„Wie es zu den geteilten Meinungen über das Eröffnungsprogramm unseres literarischen Kabaretts kam, will ich jetzt noch zu erklären versuchen. Nach meinem Wiener Gastspiel im Kabarett von Direktor Farkas fuhr ich nach Paris. Dort traf ich Dichters- und Malersleute, die mir das »richtige Paris« zeigten, das Paris der Midinetten, Chansonetten und Clochards und den Montmartre mit seinem berühmten Quartier Latin. Mein Freund, der Maler Kohlhoff, der Paris so gut einfing, kannte sich hier, an der »Wiege des Cabarets«, aus, und so zogen wir von einem Keller zum anderen. Es war vor allem das »Lapin agile«, das mich immer wieder anzog. Alle, die dort auftraten, richteten eine Front auf gegen das Spießertum.
Schlagwort: Die kleine Stadt
Die Gedichte, Lieder und Chansons des Walter Mehring
Wir nehmen jeden der spärlich gebenen Bände Lyrik zögernd und zitternd zur Hand; zögernd, weil wir der Gegenwart nicht zutrauen, daß sie Lyrik zu gestalten erlaube; zitternd, weil wir, nach allzuvielen Enttäuschungen, auf den Klang der Poesie, auf strömenden Melos, auf reiche und reine Gestaltung warten. Uns interessiert nicht „Zeitlyrik“, wenn sie nichts ist, als der krampfhafte Versuch, mit aktuellen Requisiten die überlebten Formen und die vergangene Mentalität und Sentimentalität aufzufrischen. Das Kriterium der „Zeit-Nähe“, allzu sehr mißbraucht für die Beurteilung dramatischer und epischer Dichtung, besagt nichts für den Wert lyrischer Poesie. Etwas anderes aber – wir verwechseln es gern ¬ ist geeignet, schöpferische Dichtung zu indizieren: nicht Organ haben für die Zufälligkeiten aktueller Erscheinungen, sondern: einen Standpunkt haben . .. der Zeit, der Welt, dem eigenen Ich gegenüber. Der lyrische Dichter ist der isolierteste, der einsamste Mensch. Er reproduziert nicht die Objektwelt und legitimiert sich nicht durch adäquates Dokumentieren. Er saugt alles, Gefühle und Dinge, nach innen und faßt tausend Wirklichkeiten der Seele und der Sinne in einen Vers …
Dieses filtrierende, Verdichtende Gestalten kann sehr Wohl die aktuellste Gegenwart einbeziehen – ohne daß deshalb der Gestalter verdächtigt werden dürfe, „zeitnah“ zu sein. Das lehrte das Werk Gottfried Benns. Das beweist erneut die Poesie des Walter Mehring. Denn, was er unter dem Warenzeichen „Chansons“ ediert, ist echte reine Lyrik. –
Dieses ,,Einen-Standpunkt-haben“ definiert am klarsten seine Poesie, wenn sie von Gegenständen des Tages ausgeht, das Zeitgeschehen, das Geschichtliche, das Politische erfassend. Mehring scheut sich nicht, in den „Streitliedern“ die unmittelbarste Wirklichkeit anzupacken – aber er prägt sie um, mißt sie an seinen Maßen, entlarvt sie, indem er das bessere, edlere Gesicht, das wahre Menschenantlitz aufweist. Im „Börsenlied“, in „Hoppla, wir leben“ faßt er das anarchisch Grauenhafte des Stoflfs in die gebändigte Melodie seiner bezwingenden Strophe – und schon ist das Gegenständliche geadelt, zur Dichtung erhöht.
