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2013 Lieder Lyrik

Martina Mühlpointner singt „Wie lange noch?“

Martina Mühlpointner: Vocals
Oresta Cybriwsky: Piano

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1918 Biografisches

Erwin Blumenfeld erinnert an eine Orgie bei George Grosz

Erwin Blumenfeld ist am 17. November 1918 aus dem Ersten Weltkrieg nach Berlin zurückgekehrt. Nach zwei Jahren in der Etappe hinter der Westfront machte er sich zügig auf den Weg, um Bekannte und Freunde aus dem Café Größenwahn zu finden. In seinem Erinnerungsband „Einbildungsroman“ schildert er die Ankunft in Berlin und die wenigen Tage, bis er nach Holland zu seiner Verlobten aufbrach. Die war mit Paul Citroen verwandt, dem Nachbarn, Kindheits- und Jungendfreund Mehrings:

„Zu Haus war niemand. Ich hatte keinen Schlüssel, saß im Schnee auf der Straße, bis der Portier mich, als es tagte, in unsere verlassene Wohnung ließ. Mama in einer Lungenheilanstalt bei Hannover, Annie als Polizeiassistentin in Hamburg. Um mich zu wärmen und gleichzeitig zu entlausen, verbrannte ich meine Uniform: Kaisers stinkenden Rock. Nichts zu fressen. Ich schlief erst mal mehrere Tage besinnungslos und erwachte fiebernd mit wolfsheulendem Husten. Als »Unerlaubt entfent vom Truppenteil« verweigerte man mir Lebensmittelkarten. Überall huschten Gerippe, die mit Karten am Verhungern waren. Ich ging auf Nahrungssuche und fand mit zwei silbernen Leuchtern eine Kartoffel. Mir fielen die legendären Hochzeitsweine meiner Eltern ein, die im Keller der Luitpoldstraße seit fünfundzwanzig Jahren hinter Schloß und Riegel darauf warteten, getrunken zu werden. Mit Hilfe von George Grosz schob ich an die sechzig Flaschen, in Säcken verborgen, auf einer Handkarre zu seinem Atelier. Da brieten wir meine Kartoffel, aßen dazu eine gelbe Wachskerze und probierten ein paar Pullen des edlen Nasses, wie im tiefen Frieden. Grosz pinselte ein Plakat: »Wohlgebaute junge Damen der Gesellschaft mit Filmtalenten werden zum Atelierfest bei Maler Grosz gebeten, acht Uhr abends, Abendtoilette! Olivaerplatz 4.« Mit diesem an einen Besenstiel genagelten Plakat promenierten wir als Sandwichmänner den Kurfürstendamm auf und ab. Zum Fest kamen elf Männer: Mynona, Grosz, Piscator, Huelsenbeck, Mehring, das Siebenmonatskind (der spätere Pipi-Dada), Benn, Gumpert, Yomar, Förste, Wieland und Muti Herzfelde (Monteur-Dada) und ich. Als mehr als fünfzig Damen auftauchten, mußten wir wegen
Überfüllung schließen. Der alte Mynona (schon über 40!) hatte angedeutet, daß in seiner Hosentasche ein halbes Pfund Cacao verborgen sei, und aller Damen Hände waren in seinen Hosentaschen. Ich beneidete diesen Roué! Um das Fest in Schwung zu bringen, schlugen wir vor, man solle sich entkleiden. Wir Männer zogen uns in die Küche zurück und beschlossen, unentkleidet zu bleiben. Als wir ins Studio zurückkamen, war die Damenwelt nackend und die Orgie begann. Alles besoff sich, die leeren Flaschen flogen durchs Glas
des Atelierfensters auf die Straße. Scherben, Schreie, Krach. Während alle jubelnd Takt schlugen, holte sich Grosz auf einer Chaiselongue in der Mitte des Studios bei Mascha Beethoven n Trippa. Mynona hat diesen historischen Abend in einem Roman, dessen Titel mir entfallen ist, verewigt. Zwei Tage danach erwachte ich erfroren in Groszens Badewanne, meinen blauen Anzug hatte man mir gestohlen.“

Zitiert aus: Erwin Blumenfeld: Einbildungsroman; Frankfurt/Main: Eichborn Verlag 1998, Die Andere Bibliothek, Bd.162, S. 248 f. 

