.

Dieser Seemann Kuddel Daddeldu, dieser Turnerschreck und dieser Wegweiser für Enfants terribles – es ist mehr als» ernsthaft selbstparodistische Laune«, es sind keine Fiktionen, keine »erdichteten Gestalten«, es ist der Zwang, seine verquere, verfahrene, halb lachhafte, halb melancholische Lebenschose in Zickzackbahnen zu erledigen. Alles ist gleich echt und verflucht schicksalhaft, der Ekel an der strammturnerischen deutschen Umwelt, daß man das Kotzen kriegt, sich in nebulose seemännische Grogseligkeiten flüchtet, wo man von einst erlebten oder auch nur erhofften exotischen und erotischen Abenteuern träumt und schließlich in allen als Kind dasteht, boshaftes, himmlisches Kind, dem alles nur Spiel ist und nach automatischem Widerpart und Schabernack der kaum von Trunkenheit zu unterscheidende Urweltschlaf kommt, der selig lallend von nichts mehr weiß. Es ist dieselbe göttliche Naivität hier wie in den Turn- und Seemannsgedichten, und dort wie hier grenzt sie an die raffinierteste Bewußtheit exzentrischer Technik, aber dabei ist kein Widerspruch, wer selbst ein vielfältiger, hin und her gerissner Dichtermensch ist, kennt das, wie man nah nebeneinander lindeste Schwärmerei, schadenfrohen Zynismus, Liebenswertes und Selbstzerstörerisches haben kann und muß.

Dieselben Grundelemente finden sich in dem Kinder-Spiel-Buche wie in den andern Ringelnatzwerken: der energische Zugriff, das wurschtige Sichfallenlassen, die schnuppige, ruppige, weil absichtslose, so doch im letzten Sinne keusche Eindeutigkeit, die keine Zote ist, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der man auch diesen Dreck des Lebens, der einen immerzu plagt, hinschmeißt. Und auch die scheinbare Herzlosigkeit und Grausamkeit in solchen Versen ist kein Gefühls- und Gewissensmangel, eher der Überfluß an Gefühl und Gewissen, der sich mit der faktischen Herzlosigkeit der Mitbürgerschaft zu deren Ungunsten ausgleicht. Da gibt es »Abzählreime«, die in ihrer scheinbaren Zufälligkeit eine Weltanschauung enthalten, nämlich die tiefe Überzeugtheit vom irrsinnigen, hoffnungslosen Nebbichtum unsrer ganzen Erdenexistenz, und die Ratschläge zu neuen Kinderspielen sind ganz rebellisch, zielen auf Attentat, Unruhe, Verwirrung ab, geben glänzend unehrerbietige, blasphemische Maximen und sind schließlich
alle» Nur für Kinder, die keinen Schiß haben «.

Der spezifische Kabarettdichter, dessen besonderes Talent es ist, die fürs Brettl notwendige Originalität, Vielfalt, Tempobeschwingtheit und scharfe Pointierung zu haben, der eine neue Art Chanson, eine ganz dem Rhythmus der Zeit und dem Rhythmus heutigen Kabaretts entsprechende Coupletkunst begründete, ist Walter Mehring. Was ihn vor allem zu seinem Metier befähigt, ist diese rhythmische Feinfühligkeit, die Treffsicherheit, den richtigen Vortragsschwung jedem einzelnen Couplet gleich mitzugeben, daß schon im Takt die Situation sich ausdrückt und Melodik und Stimmung sich vollkommen decken. Dabei ergibt sich für die verschiedenen Gelegenheiten eine dementsprechende Abwechslung: eine Erinnerung an den Tonfall Bruantscher Schreckenslieder, die alte Kehrreimweise, eine Simultanität, die von der »Fortgeschrittnen Lyrik« manches nutzte, und schließlich das originellste Produkt eines freien Rhythmusses der Couplettechnik. Es muß noch einmal konstatiert werden, daß der nun so oft dünner nachgemachte Vortragselan, der die rasende Mechanik des Großstadtbetriebes exakt ausdruckt und so etwas wie einen Expressionismus der Brettldichtung, eine im Automobiltempo losgelassene, gebremste und Kurven nehmende Momentaufnahme darstellt, zuerst und am intensivsten moussierte in solchen Mehringoriginalen wie Achtung Gleisdreieck, Sensation, Salto mortale.

