Relativ kurz nach der Rückkehr Walter Mehring aus dem Exil veruchte er, Kontakt mit der Gruppe 47 aufzunehmen. Er fühlte sich den jungen Autoren verbunden. Über seinen alten Freund Hermann Kesten gelang es ihm, bei der Mainzer Tagung 1953 zu lesen. Für Walter Mehring endete die Lesung in einem Desaster, das er zeitlebens nicht richtig verarbeiten konnte. Die maßgebliche Figur bei dieser Lesung war der damals noch junge Kritiker Joachim Kaiser. Selbst 35 Jahre später erinnerte er sich selbstzufrieden und ohne jeden Hauch von Selbstkritik an seinen Auftritt:
„(Joachim) Kaiser hat anlässlich der großen Ausstellung über die Gruppe 47 in der Berliner Akademie der Künste im Iahr 1988 dem Kurator Jürgen Schütte ein großes Interview gegeben. Er mokiert sich darin ein bisschen über »jenen nostalgisch-verkitschten Berliner Ton, jenen zweitklassig pseudo-brillanten Stil« Mehrings und konstatiert, dass es »eine Ausnahme, vielleicht eine etwas sentimentale Ausnahme« gewesen sei, dass Mehring überhaupt lesen durfte: »Mehring hatte sehr gebeten: er wollte unbedingt einmal lesen, sich den jungen Deutschen vorstellen. Hans Werner Richter also ließ ihn lesen und hatte nun das Pech, daß da der junge Joachim Kaiser saß, dem Mehrings Literatur nicht gefiel. Ich nahm mich sehr zusammen, machte mir Notizen. Und als Mehring dann fertig war, meldete ich mich. Richter hatte wohl das Gefühl: na, fragen wir den, der war ja das erste Mal so zurückhaltend. Und da legte ich, Punkt für Punkt dar, so logisch ich konnte, warum ich diese Art von Prosa nicht in Ordnung finde, warum ihre Form auf etwas ganz anderes zu zielen scheint als auf das, was ungenau ausgedrückt wird, und warum mir vieles schlecht feuilletonistisch vorgekommen ist, wenig durchdacht und einfach flüchtig. Als ich fertig war, hatten viele Zuhörer offenbar den Eindruck, ich hätte ungefähr das verbalisiert, was sie auch empfunden hatten. Und es war auch nicht ‚böse‘ gemeint gewesen. Ich hatte alles sehr höflich gesagt. Aber das Höfliche kann ja besonders schneidend wirken. Iedenfalls: Mehring reagierte daraufhin ungeheuer bestürzt, reiste wohl auch gleich ab. Ein paar sagten dann: also, der junge Mann argumentiert ja ausgezeichnet. Aber dann kam der Christian Perber auf mich zu und blaffte ziemlich ruppig zu dem Neuling: wir lassen uns doch von Ihnen den Mehring nicht kaputtmachen!«“
(zitiert aus: Helmut Böttiger: Die Gruppe 47 – Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2012, S. 164).
Er ist klein und zart und zäh. In ihm personifizieren sich die zwanziger Jahre Berlins, wie in nur wenigen anderen. Er ist ein Satiriker und ein Polemiker. Ein Chanson-Dichter und ein Essayist. Er hat Dramen geschrieben (»Der Kaufmann von Berlin«) und kesse Lieder-Texte; Er War Autor der »Weltbühne« und vorher noch beim »Sturm« und bei Hardens »Zukunft«. Er ist ein Literat, wie ihn nur die vehemente, aufbrechende, revoltierende Zeit des Umbruchs vom Kaiserreich zur Republik hervorbringen konnte. Er war der »Bänkelsänger von Berlin«, nicht minder aggressiv, als seine heutigen Nachfahren, doch von kultivierterem Geschmack. Er rezitierte seine Gedichte dort, wo Berlin am Berlinischsten war, am Wedding und er gehörte in den Kreis der Tucholsky, Brecht, Klabund, Piscator, Kästner und Walden. Berlin war ihm die Heimat, die er liebte und deren Gesellschaft er attackierte: »… Mach Kasse! Mensch! Die Großstadt schreit! Keine Zeit! Keine Zeit! Keine Zeit…« Und der Wedding war sein Montmartre. Ein »Asphalt-Literat« – welch ein Ehrentitel. Und jetzt wird er 70 Jahre alt, am 29. April 1966. Doch ist dies nur die eine Seite dieses Mannes, dessen Büchern die Ehre widerfuhr, 1933 auf den Scheiterhaufen zu Wandern: Noch 193 3 hatte er mit seiner »Sage vom