Der wahre Gehalt seiner Poesie offenbart sich aber, wenn er über die Wirklichkeitsgrenzen hinaustritt, gleichsam ins All, Wenn er seine persönliche Weltsicht auszudeuten wagt. Dann schwingen die Melancholien dieser zartesten, ernpfindsamsten Seele sich aus; dann wird seine tiefmenschliche Vereinsamung – Welche die Einsamkeit jedes Dichters ist ~ der Seelengrund, auf dem allein das wahrhaft Schöpferische keimt. Wir erleben es in den „Romanzen“ ~ in dieser wundersamen Poesie der „kleinen Stadt“, die zu den schönsten Gedichten gehört, die seit Heine geschrieben wurden.
Otto Zarek
(Zarek, Otto: Die Gedichte, Lieder und Chansons des Walter Mehring; in: Die neue Rundschau, Nr. 9, 1929; S. 432)
Der „Pressefrieden“
Der im Zusammenhang mit dem 11. Juli vereinbarte Pressefrieden zwischen dein Dritten Reiche und Osterreich hat in den letzten Wochen durch das Verhalten der reichsdeutschen Presse eine schwere Schädigung erlitten. Die reichsdeutsche offizielle Presse und der reichsdeutsche Rundfunk nahmen schließlich unrichtige Nachrichten, die sich in die Wiener Mittags- und Abendpresse eingeschlichen hatten, zum Anlaß, direkte Angriffe gegen die österreichische Bundesregierung zu richten. Die Politische Korrespondenz sah sich schließlich veranlaßt, gegen diese Pressetreiberei Stellung zu nehmen.
Das Kommuniqué hebt hervor, daß die österreichische Regierung, wie der sachliche und ruhige Ton der offiziellen Presse ja beweise, die Veröffentlichung unwahrer und tendenziöser Nachrichten mißbillige. Gleichzeitig aber wird darauf hingewiesen, daß das österreichische außerordentlich tolerante Presseregime eine direkte Einflußnahme auf Redaktionen nicht zulasse, wie ja das Bestehen gewisser, dem in Österreich bekanntlich verbotenen Nationalsozialismus nahestehender Presseerzeugnisse in·Osterreich zeige. Im Schlußsatz des besagten offiziellen Kommuniqués heißt es, daß Österreich nicht geneigt sei, die ,,betont unfreundliche Haltung der reichsdeutschen Presse, auch zugelassener Blätter, widerspruchslos zur Kenntnis zu nehmen, Einschüchterungsversuchen nachzugehen und einseitige Zugeständnisse zu machen«.
Im ,,Völkischen Beobachter“ vom 17. März erschien im Zusammenhang mit diesem neuerwachten Presseunfrieden ein Artikel, in dem auch die ganze katholische Presse Österreichs mit der ,,jüdischen und Asphaltpresse“ in einen Topf geworfen wurde, um dem österreichischen Katholizismus Volksfronttendenzen zu unterschieben und das deutsche Volk neuerdings gegen Osterreich aufzuhetzen.
Mag nun diese Pressehetze im Dritten Reiche nun daher kommen, daß man fürchtet, in österreichischen Blättern könnten Nachrichten auftauchen und von da aus in die Weltpresse übergehen, deren Verbreitung aus gewissen innenpolitischen Gründen nicht sehr angenehm ist; mag dies ein Einschüchterungversuch sein oder Panik, jedenfalls ist Grund genug vorhanden, daß wir auf diesen Angriff näher eingehen.