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2013 Einst und Jetzt Fotos

Orte einst und jetzt (2): Café Herrenhof in Wien

Wien-Café-Herrenhof-(1914), Damensalon
Wien-Café-Herrenhof-(1914), Damensalon

Das Café Herrenhof in Wien war einer der wichtigsten Treffpunkte der literarischen Szene in den Jahren, in denen Walter Mehring in Wien lebte. Zwischen 1934 und 1938 verbrachte er die meiste Zeit in der österreichischen Hauptstadt. Auch sein letzter Aufenthalt in einem Wiener Caféhaus war im Herrenhof.

Blick durch die Lobby in die Café-Bar im Hotel Herrenhof.
Blick durch die Lobby in die Café-Bar im Hotel Herrenhof.

Mehr Orte einst und jetzt:
Königliches Wilhelms-Gymnasium – Sony-Center
Derfflingerstraße in Berlin Tiergarten

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2013 Biografisches

Die Abendschau vom rbb stellt Walter Mehring vor

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1925 2013 Zeichnungen

France 2 stellt George Grosz‘ Porträt Walter Mehrings vor

Der französische Fernsehsender France 2 widmet sich in einer Serie kurzer Filme der Kunst. Jedesmal wird in eineinhalb bis zwei Minuten ein Bild vorgestellt – und eine Geschichte zum Bild erzählt, die darüber hinaus geht. In dieser Ausgabe wird das Porträt Walter Mehrings von George Grosz aus dem Jahr 1925 vorgestellt.

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1934 1935 1936 1937 1938 Biografisches

Walter Mehrings Bibliothek im Wiener Hotel Fürstenhof

Hotel Fürstenhof in Wien
Hotel Fürstenhof in Wien

Vom Westbahnhof sind es nur einige Meter bis zum Hotel Fürstenhof. Es liegt am Neubaugürtel 4. Als Walter Mehring im September 1934 aus Paris kommend mit dem Zug in die österreichische Hauptstadt einfuhr, hat er als erste Unterkunft eine naheliegende Adresse gewählt. Aber offenbar hat es ihm in dem von Inhaber Julo Formanek in einem schönen Jugendstilhaus geführtem Hotel so gut gefallen, dass er dort blieb. Und das für immerhin dreineinhalb Jahre.

Vielleicht waren es anfangs auch ganz praktische Überlegungen, die ihn in den Fürstenhof führten. Dank der Nähe zum Bahnhof war der Weg für den Transport seiner Bibliothek nicht weit. Denn nach Wien wurde ihm die Bibliothek seines Vaters, die „Verlorene Bibliothek“, aus Berlin nachgeschickt – „ins Exil gerettet dank der Komplizität der Berliner Tschechoslowakischen Gesandtschaft, dank der Kollegialität ihres Attachés, des Lvrikers Camill Hoffmann (aus der Prager Dichterrunde der Werfel, Mevrink, Kafka, Capek, die alle etwas kabbalistisch angehaucht waren), – ihn aber hat man später in einem Brandofen vernichtet.“ (Walter Mehring: Die verlorene Bibliothek, Düsseldorf: Claassen Verlag, S. 17)

Nachdem Mehring in der Nacht des Reichstagsbrandes von Berlin nach Paris floh, war die Ankunft in Wien mehr als eineinhalb Jahre später wieder eine Rückkehr in den deutschen Sprachraum. Das Hotel Fürstenhof war auch deshalb mehr als ein Aufenthaltsort: „Gewohnt habe ich zum letzten Male wohl in Wien, bevor es stürzte. Denn dort hatte ich noch alle Bücher um mich, aus meines Vaters Bibliothek, und konnte mich zu Hause fühlen.“ (ebda.) Einen gewissen Anteil hat wohl auch der Fürstenhof daran gehabt. Das Leben im Hotel war für Mehring nichts ungewöhnliches, den größten Teil seines Lebens hat er so gelebt. Im Fürstenhof hat er nicht nur in einem Zimmer gehaust. Er hatte quasi Familienanschluss, denn es war damals üblicher, in Hotels zu leben. Pensionen und Hotels, in denen die Gäste richtig lebten, beschreibt zum Beispiel auch Joseph Roth in seinem Roman „Kapuzinergruft“.