großen Krebs« warnend seine Stimme erhoben. Mehring ist überdies ein Kunstkenner von Graden. Er hat Kunstgeschichte studiert und in den letzten Jahren hat er seine Aufmerksamkeit mehr und mehr der bildenden Kunst zugewandt. Nach dem Kriege trat er in Deutschland zum ersten Mal wieder mit seiner »Verlorenen Bibliothek« in Erscheinung, die er die »Autobiographie einer Kultur« nennt – Rekonstruktion der väterlichen, verlorenen Bibliothek, die ihn nach den Werten suchen ließ, welche »weiter für uns gültig sind«. Seine Bücher sind verstreut erschienen, bei Rowohlt, Kiepenheuer & Witsch und im Diogenes Verlag und anderswo. So hat auch sein Werk kein rechtes, festes Haus gefunden. Zwar sind für ihn die langen Jahre des Exils, die ihn über Frankreich in die Vereinigten Staaten führten, zu Ende. Er lebt jetzt in der Schweiz und fühlt sich dort zu Hause, wie überall, wo er an einem »Schreibtisch sitzen darf – gedankenfrei, träumend und hoffend auf ein Diesseits und Jenseits der alten und neuen Welt; in einer American Democracy; in der Deutschen Bundesrepublik; grenzenlos; außerhalb jeder Diktatur – als ein freier Schriftsteller«. Aber sein Berlin wird er, vermutlich, doch noch gelegentlich vermissen.
S .-F .
( S.-F.: Walter Mehring zum Gruß; in: Die Bücher der Neunzehn (hg.): Die Neunzehn ’66 – Texte und Information, München 1966, S. 22.)
WALTER MEHRING
PARMI les écrivains modernes de langue allemande, combien nous restent inconnus ou à peu près! Et si l’on pense aux jeunes, à la longue liste de ceux nés de la guerre et dela révolution, que représentent les quelques-uns dont le nom est tout juste parvenu jusqu’à nous? Au nombre de ces derniers, figure Walter Mehring, qui eût pourtant mérité de notre part une attention particulière rien que pour son admirable traduction des Contes drôlatiques de Balzac dans le langage allemand du seizième siècle, ou encore pour l’amour qu’il porte aux lettres françaises en général et dont témoignent ses travaux relatifs à notre poésie. A d’autres égards encore, il méritait que nous le connussions mieux: n’était-il pas resté, en août 1914, et ce, pendant toute la durée du carnage, sans défaillir une minute, l’actif antibelliciste de la veille?
Walter Melzring dont le père, Sigmar Mehring, traduisit aussi des ouvrages poétiques français, naquit à Berlin, voici près de trente-cinq ans. C’est en 1915 qu’il débute dans la littérature par des essais remarqués sur l’expressionnisme, alors en pleine vogue en Allemagne, auquel s’étaient ralliés tous les jeunes, et par des poèmes audacieux que
publie la revue littéraire d’avant-garde: Sturm. Puis il collabore à la Pleite (la Faillite), organe satirique, où il se lie avec le fameux caricaturiste George Grosz. C’est là également qu’il rencontre Carl Einstein, l’auteur du Mauvais Message, ouvrage qui valut à Einstein d’etre poursuivi et condamné pour blasphème au lendemain de la révolution allemande et sous un régime socialiste.
Un moment, en 1919, Walter Mehring se mit à composer des poésies surréalistes – le surréalisme commençait à supplanter l’expressionnisme, mais était révolutionnaire, lui aussi. Ces poésies au rythme syncopé eurent un certain succès en Allemagne. Mehring en publia trois recueils : Le cabaret politique, Le Bréviaire hérétique et les Nuits européennes. Il collaborait alors au Cabaret artistique „Schall und Rauch“ (Bruit et Fumée), à la Weltbühne et au Tagebuch.
En 1922, il publie Dans la Peau de l’Homme, recueil de nouvelles d’une verve mordante, suivi bientôt de son Abenteuerliches Tierhaus (les animaux dans la mystique, superstitions, psychanalise du moyen âge jusqu’à nos temps; les bestiaires de la littérature française), ouvrage dénotant une grande culture et un esprit profond.