Der ,,Völkische Beobachter“ beschäftigt sich nämlich unter anderem auch mit der Redaktion des ,,Sturm über Osterreich“. Unseres Wissens besteht die Redaktion unseres Blattes nur aus einer Person, die auch im Impressum genannt ist. Alle Artikel, die erscheinen, gehen ausschließlich durch die Hand des Verantwortlichen, so daß die Anwürfe des „Völkischen Beobachters“, die sich mit der Zusammensetzung unserer Redaktion befassen, als gänzlich unwahr zu erkennen sind. Der ,,Völkische Beobachter“ aber schreibt:
,,Ganz ähnlich wie das katholische Wochenblatt »Sturm über Österreich«, in dem der jüdisch-deutsche Emigrant Walter Mehring im trauten Tete-a-tete mit der emigrierten roten Baronin Scholley sein Gift zu verspritzen pflegt, den Ärger über die scharfe Anprangerung der des Wiener Handels im Blatte der jugoslawischen Gruppe »Zbor« mit der Verleumdunng Deutschlands abzureagieren suchte, daß dieses mit Hilfe der rollenden Mark den serbischen Chauvinismus gegen Osterreich anfeuere.“
Wir wollen einmal etwas näher an den hier angegebenen Tatbestand in unserer Redaktion eingehen. Gewiß, Herr Walter Mehring ist dem Verantwortlichen voll bekannt. Desgleichen, daß er ein jüdisch-deutscher Emigrant ist. Geschrieben hat er im »Sturm über Österreich« aber nicht. Bekanntlich ist Walter Mehring ein Literat und Chansondichter. Seine Chansons werden jedoch nicht nur in Österreich geschätzt. Einzelne seiner Gedichte, wie zum Beispiel das Lied »In Hamburg an der Elbe«, werden in einem Lokal des Berliner Westens ständig gesungen. Vom »Völkischen Beobachter« wurde es vor ungefähr zwei Jahren als ein Beweis dafür zitiert, wie populär Hamburg in Berlin ist.
Ich selber habe dieses Lied bei SA- und BDM-Gruppenaufmärschen singen hören. Ein anderes Lied ist »Die kleine Stadt«. Der deutsche Rundfunk hat es vor einem Jahre gebracht. Da man sich aber später doch erinnerte, daß der jüdisch-deutsche Emigrant Walter Mehring eben das ist, wozu ihn das Dritte Reich gemacht hat, wurde ihm kein Honorar ausbezahlt. Der »Völkische Beobachter« kann überzeugt sein, daß Walter Mehring, wenn er im »Sturm über Österreich« geschrieben hätte, auch sein Honorar bekommen hätte und darin mag sich die Praxis des »Sturm über Österreich« seinen Mitarbeitern gegenüber von der des deutschen Rundfunks wesentlich unterscheiden. Ein drittes Lied »Die Maschinen« wurde vor zwei oder drei Jahren im Sportpalast gesungen. Auch da blieb das Honorar aus.
Die Leser des »Sturm über Österreich« wissen wie reichlich in diesem Blatte der literarische Teil behandelt ist. Seit seinem Bestand wurde unseres Wissens das einzige »Kloster von Sendomir« von Grillparzer in Fortsetzungen veröffentlicht. Ich glaube auch, der »Völkische Beobachter«wird sich darüber klar sein, daß diese Novelle von Grillparzer nicht von der »emigrierten roten Baronin Scholley« erworben, sondern einfach aus Grillparzers Werken abgedruckt wurde. Die »emigrierte rote« Baronin Scholley ist uns ebenfalls bekannt. Sie hat eine rein literarische Agentur und beliefert Blätter aller Schattierungen, aber nicht nur in Wien, sondern auch im Dritten Reiche. Sie ist in Linz geboren und nach Wien zuständig, war niemals Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und wir wüßten nicht, welche Artikel oder welche Kurzgeschichte wir von ihr hätten erwerben können, da ja bekanntlich derartiges im »Sturm über Österreich« überhaupt nicht erscheint.
So sehen die Informationen des »Völkischen Beobachters« ans. Wahrscheinlich verhält es sich ebenso mit der Polemik gegen unseren Artikel »Die braune Hetze gegen Osterreichs Export in Jugoslawien«. Der »Völkische Beobachter« beschränkt sich einfach darauf, zu erklären, dass, was wir geschrieben haben, sei nicht wahr. Die Prüfung der Nachricht selbst behält man sich aber in der Redaktion des. »Völkischen Beobachters« offenbar vor und begnügt sich vorläufig mit einer Behauptung.