Das Einwohnermeldeamt der Stadt Wien (Auskunft vom 23. Januar 2013) vermerkt fünf Meldeperioden Walter Mehrings im Fürstenhof. Vom 26. September 1934 bis zum 3. Januar 1935 währte der erste Aufenthalt. Vom 21. Februar bis zum 26. Mai 1936 war er wieder im Fürstenhof gemeldet. Ab dem 26. August desselben Jahres folgte bis zum 13. August 1937 , die nur vom 14. Januar bis zum 15. Februar 1937 unterbrochen wurde, die dritte Periode. Ein viertel Jahr später war er in Wien zurück. Vom 19.November 1937 bis zur Flucht aus dem nun nationalsozialistischen Wien am 11. März 1938 folgte der letzte Aufenthalt in dem Hotel gegenüber vom Westbahnhof. Die Zwischenzeiträume hat Walter Mehring in Paris verbracht. Das zumindest hat er bei den Wiener Meldebehörden angegeben.

Wien aber blieb der Ort, indem er Hertha Pauli kennen- und lieben lernte. Und die Stadt, in der Walter Mehring in der Bibliothek seines Vaters lebte. Drei der vier Wände seines Zimmers im Hotel Fürstenhof waren nach eigener Darstellung voller Bücherregale. Die Bücher gaben ihm Zuflucht. Und die Erinnerung an das Auspacken uns Lesen der Bücher in Wien ist der Ausgangspunkt für seinen autobiografischen Band „Die verlorene Bibliothek – Autobiografie einer Kultur“: „Ausgeleert, Kiste um Kiste – Pandorabüchse des NachDenkers Epimetheus (mit einem trüben Bodensatz Hoffnung) – spukte ihr Inhalt auf den abgeschrubbten Dielen, dem ungemachten Hotelbett, dem rußigen Fensterbrett in der Lesegruft meines Wiener Voruntersuchungsexils.“ (ebda, S. 189)

Und der Moment der Wiederbegegnung mit diesen Büchern bleibt ihm so in Erinnerung: „Den ganzen ersten Tag über, vom Morgengrauen an, seit ein paar verdrossene Transportarbeiter Kiste auf Kiste abgeladen hatten, die sie wahrscheinlich in ihrer Wiener notleidenden Einbildung mit materiellen Genuß- und Luxusartikeln angefüllt glaubten, las ich mich sinnlos voll . . . Man kann dem Lesen so gesundheitsschädlich verfallen wie jedem anderen Rauschmittel, besonders als Europäer, der ja durch lange erbliche Belastung im gleichen Prozentsatz alkohol- wie büchersüchtig ist. Man greift zum Buche wie zum Glase, um sich über die deprimierende Nüchternheit der Zeitungssensationen – hinwegzutrinken, um den widerlichen Nachgeschmack der Medizinen, die man uns in den Spitälern der Zwangs-Heil- versuche eingibt, herunter zu spülen. Und nichts hilft so wie ein süffiges Getränk -, wie Genuß von abgelagertem Pathos, vorzüglich in Versen konzentriert, um sich gleich edler und erhabener zu fühlen. Doch hält man sich nicht lange an die guten, erlesenen Jahrgänge. Und beim Lesen wie beim Trinken steigert man allzu rasch den Spiritusgehalt, man  sucht nach Selbstbekräftigung und zugleich nach genereller Absolution. Abnorme Gelüste, deren man sich wie eines versteckten Geburtsfehlers, wie einer krankhaften Veranlagung geschämt hatte, findet man bei erhabensten Genies im Schaffensrausche ausgeplaudert.“ (ebda. 24)

 

 

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2012 Kabarett Lieder Lyrik

Servio Tulio singt Dressur von Walter Mehring

Servio Tulio singt „Dressur“; Text von Walter Mehring, Musik von Friedrich Hollaender.