Walter Mehring, malgré sa jeunesse et ses travaux, a dé jà beaucoup voyagé. Il aime la Provence et la côte d’Azur où il a vécu. Paris, où il passe chaque année plusieurs mois, n’a plus de secrets pour ce fouilleur et cet artiste. C’est ce qui lui a permis d’écrire ce beau roman, Paris en feu, dont nous espérons entreprendre la traduction. Précédemment, il avait publié, aux éditions Gottschalk de Berlin, son journal de voyage en Angleterre, dans
lequel nous le vímes déployer des qualités qui ne sont que l’apanage des écrivains de race. Il connaît aussi l’Algérie et en a rapporté le plus beau, le plus délicieux des livres: Algier oder die dreizehnOasenwunder, recueil de contes que nous ferons également connaître en France, tout au moins partiellement.
Walter Mehring vient d’achever, après de longs efforts, un drame qui s’appellera, croyons-nous, Le Bourgeois de Berlin, et pour lequel, nous a-t-il confié, le Théâtre Piscator de Berlin travaille à une mise en scène prodigieuse.
Alzir HELLA.
(Dieser Text zur Vorstellung Walter Mehrings für ein französisches Publikum ist zur Erläuterung erschienen. Oliver Bournac und Alzir Hella hatten gemeinsam die Erzählung Adams goldene Rippe aus „In Menschenhaut Aus Menschenhaut Um Menschenhaut herum“ für die Zeitschrift „Le Merle“ übersetzt, die im Original schon fünf Jahre zuvor bei Gustav Kiepenheuer erschienen war. Alzir Hella vermittelte den Lesern, wer Walter Mehring ist. La Cote D’Adam; in: Le Merle, Nummer 21 (Nouvelle série) vom 27. September 1929; S. 7.)
Das ständige deutsche Theater in New York, in den letzten Jahren oft geplant und nie ausgeführt soll Tatsache werden. Kurt Robitschek wird das Continental Comedy Theater im grossen Theatersaal des Phytion Theater, 133 – 135 West 70 Strasse, Ende Oktober eröffnen. Es will in der Spielzeit 1942 – 1943 eine Serie der grössten amerikanischen und (…) Bühnenerfolge zur Aufführung bringen.
Geplant sind Aufführungen folgender Werke: „Watch on the Rhine“ von Lilian Hellman, „Arsenic and Old Lace“ von Joseph Kesselring, „Pygmalion“ von Shaw, „Angel Street“ von Patrick Hamilton, „Claudia“ von Rose Franken, „Broadway“ von Philip Dunning und George Abbott, „Abie’s Irish Rose“ von Anne Nichols, „Ladies in Retirement“ von Reginald Denham undEdward Percy, „The Last of Mrs. Cheyney“ von Frederick Lonsdale, „Room Service“ von John Murray und Allen Boretz.
Am Silvesterabend geht die Neubearbeitung der Operette „Die schöne Galathee“ von Franz von Suppé in Scene.
Kurt Robitschek besorgt die geschäftliche Leitung des Unternehmens. John Kolischer ist Assistent-Manager. Das künstlerische Niveau wird durch die Mitarbeit Joseph Schildkraut’s (sic!) garantiert, der zugleich die Oberregie führen wird. Die persönlichkeit dieses genialen Künstlers gibt die Gewissheit, dass der Stil des amerikanischen Theaters auch in den deutschen Bearbeitungen seiner Erfolgsstücke gewahrt bleiben wird.
Dramaturg des Unternehmens ist Walter Mehring, dem die Durchführung der deutschen Bearbeitung obliegt.
Die Vorstellungen werden vorläufig in Serien zu je drei Aufführungen abgehalten und beginnen mit den Galapremieren am Freitag, 30. Oktober, Samstag 31. Oktober und Sonntag 1. November. Drei Abonnementserien werden aufgelegt: Premieren-Abonnement, Samstag-Vorstellungen und Sonntagvorstellungen (sic!).
Als Eröffnungs-Vorstellung ist die Komödie mit Musik „Broadway“ Philip Dunning und George Abbott vorgesehen.