Jedenfalls hat die deutsche Diplomatische Korrespondenz auf das Kommuniqué der Politischen Korrespondenz den Rückzug angetreten. Sie beklagt sich darüber, dass eine Reihe von innerdeutschen Fragen ständig in polemischer Form und offenbar ,,ohne jede Sorge um die Rückwirkungen“ ausgegriffen werden. Scheinbar meint man im Dritten Reiche mit diesen ,,innerdeutschen Fragen“ die Frage des Katholizismus und da sind wir wohl der Meinung, daß der deutsche Katholizismus nicht nur eine innerdeutsche Frage ist, sondern schließlich und endlich jeden Katholiken interessiert, ob er nun ein Deutscher oder ein Nichtdeutscher ist. Daß aber der Kampf gegen die katholische Kirche zur Grundlage der gesamten deutschen Kulturpolitik geworden ist, ja, daß sich die deutsche Kulturpolitik eigentlich in diesem Kampfe gegen den Katholizismus völlig erschöpft, darüber zu schreiben scheint uns überflüssig.
Das Kommuniqué der Diplomatischen Korrespondenz erklärt weiter, »daß die Sprache der Wiener und der Prager Blätter kaum noch einen Unterschied aufweist«. Es versucht also die Giftmischerei weiterzutreiben und, da es mit der Beschuldigung von Volksfronttendenzen nicht ging, nun eine Verbindung Prag—Wien herzustellen und daraus den Schluß zu ziehen, daß gewisse Kräfte in Osterreich am Werke seien, unsere außenpolitische Linie, wie sie der 11. Juli darstellt, abzubiegen.
Wir sind immer auf dem Standpunkt gestanden, daß der 11. Juli eine rein außenpolitische Angelegenheit sei, ein Abkommen, das den europäischen Frieden und nicht, wie so manche nazistische Auslassungen es gern haben möchten, den Krieg Osterreichs an Seite Deutschlands zum Zwecke hat.
Selbstverständlich schließen wir uns den Vertragstexten an, die besagen, daß die Achse Berlin—Rom gegen niemand gerichtet ist und daß auf der anderen Seite der Beitritt zu den Römischen Protokollen jedermann offensteht. Dies scheint man in Berlin zu vergessen. In Österreich aber kann es nur eine Meinung geben, nämlich die, daß jede Verbreiterung des bestehenden politischen Systems in Mitteleuropa, die dem Frieden dient, zu begrüßen ist. Damit ändert auch reichsdeutsche Zeitungspolemik nichts und nichts der Wunsch der Deutschen Diplomatischen Korrespondenz, die Leserschaft eines großen Teiles der österreichischen Presse für den beginnenden Kulturkampf im Dritten Reiche günstig zu stimmen.
Ing. Franz Bosch
(Bosch, Franz: Der Pressefrieden; in: Sturm über Österreich Folge 12/5. Jg. vom 28. März 1937, S. 2.)
Die Zeitschrift „Sturm über Österreich war eine Wochenzeitung, die in Wien von Franz Bosch herausgegeben wurde. Sie war das Organ der „Ostmärkischen Sturmscharen„. Deren Ziel war es, die jungen Männer Österreichs im Katholizismus und in einem österreichischen Patriotismus zu erziehen. Ursprünglich waren sie auch bewaffnet, legten diese aber aus freien Stücken nieder, um als reiner Kulturbund weiterzuexistieren. Vom Nationalsozialismus war der katholische Verband nicht infiziert. Im Juli 1936 schlossen das Deutsche Reich und Österreich das sogenannte Juli-Abkommen, in dem sich beide Seiten verpflichteten keinerlei Propaganda im jeweils anderen Land zu betreiben. Kurz vor den Olympischen Spielen war dies für Berlin sinnvoll. Auch, weil die inhaftierten Nationalsozialisten in Österreich amnestiert wurden. (A.O.).