Sein neuester Band Europäische Nächte (Elena Gottschalk Verlag, Berlin) ist sehr geschickt eingekleidet als eine »Revue in drei Akten und zwanzig Bildern«. Die drei Akte »Quer durch Mauern«, »Ländliche Romanze«, »Nun ade, du mein lieb Heimatland« gliedern die Sache in Berlinisches, Ländliches und Internationales, wobei für Ankurblung, Atemholen, Steigerung und radikal brüsken Ausklang, wie für die richtige kabarettistische Vielfalt von sentimentalem, Aggressivem, Zärtlichem und Barschem, Schwärmerei und Abfuhr glänzend gesorgt ist. Das Ganze ist geradezu ein vorbildlicher Grundriß für ein ideales Kabarettprogramm. Und es ist auch gewissermaßen ein historisches Kabarettbuch, denn es enthält alle die Schlager, die – von Werner Richard Heymann, Friedrich Hollaender, Mischa Spoliansky komponiert – ihren Platz haben im Repertoire wesentlicher deutscher Kabarettküristler. Es enthält auch die beiden besten kabarettgemäßen Persiflagen, die ich aus den Programmen der letzten Kabarettjahre kenne: die Oberammergau-Parodie und den Russischen Holzschnitt. Auch in diesem Bande erweist sich, daß Mehring viele Register beherrscht, von einer außerordentlichen Wandlungsfähigkeit und Mannigfaltigkeit ist. Da gibt es so pompöse Monatrestücke wie die Arie der großen Hure Presse, Blocksberg, Bravournummern wie Dressur, Der Rattenfänger von Hameln, Amerikanisches Riesenspielzeug, Balladen wie die vom »Abenteurer«,vom »Highwayman«, von den »roten Schuhen« verschlagne Romanzen wie Mein Herz, unscheinbare, sanfte, dennoch mit geheimer Schadenfreude geladne Liedchen wie Die kleine Stadt, Bergerette. Dann wuchtige, Stimmung der Großstadt in unendlicher Schwermut gestaltende Dichtung Wenn wir Stadtbahn fahren, radikale Attacke: Die Maschinen, wundervoll Ironisches wie Ziehende Schafherde, bestes Tingeltangel: The man in the moon, robustes Chanson von den »Gardekürassieren «unbürgerliche, vagabundenfrohe Justamentsstrophen: Die Vier auf der Walze und Choral für Seemannsleute (übrigens tadellos das Couplet aus dem Monologischen ins Vielstimmige führend), und schließlich eine überlegene Rücksichtslosigkeit in dem herrlichen Monolog Der Angeklagte hat das letzte Wort. Mit dem Gruß »Doch nie stirbt mein Gelächter« stößt das Abenteurerschiff vom belämmerten
Heimatsufer ab, und fast schon unter Palmen stellt ein sehr, sehr über Europa schwebender Epilog den »Tiefen Grund « fest, warum bei uns zulande der mörderische Kuddelmuddel herrscht. Kein sogenanntes »ernsthaftes« Gedichtbuch der letzten Zeit hatte mich so restlos in seinem Bann wie dieses in jeder Hinsicht freie, und daß es sein Verfasser mit einem phantastischen Umschlagsbild und hübsch unpedantischen, nach Lust und Laune hingesetzten Textzeichnungen versah, schuf ihm vollends die rechte tändelfrohe, gottlob unseriöse und unbedingte Kabarettatmosphäre.