(Anonym: Continental Comedy Theater; In: „Aufbau“ vom 25. September 1942, S. 11; erschienen in der Rubrik: Wie wir hören.
Auf diesen Text hat dankenswerterweise Sven j. Olssonhingewiesen, der sich intensiv mit Walter Mehring befasst, dessen „Müller“ dramatisch bearbeitet hat und auch Lesungen mit Texten von Walter Mehring durchführt. A.O.)
Meine Ungeduld hängt wohl mit meiner Situation zusammen – Fehlschläge, Enttäuschungen…
Nichts Wesentliches ist – seit meiner Rückkehr aus den U.S.A. über meine Arbeiten berichtet worden »Ein vergessener Autor« – »oft verblüffender Reimkünste« – [so etwa wie: Paganini konnte den Teufelstriller auf einer Saite spielen …]
Soweit die Druckerschwärze reicht, keine Spur von einem Verleger für meinen Abschlußband [-LOST LIBRARY – Verrufene Malerei – Ketzerbrevier] …
[für = Arbeitstitel »Nachttagebuch aller Exile] — dessen erste Fassung ich bei meiner Einlieferung in’s Krankenhaus schon einmal aufgeben mußte …
Die »WM-Chronik« würde mein erster authentischer Zeitbericht sein = dokumentarisch; biographisch …
[»gewissenhaft genau – und so muß man auch sein wenn man mit dem Worte umgeht …« And I quote you! =
Mit besten Grüßen und vielen Wünschen
Ihr Walter Mehring
Volker Neuhaus (Hg.): Briefe an Hans Bender; Köln: Kulturkreis der Deutschen Industrie e.V. 1984; S. 169
(zu Gast beim letzten Schriftstellertreffen in
Heidelberg bevor wir in die Gewerkschaft
Druck und Papier eintraten)
Da ist nichts wieder gut zu machen
keine Novemberstunde
mittags um vier
holt ein was wir vierzig Jahre versäumten
ungeübt
eine Legende zu empfangen
rissen wir ihr die Flügel heraus
TRAUERMANTEL
niedergelassen
augenblicklang
dunkel wie das Hotelnebenzimmer
gegenüber Heiligen Geist
eine Kerze wenigstens
nahm ich von der Kollegentafel
schob sie
wo seine Papiere raschelten
eine handvoll
Jahrhundertasche
keiner dem die Gegenwart glänzt
wurde erhellt:
Mühsam
Klabund
Hasenclever
als Heinrich Mann . . .
viele hörten nur eine Zikade
durch den Autolärm vor den Fenstern
auch das Mikrofon änderte nichts
. . . Expressionismus
Dada war so . . .
während ich
geblendet vom Blitz
unter anderen Donnern mich duckte
Toller
Ossietzky ach wissen Sie
aber dann war da ein KZ
das Tb-KZ bei Marseille
dort traf ich Ernst Busch er brachte mir
in einer Büchse Nahrung
»dünn« sagte einer
»gebt doch dem alten
Mann eine Suppe und laßt ihn gehn«
ein anderer
fragen Sie ruhig ich bin Fragen gewohnt
von der Gestapo
und so
Memoiren?
Rousseau
der heilige Augustin
wirkliche Memoiren das sind
Don Quichote
Cervantes sagte
Sancho Pansa bin eigentlich ich
oder Proust
das sind Memoiren
Memoiren schreibe ich nicht
wenn ich Memoiren schreibe
komme ich jedenfalls nicht darin vor
zwischen Schall und Rauch
im Sturm
auf der Weltbühne
kommt einer noch einmal so weit her
ein bißchen bös
spitzfindig
zart
doch hielt er sogar gegen den Wind
durchtränkt vom verbrauchten Adjektiv
bitter
wollte lächeln
die Kerze flackerte
ich hatte nicht den Mut zu schrein hier steht ein Mann
der bringt noch einmal
alle mit die wir geschlachtet haben
mit seinen Augen hat er sie gesehn
mit seinen Ohren gehört
seine Hand hat einmal ihre Hand gehalten
denn ich wußte
was er mit uns treibt
setzt voraus wir wären bereit
freiwillig in einen Spiegel zu blicken
der uns als Gorgo zurückwirft
spät
erst nachdem er gegangen war
nachts
als die Kinder von Heidelberg
je nach dem Stoff ihrer Wahl aggressiv
oder apathisch
trunken herumliefen
in der Allerheiligenkälte
kam mir die Erinnerung:
er hatte an den Türen gerüttelt
als ich jung genug war
ihn hereinzulassen: Hier steht ein Mann und singt sein Lied zum Trotz – am Rand der Zeit . . .