Dagmar Manzel singt „Die kleine Stadt“
Bei den Jüdischen Kulturtagen in Berlin hat Dagmar Manzel beim Eröffnungskonzert am 8. September 2011 Lieder von Werner Richard Heymann gesungen. Eines davon war „Die kleine Stadt“, dessen Text von Walter Mehring stammt.
Neuere deutsche Kabarettdichtung
Lange fehlten in Deutschland jene Dichter des packenden, urwüchsigen, aktuellen Schlagers, die in Frankreich die Entwicklung des Kabaretts zu einem eignen vollwertigen Kunstzweige früh gefördert hatten, gab es gar keine Schriftsteller, die spezifisch dahin begabt waren, ein Ereignis sofort rücksichtslos zu entblößen und unterm amüsanten Pfeilregen des Witzes zu begraben. Gab es keine Künstler, denen jene leichte Musikalität im Blute liegt, die im einprägsamen Rhythmus und mit dem volkstümlichen Gedächtnisanhalt des Refrains gleichsam spontan Empfindung und Meinung sich äußern läßt. Gab es auch keine abseitigen, untergründigen Urwuchspoeten, Bänkelsangdichter voll Dämonie und satzungsferner Doppelbödigkeit.
Die Textlieferanten der ersten deutschen Überbrettlära waren lyrische Limonadenfabrikanten (Ernst von Wolzogen, Bierbaum), platte Bonmotdrechsler und Bonhomiesatiriker (Pserhofer, Rideamus). Und die Dichter, die damals zufällig im Rahmen dieser Kabaretts auftraten, schrieben nicht fürs Kabarett und schrieben nicht so, daß ihre Werke irgend eine Möglichkeit gehabt hätten, vom Kabarett aus zu wirken. Von wirklichen
Künstlern gemachtes, Kabarett, das eine Welt für sich darstellte, war erst das der »Elf Scharfrichter« mit den Dichtern Wedekind, Lautensack. Leo Greiner, Gumppenberg, Ludwig Scharf. Dann gab es in den drei, vier Jahren, die dem Weltkrieg vorausgingen, eine Dichtung, die zwar nicht direkt fürs Kabarett gemacht war, aber ihrer Struktur nach einem wirklich künstlerischen und selbständigen Kabarett geeignetes Material zu bieten hätte. Die impressionistisch-naturalistische Literaturepoche hatte es in ihrem Ausgang zur Groteske gezogen: nach der Erringung eines hohen formalen Niveaus führte man akrobatische Wagestücke und verblüffende Fingerfertigkeiten vor, hielt Berlins Großstadtsensationen in grotesk frisierter Verklärung lyrisch fest. Die Reihe der Dichterexzentriks war groß und mannigfaltig, Scheerbart, Meyrink, Mynona waren ebenso darin wie Hardekopf, van Hoddis, Lichtenstein, Blass, Hugo Kersten und das Autorenterzett der »Kriminalsonette«. Die Schwindelatmosphäre des Kriegs- und Nachkriegsbetriebs nimmt die deutsche Abart des Dadaismus dann einfach als Technik auf, erbarmungslos, exakt, mit nötiger Kaltschnäuzigkeit, marschartigem Draufloshämmern, marktschreierischer Inseratenstrophe, marionettenhafte Geschäftigkeit, betreibt die Tollheit als Gewerbe und schafft so auch für ein selbstherrliches Kunstkabarett bizarre, klischeefeindliche Vorlagen in Gedichten von George Grosz, Richard Huelsenbeck, Hans Arp, Kurt Schwitters. Die Reihe der Außenseiter-, Urwuchs-, Unbandpoeten, jener Dichter, die durch die Konventionslosigkeit,