Von Marcellus Schiffer, der heut am eifrigsten die Kabaretts mit Texten beliefert, eine direkt routinierte Begabung für das nicht gerade tiefe, unterirdisch gefährliche, doch aber geschmackvolle, von einem wirklich witzigen Intellekt zeugende Chanson hat, existiert leider noch keine Buchpublikation. Erich Weinert, einst Mitglied des Leipziger Kabaretts »Die Retorte«, das eine künstlerisch selbständige, ein eignes Gesicht wahrende
Institution war, heut in Berlin beliebt, schrieb Couplets, Verssatiren, gereimte Plaudereien, deren gemeinsames Merkmal ist, daß sie ganz leicht aus dem Ärmel geschüttelt wirken und an gangbaren Pointen reich sind. Es gibt zum Beispiel von ihm eine der köstlichsten Parodien auf Dirnenchansons und eine gute Persiflierung der »neuen Deutschen Nationalhymne«, nämlich – des Bananenlieds. Seine besten Sachen stehen aber leider noch nicht in dem Bändchen Der Gottesgnadenhecht und andre Abfälle (Elena Gottschalk Verlag, Berlin), obwohl darin auch schon so ehrfurchtslos aggressives Geschütz wie das Titelgedicht, so brauchbare Verhohnepieplungen wie Der Akadem, so bittre Mahnung wie republikanischer Abend enthalten sind.

Eine Sache für sich ist Hans Reimann, eine ganz persönliche Sondernummer, eine Art sächsischer Otto Reutter von fortschrittlicherer Geistigkeit, jedenfalls natürliche Originalität, ein Kerl von eignem Wuchs und Gesicht. Seine neueste Publikation Mein. Kabarettbuch (mit Zeichnungen von Paul Simmel bei Steegemann, Hannover, erschienen), parodiert in seinen besten Partien gutpointiert kulturelles und literarisches Talmi.
Reimann konzentriert da ergötzlich Schiller, schafft die Sächsische Nationalhymne, revidiert die Schöpfungsgeschichte, besingt den Untergang des Abendlandes gebührend, stellt in einer Hymne Rabindra und Fern Andra als Lieblinge des Volks auf den Sockel des gemeinsamen Denkmals (Pose: Schiller-Goethe auf dem ‚Weimarer Denkmal), knöpft sich gelassen und kundig Caesar Flaischlen, Bonsels und Jungnickel vor.

Max Herrmann-Neiße: Neue deutsche Kabarettdichtung; in: Die neue Bücherschau, 3. Foöge, Heft 1, 1925.

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1920 Lyrik Rezensionen Zeitschriften

Kurt Tucholsky lobt Mehrings frühe Gedichte

DAS NEUE LIED

Wir sind kein liedersingendes Volk, und aus dem schauerlichen Gemisch von gestorbenen Wandervogelliedern und künstlich gemachten Operettenschlagern ragt nichts hervor, was dieses Volkes Seele erfüllte. Wenn dem Deutschen so recht wohl ums Herz ist, dann singt er nicht. Dann spielt er Skat.

Eine ganze Industrie befaßt sich mit der Herstellung von Amüsierungs-Erzeugnissen – aber wie tot ist das alles!

Die Technik: Der Schlager baut sich auf dem Refrain auf und der wieder auf einer allgemein gültigen, an sich farblosen, zugkräftigen Redewendung, die man nach allen Richtungen beliebig „drehen“ kann. Sie kann berlinisch sein, was sich so der Zeitungsleser unter berlinisch vorstellt – sie muß sexuell verwendbar sein, aber ja nicht erotisch.  Operettenlieder und Couplets sind durchtränkt von einem unheilbaren Optimismus: in dieser Welt gibt es keine Brotmarken, und wenn es sie gibt, sind sie Anlaß zu einem Wortspiel. Verstaubt Technik und Musik: an der entscheidenden Stelle die Poängte, an der entscheidenden Stelle eine glatt auflaufende berliner Redensart, eine Zote, ein Wortspiel, eine politische Anspielung … Bitte sehr, bitte gleich!