Dieses Gedicht über eine Begegnung Walter Mehrings mit deutschen Schriftstellern in den 1970er Jahren ist eine beeindruckende literarische Selbstbezichtigung von Margarete Hannsmann. Es zeigt zum einen die von Walter Mehring immer wieder beschriebene Haltung, dass er als Überlebender keine Beachtung im Nachkriegs-Deutschland finden konnte. Es bringt zum Ausdruck, wie er buchstäblich mit einer Suppe abgespeist werden soll, weil man die Erinnerung nicht will. Zum anderen ist der Text aber auch Ausdruck dafür, dass gerade in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre die Aufarbeitung der Vergangenheit mit der Selbsterkenntnis des eigenen Versagens einhergehen musste. Margarete Hannsmann schreibt ja, dass auch sie – obwohl erst 1921 geboren – hätte den Verfolgten des Nationalsozialismus die Türen öffnen können. (A.O.)
sobald das AKZENTE-heft mit meinem Beitrag erscheinen sollte, senden Sie doch, bitte ein Exemplar an mich id est:
das Hôtel Opera
Dufourstraße
CH 8008 Zürich
(- bitte, aufbewahren -!)
Ich bin zur Zeit – überarbeitet – befaßt mit der Lieferung eines – termingebundenen, umfangreichen Manuscriptes – und ich will mich in ein romantisches Kleinstädtchen – in der Nähe von Zürich – zurückziehen …
Das Akzente-heft wird wohl der erste Bericht sein – seit meinem »Comeback to Europe« – der sich authentisch – subjektiv – objektiv – mit meinen literarischen Arbeiten befaßt …
Mit freundlichsten Grüßen
Ihr Walter Mehring
Volker Neuhaus (Hg.): Briefe an Hans Bender; Köln: Kulturkreis der Deutschen Industrie e.V. 1984; S. 170
nun schreibe ich Ihnen da zum letzten Male; und so sinnlos ist mir das Schreiben noch nie vorgekommen. Früher, wenn ich einen Brief an Sie in den Kasten warf – und als Sie in Ihrem Pariser Faubourg le Vésinet wohnten, ich in der Rue de Vaugirard, geschah das drei- bis viermal die Woche -, lächelte ich selig wie ein preußischer Säugling, dem man die erste Spielzeug-Handgranate ins Händchen gibt, im Vorgeschmack Ihrer Antwort. In deutscher Sprache hat keiner Briefe geschrieben wie Sie. Die an mich gerichteten hatte ich sorgfältig gesammelt, jedes Stück, jeden Zettel; auch jenes Couvert mit dem großen Tintenklecks drauf; Sie hatten ihn blau umrandet und dazu geschrieben: „Das hat die Post gemacht!“ Sie sind alle verloren! Es wäre einer der herrlichsten Tucholsky-Bände geworden.
Jede Zeile, jede Polemik von Ihrer Hand war ein Brief, gerichtet an die heroischen Dummköpfe, die Gangster mit Gymnasialbildung und die Sonnewendpriester in Gesundheits-Wollersatz-Wäsche. Die Adressaten konnten nicht einmal mogeln, sie hätten das Schreiben nicht erhalten. Es traf sie mit tödlicher Sicherheit. Man hat Ihnen den Empfang allseitig durch Ausbrüche zügellosen Hasses bestätigt.
Seit drei Jahren sind diese Briefe an die uns aufgezwungenen Zeitgenossen ausgeblieben; und vor einem Jahr kam der letzte private an mich. Hätten Sie gewußt, wie wir alle darauf gewartet haben; wie wir uns gesehnt haben, zu wissen: Was sagt Peter Panter dazu? Es hätte nichts mehr an dieser zum Zeitgeist beförderten dementia geändert. Aber wir wären jedesmal für ein paar Stunden den Albdruck losgeworden: Nein, wir träumen nicht! Es gibt noch ein gesundes Hirn, eine unbestechliche Vernunft!