ja Vogelfreiheit ihres Werks für ein geistiges, kämpferisches Kabarett wichtige Anreger blieben, setzte sich inzwischen von Wedekind, Ludwig Scharf, über den gesinnungsechten Barden Erich Mühsam, die lebensechte, schicksalshafte Bohemienhaltlosigkeit der Emmy Hennings, den Dramatiker Bert Brecht, der zugleich der erschütternde Bänkelsänger der milden Moritat Apfelböck oder die Lilie auf dem Felde und der großartig aufreizenden Ballade vom toten Soldaten ist, bis zu dem in seiner Art einmaligen Daseinsbohemien, Grotesketragiker Joachim Ringelnatz fort. Das ist der Ausbund von einem heutigen Vagantendichter, der erschüttert, wie nur die Einheit von Dichter, Werk, Leben erschüttern kann. Ein Original, etwas herrlich eralkoholisiertes, Urviechiges mit dem niederträchtigen Dichterblick für die Kleinzüge allen Außenseitertums, dem etwas für seinen Bezirk so Klassisches entstammt wie Noctambulatio. In den Turngedichten, in den Phantasien des Matrosen Kuddel Daddeldu (beide bei Kurt Wolff, München) und im Geheimen Kinder-Spiel-Buch (Gustav Kiepenheuer, Potsdam) schuf er sich eine ganz eigentümliche barocke Ausdrucksform, einen Ton und Rhythmus, den nur er so hat, für eine ganz eigne Erlebniswelt. Das sind drei Maskierungen oder Demaskierungen ein und desselben Wesens.
Dieser Seemann Kuddel Daddeldu, dieser Turnerschreck und dieser Wegweiser für Enfants terribles – es ist mehr als» ernsthaft selbstparodistische Laune«, es sind keine Fiktionen, keine »erdichteten Gestalten«, es ist der Zwang, seine verquere, verfahrene, halb lachhafte, halb melancholische Lebenschose in Zickzackbahnen zu erledigen. Alles ist gleich echt und verflucht schicksalhaft, der Ekel an der strammturnerischen deutschen Umwelt, daß man das Kotzen kriegt, sich in nebulose seemännische Grogseligkeiten flüchtet, wo man von einst erlebten oder auch nur erhofften exotischen und erotischen Abenteuern träumt und schließlich in allen als Kind dasteht, boshaftes, himmlisches Kind, dem alles nur Spiel ist und nach automatischem Widerpart und Schabernack der kaum von Trunkenheit zu unterscheidende Urweltschlaf kommt, der selig lallend von nichts mehr weiß. Es ist dieselbe göttliche Naivität hier wie in den Turn- und Seemannsgedichten, und dort wie hier grenzt sie an die raffinierteste Bewußtheit exzentrischer Technik, aber dabei ist kein Widerspruch, wer selbst ein vielfältiger, hin und her gerissner Dichtermensch ist, kennt das, wie man nah nebeneinander lindeste Schwärmerei, schadenfrohen Zynismus, Liebenswertes und Selbstzerstörerisches haben kann und muß.
Dieselben Grundelemente finden sich in dem Kinder-Spiel-Buche wie in den andern Ringelnatzwerken: der energische Zugriff, das wurschtige Sichfallenlassen, die schnuppige, ruppige, weil absichtslose, so doch im letzten Sinne keusche Eindeutigkeit, die keine Zote ist, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der man auch diesen Dreck des Lebens, der einen immerzu plagt, hinschmeißt. Und auch die scheinbare Herzlosigkeit und Grausamkeit in solchen Versen ist kein Gefühls- und Gewissensmangel, eher der Überfluß an Gefühl und Gewissen, der sich mit der faktischen Herzlosigkeit der Mitbürgerschaft zu deren Ungunsten ausgleicht. Da gibt es »Abzählreime«, die in ihrer scheinbaren Zufälligkeit eine Weltanschauung enthalten, nämlich die tiefe Überzeugtheit vom irrsinnigen, hoffnungslosen Nebbichtum unsrer ganzen Erdenexistenz, und die Ratschläge zu neuen Kinderspielen sind ganz rebellisch, zielen auf Attentat, Unruhe, Verwirrung ab, geben glänzend unehrerbietige, blasphemische Maximen und sind schließlich
alle» Nur für Kinder, die keinen Schiß haben «.