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1929 Dramatisches Zeitschriften

Mitglieder der Volksbühne debattieren über den „Kaufmann von Berlin“

Szene aus Mehrings "Kaufmann von Berlin"
Szene aus Mehrings "Kaufmann von Berlin"

Erwin Piscators Inszenierung von „Der Kaufmann von Berlin“ war nicht nur in rechten Kreisen umstritten. Wobei bei ihnen „umstritten“ zu wenig ist. Immerhin war Saalschutz notwendig, um zu verhindern, dass die SA die Aufführungen sprengte. Doch auch in linken Kreisen war die Begeisterung  über das Stück Walter Mehrings verhalten.

In den „Blättern der Volksbühne Berlin“ findet sich in dem Text „Die Mitgliederversammlungen der Volksbühne e.V.“, Heft 1, Jahrgang 1929/1930, S. 11, folgende Passage, die das verdeutlicht: „In der Diskussion stieß eine Minderheit, repräsentiert durch Wortführer der Gewerkschaftsjugend und der Sozialistischen Arbeiter-Jugend, stark mit der großen Mehrheit zusammen, die offenbar weiter links orientiert war. Im Mittelpunkt der Diskussion stand weniger die Volksbühne als die Piscator-Bühne. Ihr Eröffnungsstück (das war Mehrings „DerKaufmann von Berlin“; A.O.) für die neue Spielzeit wurde von verschiedenen Rednern als wenig glücklicher Griff bezeichnet. Aus der Kritik des Spielplans Piscators ergab sich eine längere Debatte über die Frage, ob es überhaupt genügend brauchbare und künstlerisch reife Stücke für das absolute Zeittheater gäbe.“

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1938 1962 1990 Biografisches Brief Zeitschriften

Hans Sahl erinnert sich an den Antikommunisten Walter Mehring

1990, einen Monat nach der Wiedervereinigung, hat Hans Sahl (20. Mai 1902 – 27. April 1993) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen langen Text über die Lage der Intellektuellen in Deutschland geschrieben. Darin erinnert er an die Spaltung der Exilschriftsteller durch die Kommunistische Partei. In ihm zitiert er auch einen Brief Walter Mehrings an ihn aus dem Jahr 1962. Hans Sahl machte sich im Berlin der späten 1920er und frühen 1930er Jahre einen Namen als Kritiker. Im Exil gründete er auch mit Walter Mehring aus Protest gegen die Ausgrenzung Leopold Schwarzschilds den Bund Freie Presse und Literatur.

„Zu fragen wäre jedoch: Wer befragt die Befrager? Hatte man nicht, nach 1945, in der Bundesrepublik alle Hände voll zu tun, sich mit Hitler auseinanderzusetzen, und mußte deshalb die Auseinandersetzung mit Stalin bis auf weiteres verschieben? Man knüpfte also dort wieder an, wo man 1933 aufgehört hatte, ohne sonderlich davon Kenntnis zu nehmen, daß es inzwischen Autoren wie Ignacio Silone, George Orwell, Czeslaw Milosz, Arthur Koestler und andere gegeben hatte, die sich darum bemühten, eine Literatur der Auseinandersetzung mit dem Stalinismus zu entwickeln.

ln diesem Zusammenhang sollte auch die 1938 erfolgte Revolte gegen den von Moskau manipulierten Schutzverband deutscher Schriftsteller im Exil in Paris erwähnt werden, die dazu führte, daß namhafte Autoren, unter ihnen Alfred Döblin, Bruno Frank, Leonhard Frank, Konrad Heiden, Hermann Kesten, Klaus Mann, Walter Mehring, Ernst Erich Noth, Karl Otten, Joseph Roth, Hans Sahl, Leopold Schwarzschild, sich zu einem ››Bund freie Presse und Literatur« (Verband unabhängiger deutscher Schriftsteller und Journalisten im Exil) zusammenschlossen, der mit folgendem Gründungsaufruf an die Öffentlichkeit trat:

Deutsche Schriftsteller und journalisten im Exil, in deren Vollmacht die Unterzeichneten sprechen, haben sich zu einem Bunde zusammengeschlossen.