Erstorben das Lebensgefühl dieser Dinge. Das ist alles nicht mehr wahr: der heillose  Optimismus nicht und nicht das Pathos und der ethische Baß. Berlin ist anders,  Deutschland ist anders, die Welt ist anders.

Wir haben, instinktiv und ohne nachzudenken, immer auf dem Kausalnexus und irgendeinem Ethos basiert. Vielleicht ist das gar nicht richtig. Vielleicht ist die Tatsache der Wertung eine überlebte und nicht mehr geltende Angelegenheit. Vielleicht gibt es doch noch außerhalb der Faktoren der materialistischen Geschichtsauffassung Dinge, von denen sich unsre Erziehung nichts träumen ließ.

Dada? Ja, wenn aus diesem Gemisch von Bluff, Schwäche, intellektueller Einsicht und Gefühl etwa herausspränge: Die Welt läuft – lauft mit! Wenn herausspränge: Die Menschen  müssen so sein, und nichts kann ihre Existenz beeinflussen. Wichtig sind nicht Einflüsse: wichtig sind Prädispositionen.

So feierlich muß ich mich auftun, um einen kleinen Gedichtband mit Couplets anzuzeigen: „Das politische Cabaret“ von Walter Mehring (bei Rudolf Kaemmerer in Dresden erschienen).

Zunächst ist hier technisch etwas vollkommen Neues. Da sind nicht mehr die langen Sätze, die mit der Kraft des Verstandes hergestellten Gedankengänge, vom Autor auf die vorher gebaute Pointe losgelassen – hier ist der sinnliche Eindruck in jeder Zeile neu und stark. Die Mache kommt zunächst gar nicht zum Bewußtsein.

Sie ist aber – ob aus dem Herzen, ob aus dem Hirn herrührend – ungeheuer raffiniert. So etwas von Rhythmus war überhaupt noch nicht da. Man kommt nicht zur Besinnung, und es reißt einen um:

„Immer an der Wand lang. Immer an der Wand lang!
Einer taumelt, Einer baumelt.
Und der Schieber lacht sich krank.“

Mehring begann mit diesen Couplets am Ende des Jahres 1918. Da ist noch stellenweise die alte Form, aber die schon in ganz neuer Färbung. Er machte damals schon zweierlei:  einmal eine wilde Hatz von Eindrücken in freien Rhythmen, die ungefähr so wirken wie eine Wand von Plakaten, an der man schnell vorüberfährt :

„Schon revoltieren
die ersten Lebensmittel der Entente
Im Magen des Kapitalisten!
Berlin, Dein Tänzer ist der Tod –
Foxtrott und Jazz –
Die Republik amüsiert sich königlich –
Vergiß mein nicht zum ersten Mai
Als alle Knospen sprangen!“

Oder er nimmt die alte Coupletform her mit dem richtigen Refrain, ordnet sich ihr scheinbar unter und wirft sie in Wirklichkeit über den Haufen. Der Refrain: eingehämmert.

„Herr Doktor, da is was von Noske drin,
Und was vom Lieben.“

Dann aber entsprang aus diesem jungen Menschen das neue Couplet. Er beherrscht alle berliner Dialekte: den des Luden, der Hure, des Schiebers, des zivilisierten Konfektionärs, des Droschkenkutschers und am meisten den Dialekt der Zeitungsleser, den die gar nicht als Dialekt spüren, und von dem sie glauben, das eben sei ihr geliebtes Deutsch. Die Folge dieser verblüffenden Kenntnis ist, daß Walter Mehring Lieder geschrieben hat, die unheimlich echt sind.