Dank Ihnen waren wir ja nicht überrascht! Wer je Sie gelesen hatte, mußte wissen, daß es so und nicht anders kommen würde. Darf ich Sie zitieren?
„Lieber Mehring,
vielen schönen Dank für Ihren werten Schrieb! Ich bin schrecklich neugierig: haben Sie ein Heim? Wo wohnt das? Sieht man von da den sacré Kör? Haben Sie eine puanderie? Wie ist es überhaupt? Hei!
Des weiteren, lieber W. M. – ein chronischer Katarrh, wie er auf mir sitzt, mag ja das Weltbild stören. Aber jedennoch: so wenig wir von dem, was sich da ereignet, überrascht worden sind, je desto weniger kann ich noch mitmachen. Was die Nichtüberraschung angeht, so sehe ich uns noch beide schweren Schrittes auf der Gare St. Lazare herumstolpern, wir beredeten es alles, und es hatte etwas leicht Komisches: um uns brausten die Leute, und wir hatten es mit dem kl. Weltuntergang. Und wir haben doch Recht behalten, ein größerer steht bevor, und so sehr ich gegen die Leute bin, die, wie der gute O. gesagt hat, „eine Villa mit prachtvollem Weltuntergang“ besitzen, so klar sehen wir ja wohl, was nun kommen wird …“
Nein, ich zitiere nicht weiter. Es hören Leute zu, die darauf lauern, Ihre sublimsten Worte kotig zu interpretieren. Für solche Umwelt, mit der man sich erst wieder über das ABC
verständigen muß, war Ihre Schreibweise – zum höchsten Ruhme sei es Ihnen gesagt – nicht bestimmt. Und darum schwiegen Sie. Es sind Ihre Einwände:
„Denken Sie sich bitte, wir gingen noch einmal an unserer alten Penne vorbei, also jetzt, heute – und da seien durch ein Wunder noch dieselben Pauker am Werk. Wir kommen gerade in die Pause. Und wir hören die Gespräche: ,Au – Mensch – heute gibt er die Hefte zurück? Ob er sie zurückgibt? Ich habe sicher eine IVI“ usw. Also gut, wir grinsen ein bißchen wehmütig oder amüsiert- aber es ist doch ganz und gar ausgeschlossen, daß Sie oder ich mehr als eine kleine Anregung für ein paar Verse mit nach Hause nehmen. Es ist doch ganz und gar ausgeschlossen, daß wir das nochmal ernst nehmen könnten! Könnten wir? Sicher nicht…
Und nun soll ich das immer weitermachen? Immer wieder diesen albernen Jargon bewitzeln, über den ich auch in der Karikatur nicht mehr lachen kann Mein Herz schlägt nicht mehr schneller. Ich lese nicht mehr die deutschen Zeitungen, seit Monaten habe ich keine mehr in der Hand gehabt. Es reizt mich gar nicht mehr. Ich weiß kaum mehr, wie die maßgebenden Schießbudenfiguren heißen …“
Sie würden sich eins lachen über die Punkte, durch die ich schamhaft einige Ihrer Sätze ersetze. Ich möchte nicht an Ihrem Grabe das Gemurmel mancher Leidtragender hören: also doch ein Drückeberger! Aus der Reihe getanzt! Haben Sie das gehört: Wir gingen ihn nichts mehr an! Die ganze Terminologie des Kasernenhofes, die so Viele mit auf die große Reise genommen haben.
Sie haben es mir immer und immer wieder bestätigt, daß das neue falsche Pathos Sie ebenso angeekelt hat wie das alte. Es ist, um einem noch die ganze Emigration zu verleiden! (Das sage ich nur hier, an Ihrem Grabe, Peter Panter! Es spitzen schon wieder die Unberufenen die Ohrenl) Sie haben es hinter sich! Und wir wissen nicht, was wir vor uns haben! Aber eins weiß ich, daß noch einmal – in zehn, in zwanzig Jahren – dieselben Leute, die Ihnen diese Konsequenz Ihres unbeirrbaren Verstandes heute ankreiden möchten, entdecken werden: Wie prophetisch recht hat Peter Panter damals gehabt, als er schrieb: „Und dann wieder alles, wie wenn nichts gewesen Wäre? Und so: ,Ach, wissen Sie, ich war ja im Herzen immer gegen Hitler – aber sehnsemah, die Umstände – – -.““
Und trotzdem: „Rheinsberg“ und das „Pyrenäenbuch“, „Mit 5 PS“ und „Lerne lachen ohne zu weinen“. – Das soll es nicht mehr geben? Lächelt die Mona Lisa nicht mehr? Verstummt Wendriner, unser Berliner Don Quixote? An den Sie mehr Herz verschwendet haben, als die meisten ahnten? …Kein Satz mehr des Wrobel, kein Vers mehr des Tigers, der uns verblüffend das Wort von der Zunge nahm? Andere betätigen sich als Gedankenleser ~ das ist ein einträgliches, weil unkontrollierbares Gewerbe. Sie lasen die Hintergedanken! Da gab es keine Ausflucht.