Sie halten geistige Freiheit, moralische Sauberkeit und Verantwortungsgefiihl fiir die Grundlage jeder öffentlichen geistigen Wirksamkeit.

Sie haben um dieser Überzeugung willen die Verbannung auf sich genommen. Sie wollen diese Überzeugung auch in der Verbannung nicht antasten lassen.

Sie wollen alle sammeln, die sich aufrichtig zu den gleichen Grundsätzen bekennen. Sie glauben, daß die Sache der deutschen Freiheit nur in dieser geistigen Haltung vor der Welt vertreten werden kann. Sie sind überzeugt, daß der Kampf gegen die Unterdrückung der Freiheit in Deutschland nur mit diesen Grundsätzen zu gewinnen ist.

Sie fordern alle Schriftsteller und Journalisten, die gleicher Gesinnung sind, auf, sich ihnen anzuschließen.

Es scheint wichtig, diesen Aufruf noch einmal in Erinnerung zu bringen, weil er zeigt, daß es bereits vor fünfzig jahren Schriftsteller deutscher Sprache im Exil gab, die darauf verzichteten, sich jenen anzuschließen, die, wie Anna Seghers, Bert Brecht, Bodo Uhse und
andere, nach 1945 in die DDR gerufen wurden, um dort als Kämpfer gegen den Faschismus gefeiert und mit den entsprechenden Preisen und Privilegien ausgestattet zu werden.

In der Bundesrepublik jedoch schien wenig Interesse für jene verlorenen Einzelgänger vorhanden zu sein, die bereits damals sozusagen die Perestrojka und Glasnost vorweggenommen hatten. So kam es, daß beispielsweise Alfred Döblins Roman »November 1918«, über dessen Schicksal in dieser Zeitung vor kurzem berichtet wurde, kaum ein Echo fand, daß ein so hervorragender Schriftsteller wie Leopold Schwarzschild, Herausgeber des Tage-Buchs, das er in das Pariser Exil herüberrettete und mit dem er das Weltgewissen gegen Hitler wachhielt, sowie Autor eines kritischen Buches über Karl Marx, „Der rote Preuße“, bis heute kaum die verdiente Würdigung fand.

Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen und würde auch den Dichter Walter Mehring einbeziehen, diesen unvergefšlichen Bänkelsänger einer sterbenden Republik, der selbst beinahe anonym in einem Züricher Altersheim starb. Seine Werkausgabe ließe sich durch einen Korrespondenzband ergänzen, der unter anderem auch folgenden Brief von Mehring an mich enthalten müßte (datiert Venedig, 12. September 1961):

Dear Hans, but: ich schrieb Dir einen Dankebrief für die Monat-Kritik (die ich mir schließlich aus Zürich beschaffte) … Das erste Mal – Deine Adressenangabe war fast unleserlich – durch Regen (oder Tränen?) verwischt – kam er zurück; das zweite Mal nicht…

Es ist selbstverständlich, daß ich Dir stets antworte, antworten werde – zumal Du mich (und noch dazu lobend) in einer deutschen Zeitschrift erwähnt hast …

Das ist für mich Rarität!

Denn da ich nicht zu den West-Ost-Kulturaustäuschern gehöre – ja Einladungen dieser Cliquen (PEN etc.) protestierend zurückgewiesen hatte, hin ich im »Bierverschiß« der westdeutschen Journaille und Literatur, die so heroisch, so furchtlos die Zensur der Meinungsfreiheit, den Terror, die Radioaktivität der Bundesrepublik angreift. (Die
 Atomzerfallprodukte des USSR-Proletariats und der B. B.recht Lehrstücke sind bekanntlich wunderheilsam.)

– What are you doing?

– I give up!

Mit aufrichtigem Bedauern, nach Venedig desertiert, zu Tintoretto und Carpaccio, Dich versäumt zu haben – und mit – denn das gibt es noch! – kollegialen Grüßen, Dein Walter (Walt Merin)

Zitiert aus Hans Sahl: Profiteure der Zweideutigkeit oder Jeder ist Mitwisser – Zur Situation der Intellektuellen in unserer Zeit; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. November 1990; auch in: Hans Sahl: „Und doch…“ – Essays und Kritiken aus zwei Kontinenten; Frankfurt am Main: Sammlung Luchterhand 1991, S. 30 ff.