„Teure Heimat, Jott befohl’n,
Doch bei dir is nischt zu holen.
Denn du bist
Ausjemist
Bis uffs Hemd!
Und ‚ck find‘ mir wie ’ne Zille.
Jondle los.
Pacht mir drüben ’ne Destille,
In Los Angelos.“

Und:

„Da drinnen, i Gott bewahre,
Da gibts keine Gitarre!
Da gehts schwapp, schwapp,
Ach lecke, lecke ab!“

Wo ist der Unterschied? Die ersten Verse stammen aus dem um reißenden (Lied des Auswanderers) von Mehring (»Reisen, Mensch! is zu fein! Ohne Zaster uff’m Pflaster, Mit der Schneppe mang die Steppe, Ohne Schein»), das zweite aus den von Hans Ostwald versammelten erotischen Volksliedern (ein vergriffener Anhang zu seinen sehr instruktiven (Liedern aus dem Rinnstein bei Rösl & Co. in München). Die Lieder sind so echt, daß ich mir wohl denken kann, wie die Ostjuden der Grenadierstraße den Sang von der jüdischen Schweiz, so wie er bei Mehring im Buch steht, singen:

„As de Levone
De treifne Melone
Schaint in de jiddische Schweiz!“

Er scheut vor gar nichts zurück. Ich möchte einmal von ihm erotische Couplets hören.

Die Papas sind unverkennbar: amerikanische Affichen und die Franzosen der Montmartre-Cabarets. Aber das legitime Kind ist ein ganzer Kerl.

Ein ganzer? Ich sehe Berlin etwas anders. Noch kann ich es nicht so hartmäulig finden. Stell dich auf den Lehrter Stadtbahnhof und sieh die Züge nach Hamburg abfahren, die Lichter blinken, die Lokomotiven schnaufen, und über die Brücken trollt Berlin. Das faßt Mehring ausgezeichnet und so wie kein andrer. Aber er sieht nicht, wie vorn im ersten Vierterklassewagen ein älterer Mann mit Brille und einem Vogelbauer sitzt, das er in Tücher gehüllt hat. Darinnen hockt ängstlich auf seiner Stange ein kleines Tier mit erschrockenen glänzenden Augen. Und von Zeit zu Zeit sagt der Mann: «Na laß man, Mulle! Wir fahn jleich ab!» Das sieht er nicht. Und ich glaube, daß dieser Schuß Idylle der Stadt auch eine Farbe gibt (man kann darüber spotten, aber sie ist doch da). Mehring ist der erste Flieger über Berlin: unter seinen Augen rückt das alles zusammen: Straßenliniert, Stadtbahnzüge, Plätze und grüne Alleen – das Bild wird übersichtlich, deutlich und klar. Aber Einzelheiten kann man von da oben nicht mehr so erkennen.

Er sieht Berlin zum ersten Mal so, wie die Welt bisher Paris gesehen hat. Er hat ein neues Lebensgefühl, einen neuen Rhythmus, eine neue Technik.

Was ein Publikum, das von Kalisch bis Julius Freund mit gereimter Mathematik des Humors erzogen worden ist, dazu sagt, will nicht viel heißen. Augenblicklich steht es so, daß die Leute durch so ein Couplet zunächst umgeworfen werden (vor allem dank der Musik Friedrich Hollaenders), und wenn sie sich von dem unerhörten Schmiß und der Rage wieder erholt haben, fangen sie an, nachzudenken, langsam zu verstehen … und dann lehnen sie natürlich eine Lebensauffassung ab, die die ihrige nicht einmal tadelt, sondern einfach verlacht. Und doch zutiefst begriffen hat.

Mehring hat es nicht leicht. Ein ihm adäquates Cabaret gibt es nicht. Die besten. impressionistischen Künstler bringen Mehrings Lieder schließlich immer nur auf ihre Weise, und außer Gussy Holl wüßte ich niemand, der diese leicht in Fäulnis geratenen Verse ganz zu singen versteht.

Die virtuose Beherrschung einer neuen Form – das ist noch gar nichts. Wenn wirklich neue Philosophie, Ablehnung aller Metaphysik, schärfste und rüdeste Weltbejahung einen Straßensänger gefunden haben, der das alles in den Fingerspitzen hat: Leierkastenmusik, die Puppe auf dem Sofa des Strichmädchens, die eingesperrten Kinder, deren Mutter uff Arbeet jeht, Männer vom Hausvogteiplatz, für die die Welt keine Rätsel mehr birgt, brave Abonnenten, denen das Insertionsorgan Kindtaufe, Hochzeit und Sonnenaufgang  vorschreibt –

wenn die neue Zeit einen neuen Dichter hervorgebracht hat: hier ist er.