Dem kleinen Mann, dem Wedding-Knoten, dem Wendriner und dem General haben Sie aufs Maul gesehen! Und haben das Gröbste durch Ihren Geist geadelt! Berlin war nur einmal Weltstadt! Als Sie es schrieben!
Lieber Peter Panter!
Es ist plötzlich ganz dunkel um uns geworden, hier
draußen!
Ich schließe, wie Sie Ihren letzten Brief schlossen:
„Als Ihr guter, getreuer und herzlichst grüßender“
Walter Mehring
(Dieser Text ist im Neuen Tage-Buch am 6. Januar 1936 erschienen. In einem Radioessay aus den 1960er-Jahren erinnerte sich Mehring, wie er vom Tod Kurt Tucholskys erfahren hat: „In Wien, Dezember 1935, traf mich die telegraphische Nachricht des Pariser Neuen Tage-Buchs: ‚Tucholsky verstorben – Erwarten Nachruf‘. Die Wiener Weltpresse meldete sesantioneller: ‚Selbstmord eines bekannten Exilautors in Schweden…‘ (…) Der Selbstmord ist eine schleichende Gemütskrankheit, scheint mir, die letzte Ausflucht aus dem Ich-Selbst, und ein exitus letalis des Exils, den dreißig namhafte deutsche Schriftsteller nachher gewählt haben.‘ (Walter Mehring: Kurt Tucholsky; Berlin: Friedenauer Presse 1985, S. 13))
Sehr geehrter Herr Krischke,
besten Dank für Ihren Brief vom 24. 1.
Daß Sie so vielseitig über Horváth arbeiten, ist zweifellos sehr verdienstlich und auch nach meiner Meinung durchaus angebracht. In den zwanziger Jahren, als er in Berlin war und als dort seine Stücke »Geschichten aus dem Wiener Wald« und »Kasimir und Karoline« gespielt wurden, trafen wir einander, wenn auch nicht regelmässig, so doch gar nicht so selten. Das war weiter kein Wunder, denn beispielsweise in dem Künstlerlokal Schwannecke traf »man« sich sowieso. Er war nicht nur ein hochbegabter, sondern auch ein geselliger und ungewöhnlich sympathischer Kollege, der auf dem besten Wege war, etwa in Zuckmayers Richtung Ruhm zu ernten. Von Zuckmayer unterschied ihn – ob das mit seiner ungarischen Herkunft zusammenhängt oder nicht, weiß ich nicht – eine spürbare Hintergründigkeit, die er doch, ohne Geheimnistuerei, in scheinbar nur vordergründigem Dialog zu plazieren wußte. Ausserdem war er, wohl auch, wieder Verglichen mit Zuckmayer, weniger optimistisch als dieser. Gerade die Geschichten aus dem Wiener Wald sind ja ein hervorragendes Beispiel für seine durch Humor gemilderte Menschenverachtung.
Als ich ihn 1937 traf – und ich traf ja damals ausser ihm auch Walter Mehring, Walter Trier und andere Emigranten – waren wir wiederum des öfteren zusammen. Ich erinnere mich noch gut, wie erschrocken er war, als er hörte, daß ich wieder ins Dritte Reich zurückführe, und er hielt diesen Plan für lebensgefährlich. Als ich dann von seinem merkwürdigen Ende erfuhr, erinnerte ich mich begreiflicherweise dieses Gesprächs sehr deutlich. Über die Datierung seiner Arbeiten und ähnliches kann ich Ihnen kaum Auskunft geben. Das dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, daß wir (…) zwar fleissig über Literatur sprachen, aber eigentlich nicht so sehr über unsere eigenen Pläne. Ich weiß, daß ich Ihnen mit diesen wenigen Zeilen keine sonderlich zweckdienlichen Angaben machen kann, wollte aber doch, so gut ich es eben kann, Ihrer Bitte entsprechen.