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1935 1985 Biografisches Prosa Wissenschaft

Murray G. Hall erläutert Walter Mehrings Arbeit für den Gsur-Verlag

1985 hat der Literaturwissenschaftler Murray G. Hall seine „Österreichische Verlagsgeschichte 1918 – 1938“ veröffentlicht. In ihr rekonstruiert er die Geschichte des Gsur Verlages, in dem 1935 Walter Mehrings zweiter Roman „Müller – Chronik einer deutschen Sippe“ erschien. Darin analysiert er auch, inwiefern das Deutsche Reich auf Österreich wegen des Romans Druck ausübte: 

Nach der Wiederaufnahme seiner Verlagstätigkeit 1935 kündigte Ernst Karl Winter im September[17] eine Reihe von Neuerscheinungen an und leitete hiemit eine neue Phase ein mit Büchern, die von anderen Verlagen großteils kaum angenommen worden wären. Einige Wochen später legte Winter die Verlagslinie klar fest:

Im Sinne der bisherigen Orientierung unserer literarischen Produktion werden wir literarische, politische und wissenschaftliche Publikationen aus drei verschiedenen Gebieten veröffentlichen. Die Reihe A unserer Publikationen wird die soziale Linie fortsetzen, die das Buch „Arbeiterschaft und Staat“ und die Zeitschriften der „Österreichischen Arbeiter-Aktion“ begonnen haben. Die Reihe B unserer Publikationen wird die österreichische Linie fortsetzen, die in der Reihe „Österreichische Religion und Kultur“ in bisher vier Publikationen, sowie in dem Werk über Rudolph IV. vorliegt. Die Reihe C unserer Publikationen wird die antinationalsozialistische Linie fortsetzen, die in den Schriften von Thomas Murner grundgelegt wurde. Viele unserer Leser werden sich für alle drei Reihen interessieren, viele nur für diese oder jene Reihe. Wir bitten sie alle, uns dieses Interesse bald bekanntzugeben, weil wir nur auf dieser Grundlage vorausblickend arbeiten können. [18]

Es folgten nun nach einer Aufstellung des seinerzeitigen Verlagslektors Heinz innerhalb von 15 Monaten – also bis Ende Oktober 1936 – acht Verlagswerke, darunter Romane, Lyrik und Bühnenstücke, die alle konsequent und kompromißlos in der bisher verfolgten Anti-NS-Linie lagen. [19] Es handelt sich um folgende Werke:

Walter Mehring, Müller. Chronik einer deutschen Sippe. Roman. (1935) Hermynia Zur Mühlen, Unsere Töchter die Nazinen. (1935)

Andreas Hemberger, Barabbas. Erzählung aus der Zeit Christi. (1936) Peter Drucker, Die Judenfrage in Deutschland. (1936)

Walter Berger, Was ist Rasse? Versuch einer Abgrenzung ihrer Wirksamkeit im seelischen Bereich. Mit Berücksichtigung des jüdischen Rassenproblems. Hrsg. von der Philipp-Spitta-Gedächtnis-Gesellschaft. (1936)

Albert Ganzert (Pseudonym), Die Grenze. Ein Schicksal aus 600.000. (Bühnenstück, 1936)

Theodor Kramer, Mit der Ziehharmonika. (1936)

Ernst Karl Winter, Rudolph IV. Zweiter Band. (1936)

Zum Zeitpunkt der erzwungenen Einstellung der Verlagstätigkeit im Herbst 1936 soll der komplette Umbruch zweier Romane vorgelegen haben, und zwar:

Ernst Gläser, Der letzte Zivilist. [20]

Walter Zwehl, Magd am Hakenkreuz.