Der Text ist 1920 in Heft 48 der Weltbühne erschienen.

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1919 Lyrik Rezensionen Zeitschriften

Kurt Tucholsky sieht 1919 in Walter Mehring eine literarische Hoffnung

Die Kunst des Couplets

Die Ansicht der Deutschen, daß es keine <Kunst> sei, ein Couplet zu schreiben, hat diese Liedgattung hierzulande so niedrig sein lassen, wie sie eben ist. Ein Couplet … das ist eine mehr oder minder roh zusammengehauene Sache, ein Sammelsurium faulster Witze, ein grobes Gedicht – zum Schluß mit dem unvermeidlichen Refrain, der möglichst zweideutig und möglichst unsinnig zu sein hat, damit er zieht. Ist das ein Couplet? Es könnte anders sein.

Die Begabung, ein gutes Couplet zu schreiben, ist vereinzelt, und eine Angelegenheit, die nur wenig mit sonstigen Begabungen zu tun hat. Sicher ist, daß ein sonst untadliger Literat, ein
Verskünstler, ein Humorist nicht durchaus brauchbare Couplets zu liefern braucht.

Das Couplet hat seine eigenen Gesetze. Es muß zunächst einmal mit der Musik völlig eins sein (das ist eine große Schwierigkeit), und dann muß es so aus dem Geist der Sprache herausgeboren sein, daß die Worte nur so abrollen, daß nirgends die geringste Stockung auftritt, daß die Zunge keine Schwierigkeiten hat, die Wortfolge glatt herunterzuhaspeln. Nun verwechseln die Leute bei uns mit dieser scheinbar kleinen Klasse der Technik
(Leichtgewicht) den Inhalt, und der ist denn auch meistens danach. Was steht denn in unseren Couplets meistens drin?

Das deutsche Couplet, das keineswegs literaturfähig ist, steht fest auf zwei dicken Säulen: auf dem Stumpfsinn und auf der Zote. Auf der einen Seite: «An dem Baume – da hängt ne Pflaume» – und auf der anderen: «Fischerin, du kleine – zeig mir deine Beine!» Vereinigt das Couplet beides, so schmunzelt der Theaterdirektor und klopft dem Textmacher befriedigt auf die Schulter. Das ist etwas fürs Sonntagspublikum.

Wir anderen aber vom Wochentag hätten gern auch etwas und wären zufrieden, wenn begabte und geschmackvolle Literaten sich die Technik, diese unendlich schwere Technik des erfolgreichen Couplets zunutze machten, um ihre Gedanken und ihre Wertungen darin auszudrücken. Aber wer kann das?

Die Geringschätzung, der sich das Couplet hierorts erfreut, beruht nicht auf seiner Technik: sie beruht auf seinem Inhalt. Zunächst und heute noch mit Recht. Unter der alten Zensur
konnte das politische Couplet überhaupt nicht wachsen – und die faustdicke Konzession, die da ans Parterre gemacht wurde, war sicherlich nicht dazu angetan, Sympathien für eine Kunstgattung zu entwickeln, die bei der schwerflüssigen Art unserer Gebildeten sowieso das böseste Mißtrauen von vornherein wachrief. Ein Couplet? A bah!

Dabei sind die Möglichkeiten, aus dem Couplet etwas durchaus aus Salonfähiges und Geistvolles zu machen, gegeben. Freilich gehören einige Kleinigkeiten dazu: Gesinnung, Geschmack und großes Können.