Der spezifische Kabarettdichter, dessen besonderes Talent es ist, die fürs Brettl notwendige Originalität, Vielfalt, Tempobeschwingtheit und scharfe Pointierung zu haben, der eine neue Art Chanson, eine ganz dem Rhythmus der Zeit und dem Rhythmus heutigen Kabaretts entsprechende Coupletkunst begründete, ist Walter Mehring. Was ihn vor allem zu seinem Metier befähigt, ist diese rhythmische Feinfühligkeit, die Treffsicherheit, den richtigen Vortragsschwung jedem einzelnen Couplet gleich mitzugeben, daß schon im Takt die Situation sich ausdrückt und Melodik und Stimmung sich vollkommen decken. Dabei ergibt sich für die verschiedenen Gelegenheiten eine dementsprechende Abwechslung: eine Erinnerung an den Tonfall Bruantscher Schreckenslieder, die alte Kehrreimweise, eine Simultanität, die von der »Fortgeschrittnen Lyrik« manches nutzte, und schließlich das originellste Produkt eines freien Rhythmusses der Couplettechnik. Es muß noch einmal konstatiert werden, daß der nun so oft dünner nachgemachte Vortragselan, der die rasende Mechanik des Großstadtbetriebes exakt ausdruckt und so etwas wie einen Expressionismus der Brettldichtung, eine im Automobiltempo losgelassene, gebremste und Kurven nehmende Momentaufnahme darstellt, zuerst und am intensivsten moussierte in solchen Mehringoriginalen wie Achtung Gleisdreieck, Sensation, Salto mortale.
Sein neuester Band Europäische Nächte (Elena Gottschalk Verlag, Berlin) ist sehr geschickt eingekleidet als eine »Revue in drei Akten und zwanzig Bildern«. Die drei Akte »Quer durch Mauern«, »Ländliche Romanze«, »Nun ade, du mein lieb Heimatland« gliedern die Sache in Berlinisches, Ländliches und Internationales, wobei für Ankurblung, Atemholen, Steigerung und radikal brüsken Ausklang, wie für die richtige kabarettistische Vielfalt von sentimentalem, Aggressivem, Zärtlichem und Barschem, Schwärmerei und Abfuhr glänzend gesorgt ist. Das Ganze ist geradezu ein vorbildlicher Grundriß für ein ideales Kabarettprogramm. Und es ist auch gewissermaßen ein historisches Kabarettbuch, denn es enthält alle die Schlager, die – von Werner Richard Heymann, Friedrich Hollaender, Mischa Spoliansky komponiert – ihren Platz haben im Repertoire wesentlicher deutscher Kabarettküristler. Es enthält auch die beiden besten kabarettgemäßen Persiflagen, die ich aus den Programmen der letzten Kabarettjahre kenne: die Oberammergau-Parodie und den Russischen Holzschnitt. Auch in diesem Bande erweist sich, daß Mehring viele Register beherrscht, von einer außerordentlichen Wandlungsfähigkeit und Mannigfaltigkeit ist. Da gibt es so pompöse Monatrestücke wie die Arie der großen Hure Presse, Blocksberg, Bravournummern wie Dressur, Der Rattenfänger von Hameln, Amerikanisches Riesenspielzeug, Balladen wie die vom »Abenteurer«,vom »Highwayman«, von den »roten Schuhen« verschlagne Romanzen wie Mein Herz, unscheinbare, sanfte, dennoch mit geheimer Schadenfreude geladne Liedchen wie Die kleine Stadt, Bergerette. Dann wuchtige, Stimmung der Großstadt in unendlicher Schwermut gestaltende Dichtung Wenn wir Stadtbahn fahren, radikale Attacke: Die Maschinen, wundervoll Ironisches wie Ziehende