Ernst Karl Winters Feststellung im Oktober 1935, der Verlag würde auch eine „anti-nationalsozialistische Linie“ verfolgen, lag einem heimlichen Beobachter besonders schwer im Magen, dem Deutschen Gesandten in Wien, Franz von Papen. Und erinnert man sich an den „Geist“ des Juli-Abkommens, das wenige Monate danach unterzeichnet wurde, also an die „Normalisierung“ der freundschaftlichen Beziehungen mußte so etwas „anachronistisch“ anmuten. So galt der Unmut von Papens den ersten zwei Buchveröffentlichungen im Herbst 1935, also Walter Mehrings Satire Müller und Hermynia Zur Mühlens Roman Unsere Töchter die Nazinen. Und gerade über das Schicksal dieser beiden Bücher herrschen noch irrige Auffassungen vor, dahingehend, daß beide, und zwar auf Veranlassung von Papens, von der österreichischen Behörde mit einem Verbot belegt worden wären. Dem ist nicht so, wie eine Untersuchung über Walter Mehrings Aufenthalt in Österreich 1934-38 aufgezeigt hat. [21] Hier kurz zum Hintergrund dieser beiden Fälle: In einer Verbalnote (A 3054) der Deutschen Gesandtschaft in Wien vom 14. Dezember 1935 legte von Papen beim Bundeskanzleramt – Auswärtige Angelegenheiten – Protest ein. Der Text der Verbalnote verrät ziemlich genaue Kenntnisse des Gsur-Verlags und von dessen Inhaber. Über den satirischen Roman des aus Deutschland ausgebürgerten, nun staatenlosen Walter Mehring verliert von Papen folgende Worte:

(…) In seiner antinationalsozialistischen Tendenz und in der offenbaren, besonderen Absicht, die Bedeutung von Blut und Boden im Völkerleben lächerlich zu machen, hat der Verfasser mit seinem Roman „Müller, Chronik einer deutschen Sippe“ ein Machwerk geliefert, das das Deutschtum mit dem zu großen Teil als geradezu pornographisch zu bezeichnenden Inhalt in empörendster Weise herabwürdigt und verletzt. [22]

Darauf folgte die sanfte, in diplomatischer Watte verpackte Aufforderung, das Buch ehestens beschlagnahmen zu lassen:

Die Deutsche Gesandtschaft würde mit besonderem Dank anerkennen, wenn das Bundeskanzleramt – Auswärtige Angelegenheiten – das genannte Buch prüfen und die sich darauf für die Wahrung der Sittlichkeit und das damit verbundene gesamtdeutsche Interesse ergebenden Folgerungen ziehen würde. (Ebda.)

Der Aufforderung kam man österreichischerseits nicht nach. Dies im Gegensatz zu mehreren Behauptungen nach dem Zweiten Weltkrieg, u.a. beim Hochverratsprozeß gegen den Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten, Guido Schmidt, im Jahre 1947. So schrieb der ehemalige Verlagslektor Karl Hans Heinz in sehr temperamentvoller Weise im März 1946 wohl in Reaktion auf die tägliche Zunahme von denjenigen, die in den 30er Jahren als „Widerstandskämpfer“ gegen den Nationalsozialismus tätig gewesen sein wollten:

Und was taten jene Österreicher, die heute behaupten, sie hätten in jenen Jahren allein die Last des Kampfes gegen die Nazi getragen? Haben sie für eine möglichst große Verbreitung der oben angeführten Bücher gesorgt? Haben sieden Verlag unterstützt und gefördert?

Es geschah etwas, das ganz unglaublich klingt und das man heute gern nicht wahrhaben möchte:

Die Auflagen der Werke von Hermynia Zur Mühlen und von Walter Mehring, also fein-geschliffene Waffen für den Kampf gegen Hitler, wurden von der Wiener Polizei beschlagnahmt und gegen die Verlagsleitung die Untersuchung wegen Hochverrates eingeleitet. [23]