Mit den besten Grüssen und Wünschen für Ihre Arbeit
Ihr Erich Kästner: Dieses Na ja!, wenn man das nicht hätte! – Ausgewähle Briefe von 1909 bis 1972 (Hg. v. Sven Hanuschek) Zürich: Atrium Verlag 2003, S. 168)
Nach dem Krieg setzte eine Kabarett-Renaissance sondergleichen ein. Die Aufhebung der Zensur ermöglichte Walter Mehring im erneuerten „Schall und Rauch“ Zeitsatire großen Stils. „Berlin, dein Tänzer ist der Tod“ hieß sein Auftakt zu cler „goldbesch … Zeit der Zwanziger Jahre“. Klabund, Seemann Kuttel Daddeldu-Ringelnatz, Theobald Tiger alias Tucholsky und Marschall Böff alias „Ecce Homo“-Zeichner George Grosz assistierten. Mit seinem expressionistischen Sprachen-Ragtime schuf Mehring, Jahre vor Brecht, den Song. 1921 setzte Trude Hesterbergs „Wilde Bühne“ die Tradition des zugrundegegangenen „Schall und Rauch“ fort.
Im März 1918 War Wedekind gestorben. In einer Augsburger Kneipe sang ein junger Mann die halbe Nacht zur Guitarre die Lieder des großen Ahnherrn. Der junge Unbekannte hieß Bertolt Brecht. In der „Wilden Bühne“ schockierte er dann erstmals die Berliner mit seinem Elternmörder „Jakob Apfelböck“; der Durchbruch gelang ihm 1928 gemeinsam mit Kurt Weill in der „Dreigroschenoper“; beider überragende Interpretin war Lotte Lenya.
In dieser Zeit und im intimen Rahmen der „Wilden Bühne“ wurde geprägt, was Deutschlands Chansontradition genannt werden darf. Trude Hesterberg, Rosa Valetti, die später ihr eigenes „Größenwahn“ eröffnete, Kate Kühl hießen die neuen Chansonetten, die auch vor politischen Texten nicht zurückschraken. Man gab sich revolutionär, politisch-pamphletisch, links.
Die eigentliche Entdeckung der zwanziger Jahre war die emanzipierte Frau. Sie zog als Herrscherin ins Kabarett, wie der Chronist Berlins Walter Kiaulehn feststellt: „Die neuen Lieder waren (den Frauen) von den Dichtern auf den Leib geschrieben worden, und darum ließen sie auch die Kniekehlen mitsingen. Es klang sehr gut.“ Hatte man zuvor nur Sinn für die Beine der Tillergirls, so interessierte man sich nun für Persönlichkeiten, die außer ihren Beinen auch noch Witz zu verkaufen hatten. Die Troubadoure der neuen Berlinerin waren die Chansondichter. Mehring, Tucholsky schrieben für die Valetti in den Dissonanzen von Rot und Schwarz, Klabund hatte der kindhaften Blandine Ebinger „Ich baumle mit de Beene“ geschrieben, Friedrich Hollaender widmete ihr die „Lieder eines armen Mädchens“. Ein neues Gespann hieß Marcellus Schiffer-Margo Lion. Schiffer schuf das weibliche parodistische Typenchanson.
Nach 1925 war der politische Elan der Anfangsjahre im Rückzug. Die große Zeit der kleinen Revue brach an. Intim, elegant, voller Pikanterie, verdankt sie ihre Qualität weitgehend dem Geist ihrer Autoren und Komponisten. Über Nacht schlug Schiffers Revue mit der Musik von Mischa Spoliansky „Es liegt in der Luft“ ein, über Nacht hatte Berlin seinen neuen Schlager; Margo Lion und Marlene Dietrich – bis zu diesem Zeitpunkt 1928 eine kleine Kabarettstatistin – ersangen ihn mit ihrem Duett von der „Besten Freundin“.
Elisabeth Pablé (Hg.): Rote Laterne Schwarzer Humor – Chansons des Jahrhunderts; München: Residenz Verlag 1964, S. 10 f.