Gesinnung: Der neue Coupletdichter mußte nun einmal nicht nur die untere Partie des Menschen in den Kreis seiner Betrachtungen ziehen, er müßte – so frei und frech er auch die Liebe behandeln könnte – nun einmal nicht das Spitzenhemd der Gnadigen als Zentrum der Welt ansingen. Er müßte politisch mutig sein  – ob er da nun Hindenburg oder Kautsky feiert, ist, objektiv betrachtet, gleichgültig – wenn er nur dran glaubt und diese Feier nicht nur des Parketts wegen unternimmt. Heute liegen die Dinge noch so, daß Textdichter, Unternehmer und Schauspieler eine Heidenangst vor dem Publikum haben und ihm nur das servieren was es erfahrungsgemäß beklatscht. Falsch. Man kann nämlich – aber nicht drüber sprechen – auch mit guten Dingen ein gutes Geschäft machen.

Geschmack: Der neue Coupletdichter müßte den unerlernbaren Takt besitzen, gewisse Dinge nicht zu sagen. Nichts ist bezeichnender für einen Schriftsteller, als die Dinge, von denen er gar kein Aufhebens macht, das, was für ihn selbstverständlich ist, das, was er als ständige Vokabel im Munde fuhrt: seine Welt. Und daß heute nicht die beste aller Welten daran und dabei ist, die Coupletverse zu schreiben, ist leider evident. Die Gesinnung des Coupletschreibers schwankt heute noch – von wem gen Ausnahmen abgesehen – im Winde, und das ist schade, um des Couplets und um der politischen Sache willen. (Eine solche rühmliche Ausnahme ist übrigens der junge Walter Mehnng, der Sohn Siegmar Mehrings. Eine Hoffnung.)

Technik: Der neue Coupletdichter müßte das feinste Handgelenk besitzen. Es ist schwer, Worte in Verszeilen miteinander abzuwägen, es ist schwer, den einen kleinen, leisen Fehler zu vermeiden, der ein ganzes Couplet umwerfen kann, es ist schwer – und das ist nun am schwersten – den Refrain zu gestalten, daß er <sitzt>. Es gibt solche und solche: die Reuttersche Technik, einen an sich farblosen Refrain durch den Vortext zu färben, ihm
nun erst Gestalt und Inhalt zu geben, mag wechseln mit einem festen, sinnvollen Refrain, der durch seine drei- oder viermalige Wiederholung immer plastischer, immer stärker wirkt. Aber wer kann das?

Das alte französische Cabaret- ich denke da besonders an Aristide Bruant – hatte solche Schriftsteller, die einen Refrain herausgrölen konnten, ohne je derb zu sein, ohne platt und geschmacklos zu sein. Manchmal trifft man bei uns Ansätze, aber sie gedeihen nicht.

Und sie gedeihen deshalb nicht, weil keine Kritik da ist, die sie fördert. Die Operette, wie sie heute ist, das Variete – sie wollen keine Kritik, wenigstens keine ernsthafte, und sie brauchen sie, von ihrem Standpunkt gesehen, auch gar nicht: denn eine gute Kritik nützt ihnen kaum (die Häuser sind auch ohne sie voll) – und eine schlechte kann höchstens das Geschäft schädigen.

Schade. So wie man früher auf die Gegenstände des täglichen Gebrauches keinen Geschmack angewendet wissen wollte und sich den fürhohe Sonn- und Feiertage vorbehielt, so glaubt man heute, Kunst sei gut für die philharmonischen Konzerte, aber für ein Couplet… ?

Aber nicht in dem, was Auserwählte ergötzt, zeigt sich der Geist eines Volkes. In dem, was Tausende und Hunderttausende allsonntäglich und heute auch allwochentäglich erheitert, rührt und aufpulvert, kannst du erkennen, wes Geistes Kinder da wohnen. Ach, es sind meistens Stiefkinder.

Hier ist ein Feld, ein Acker, eine Scholle – sie liegen brach. Bebaut sie!

Ignaz Wrobel (i.e.: Kurt Tucholsky: Die Kunst des Coupltes; in: Berliner Tagblatt vom 18.11.1919.