Anders verhielt es sich im Fall des zweiten genannten Werkes. Am Tage nach der ersten Verbalnote der Deutschen Gesandtschaft in Wien traf eine zweite solche diplomatische Note beim Bundeskanzleramt – Auswärtige Angelegenheiten – ein. Diesmal ging es um ein neulich erschienenes Buch, „das außer dem die nationalsozialistische Bewegung im Reich verleumdenden und verunglimpfenden Gesamtinhalt in zahlreichen Stellen schwere persönliche Beleidigungen des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler, von Mitgliedern der Reichsregierung und auch herabsetzende Bemerkungen über den deutschen Gesandten von Papen enthält.“ [24] Gegenstand des Protests war „das als Roman bezeichnete Buch“ Unsere Töchter, die Nazinen von Hermynia Zur Mühlen (1883-1951). Ein Beamter der Deutschen Gesandtschaft konnte auch eine Reihe „unmittelbarer Beleidigungen“ samt Seitenzahl und Textstelle als Beweis anführen. Da heißt es weiter:

Indem die Deutsche Gesandtschaft mit dem allgemeinen Einspruch gegen den Inhalt des in Frage stehenden Buches im besonderen gegen diese schweren Beleidigungen des Staatsoberhauptes des Deutschen Reiches sowie der Mitglieder der Reichsregierung schärfste Verwahrung einlegt, richtet sie an das Bundeskanzleramt – Auswärtige Angelegenheiten – das dringende Ersuchen, gegen die Verfasserin des Romans, falls sie sich in Österreich befindet, und gegen die für die Herausgabe des Buches verantwortliche Person entsprechende Strafmaßnahmen sowie die Beschlagnahme bzw. ein Vertriebsverbot für den Roman „Unsere Töchter, die Nazinen“ veranlassen zu wollen.

Wien, den 15. Dezember 1935.

Die provokant feindselige Einstellung des Werkes gegen den Nationalsozialismus und gegen das Gesetz betreffend die Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter hätte – im Interesse gutnachbarlicher Beziehungen – zwar Anlaß geboten, gegen den Roman vorzugehen, aber die Abteilung 13 im Bundeskanzleramt war nicht geneigt – und schon gar nicht auf Geheiß es ungeliebten Franz von Papen – den in diplomatischem Drohton gehaltenen Wünschen zu entsprechen. Nur: man fand einen kuriosen Ausweg, da man nun auf dieses Werk aufmerksam gemacht worden war. Denn nach näherem Studium des Romans wurde festgestellt, der Roman zeige „eine ausgesprochen marxistische, ja kommunistische Tendenz (S. 112, 127, usw.), vermischt mit Bemerkungen, die eine frei-denkende, religionsfeindliche Einstellung bekunden. (…) Es scheint fast, daß neben oder unter der Maske der Feindschaft gegen den Nationalsozialismus eine deutliche sozialrevolutionäre Propaganda getrieben werden soll!“ (ebda.) Das war natürlich etwas anderes. Abteilung 13 des BKA trat daher energisch dafür ein, das Buch sofort zu beschlagnahmen und aus dem Verkehr zu ziehen. Besonderer Grund neben den unterstellten Beleidigungen war die „darin fast unverhüllt aufscheinende marxistisch-kommunistische Propaganda“ (ebda.). Das Verbot wurde offiziell in der Liste 2 vom 13. Februar 1936 kundgemacht[25]; es erfolgte, weil das Werk eine unerlaubte Förderung der Kommunistischen Partei darstellte und nicht – was deutschen Wünschen mehr entsprochen hätte – wegen der strafbaren Beleidigungen ausländischer Staatsoberhäupter.

Unter den eigentümlichen Aspekten der NS-Literaturpolitik nach dem März 1938, in diesem Fall der Selbstrechtfertigung, scheint die Abrechnung mit Papp-Kameraden beliebt gewesen zu sein. Anders ist die wütende Reaktion der Essener Nationalzeitung, nicht zu verstehen, die nach langjährigem Verbot widerwillig zur Verbreitung in Österreich zugelassen wurde, um nicht den Völkischen Beobachter zulassen zu müssen, und die sich am 22. April 1938 dem Gsur-Verlag widmete:

Mit der Vereinigung und Schaffung Großdeutschlands ist diesem Spuk zwar für alle Zukunft ein Ende bereitet worden, aber die Erinnerungen an die eine schlimmste und schmählichste Zeit im österreichischen und speziell Wiener Verlagsleben möge trotzdem bleiben. [26]