Schafherde, bestes Tingeltangel: The man in the moon, robustes Chanson von den »Gardekürassieren «unbürgerliche, vagabundenfrohe Justamentsstrophen: Die Vier auf der Walze und Choral für Seemannsleute (übrigens tadellos das Couplet aus dem Monologischen ins Vielstimmige führend), und schließlich eine überlegene Rücksichtslosigkeit in dem herrlichen Monolog Der Angeklagte hat das letzte Wort. Mit dem Gruß »Doch nie stirbt mein Gelächter« stößt das Abenteurerschiff vom belämmerten
Heimatsufer ab, und fast schon unter Palmen stellt ein sehr, sehr über Europa schwebender Epilog den »Tiefen Grund « fest, warum bei uns zulande der mörderische Kuddelmuddel herrscht. Kein sogenanntes »ernsthaftes« Gedichtbuch der letzten Zeit hatte mich so restlos in seinem Bann wie dieses in jeder Hinsicht freie, und daß es sein Verfasser mit einem phantastischen Umschlagsbild und hübsch unpedantischen, nach Lust und Laune hingesetzten Textzeichnungen versah, schuf ihm vollends die rechte tändelfrohe, gottlob unseriöse und unbedingte Kabarettatmosphäre.
Von Marcellus Schiffer, der heut am eifrigsten die Kabaretts mit Texten beliefert, eine direkt routinierte Begabung für das nicht gerade tiefe, unterirdisch gefährliche, doch aber geschmackvolle, von einem wirklich witzigen Intellekt zeugende Chanson hat, existiert leider noch keine Buchpublikation. Erich Weinert, einst Mitglied des Leipziger Kabaretts »Die Retorte«, das eine künstlerisch selbständige, ein eignes Gesicht wahrende
Institution war, heut in Berlin beliebt, schrieb Couplets, Verssatiren, gereimte Plaudereien, deren gemeinsames Merkmal ist, daß sie ganz leicht aus dem Ärmel geschüttelt wirken und an gangbaren Pointen reich sind. Es gibt zum Beispiel von ihm eine der köstlichsten Parodien auf Dirnenchansons und eine gute Persiflierung der »neuen Deutschen Nationalhymne«, nämlich – des Bananenlieds. Seine besten Sachen stehen aber leider noch nicht in dem Bändchen Der Gottesgnadenhecht und andre Abfälle (Elena Gottschalk Verlag, Berlin), obwohl darin auch schon so ehrfurchtslos aggressives Geschütz wie das Titelgedicht, so brauchbare Verhohnepieplungen wie Der Akadem, so bittre Mahnung wie republikanischer Abend enthalten sind.
Eine Sache für sich ist Hans Reimann, eine ganz persönliche Sondernummer, eine Art sächsischer Otto Reutter von fortschrittlicherer Geistigkeit, jedenfalls natürliche Originalität, ein Kerl von eignem Wuchs und Gesicht. Seine neueste Publikation Mein. Kabarettbuch (mit Zeichnungen von Paul Simmel bei Steegemann, Hannover, erschienen), parodiert in seinen besten Partien gutpointiert kulturelles und literarisches Talmi.
Reimann konzentriert da ergötzlich Schiller, schafft die Sächsische Nationalhymne, revidiert die Schöpfungsgeschichte, besingt den Untergang des Abendlandes gebührend, stellt in einer Hymne Rabindra und Fern Andra als Lieblinge des Volks auf den Sockel des gemeinsamen Denkmals (Pose: Schiller-Goethe auf dem ‚Weimarer Denkmal), knöpft sich gelassen und kundig Caesar Flaischlen, Bonsels und Jungnickel vor.
Max Herrmann-Neiße: Neue deutsche Kabarettdichtung; in: Die neue Bücherschau, 3. Foöge, Heft 1, 1925.