…Der beste Jahrgang deutscher Reben ließ vor der Ernte so sein Leben… Walter Mehring 1896 – 1981
Diese Verse aus dem Refrain des zehnten Briefes aus der Mitternacht hat die Künstlerin Renate Sendler-Peters 1982 unter ihr Porträt Walter Mehrings gesetzt. Auch wenn diese Worte gut 40 Jahre nach ihrem Entstehen auf den überlebenden Mehring nicht ganz passen, sind sie doch so wie das ganze Gedicht bewegend. Die Radierung ist in einer kleinen Auflage gedruckt worden. Sendler-Peters hat sehr viele Schriftsteller-Porträts gestaltet, etwa für den Insel-Verlag.
Schreiben aus der Technik des Schreibens heraus, aus der überlegnen Freude an der Beherrschung des Apparats, aus einem berechtigten Handwerksstolz existierte bisher in deutschem Schrifttum kaum. Hier gab es immer nur zweierlei: einmal das Schreiben um einer Idee oder um einer Gefühlspropaganda Willen (und mancher, der beides nicht hatte, täuschte es vor, schminkte sich Idee oder Gefühl an, borgte sie sich), dann die snohistische L”art-pouı‘-l’art-Tändelei, den Luxus der Selbstbefriedigung, eine sinnlose Kunst „an sich“. Damit darf man das, was ich im ersten Satz nannte, nicht verwechseln, was ja kein eitles, nutzloses Hantieren im abgesperrten Raume ist, sondern gar sehr die Wirkung auf jedermann erstrebt und diese Wirkung auch trefflich zu berechnen und hervorzurufen weiß. Schreiben aus der Technik heraus wird dieser Technik auch einen Willen unterlegen, wird die Meisterschaft für einen vernünftigen Sinn einsetzen, auf festem Boden stehen, nicht ins Blaue dunstiger Kniffligkeiten faseln.
Es ist kein Zufall, daß derartige literarische Handwerklichkeit vorläufig am ehesten zu finden ist bei ausgesprochen revolutionären, aber zielbewußt und nüchtern fit eine politische Überzeugung eintretenden Schriftstellern (wie Jack London, Franz Jung und andrerseits bei dem anarchistischen Walter Serner. Auflösung und Aufbau berühren sich in ihren Formen. Aber es ist bezeichnend für die Direktions- und Instinktlosigkeit unsrer offiziellen Wertung, daß man den sonst allenthalben angewandten Maßstab des Könnens, der technischen Sicherheit, in der Literatur nicht gebraucht, im Gegenteil, heut Schludern, Leichtfertigkeit, Ratlosigkeit als Kriterium einer genialen Begabung annimmt.
Nun hat unser stärkster Kabarettdichter, Walter Mehring, mehrere Prosabände veröffentlicht, die alle das eine gemeinsam haben: Leichtigkeit der Komposition und instinktíve, ursprüngliche Sprachkultur. Es wäre falsch, zu sagen, es kommt dabei mehr auf das Wie als auf das Was an, aber beides befindet sich im Einklang, und das gemeinsame Fundament ist eine gleichermaßen unbarmherzig fröhliche und herzhaft bittre, ganz unabhängige Verarztung der Welt. Das erste Prosabuch hieß „In Menschenhaut, aus Menschenhaut, um Menschenhaut herum“ (bei Gustav Kiepenheuer, Potsdam. Mit Zeichnungen von Rudolf Schlichter) und enthielt bereits reife Früchte eines großzügigen Arrangiertalents. Diese knappen, kurzweiligen, phantasiereichen Skizzen sind selbständige Exemplare der Kurzgeschichte in Deutschland, auf köstlichen Originaleinfällen aufgebaut, eine wirklich anregende Lektüre, auf einer Mischung von Geist und Herz, Hirn- und Bluterlebnis beruhend. Lästerliches und Idyllisches, Spuk und Lyrik halten sich die Waage, menschliche Wahnvorstellunng wird attackiert, der Popanz als solcher entlarvt, Bürgerliches mit guter Groteske spielend erledigt. Am stärksten von den aggressiven Stücken ist „Unsterblichkeit“, das mit handfester Bealistik die Einzelheiten militärischen Betriebes gestaltet und ihn durch die Wanzenperspektive drastisch kennzeichnet. Ebensogut gelangen die positiven Prosagedichte in der Zärtlichkeit ihrer Anteilnahme: da ist die reizvolle Verschlungenheit von „Bouquins, bouquinistes, bouquineurs“, die
diffizile Tragik „Vom Mann, der die fünf Minuten verlor“, die graziöse Erotik des Märchens vom „Lederstrumpf“, endlich das Bravourstück der trocken gebrachten Abenteuergeschichte „Die Thöle“.
Das in sich geschlossene Brevier einer imaginären und doch sehr robusten Meerfahrt ist „Westnordwestviertelwest oder Über die Technik des Seereisens“ (im Verlag Elena Gottschalk, Berlin. Mit Umschlagbild und Textzeichnungen von Walter Mehring). Elf noch kürzere als Kurzgeschichten, norddeutsche Altenbergiaden eines schnurrigen Ringelnatzbruders, aber beileibe weder Altenberg- noch Ringelnatz-lmitationen, sondern wieder etwas eigenes, Gebilde, die scharfen Blick für des Lebens kuriose Kleinzüge und Freude am Fabulieren merkwürdig vereinen und immer signiert sind mit der Stimmungsnuance ihres Autors, der guten Zusammenstellung: Skepsis und Liebe zu den Dingen dieser Welt. (Skepsis allein ist ebenso unfruchtbar, unnütz, billig wie eine blinde, rührselige, von sich selbst besoffne, hemmungslose Hingabe wahl- und distanzlos an jeden Dreck!) Und nicht der kleinste Zauber des Buches ist seine undefinierbare Balance in einer Zwischenlage zwischen Ernst und Ironie, Sachlichkeit und Lust am Spintisieren, daß in gleicher Überzeugungskraft die Unterhaltung von Kapitänen, die mönchische Abgeschiedenheit der Feuerschiffe, die Vision der Seehundsmenschen, der unbeholfen liebe Brief eines kleinen Mädchens und die nicht ganz klaren Verhältnisse im scheinbar recht vielseitigen Laden der englischen Siedlung Jarrow getroffen sind. „Bouquins, bouquinistes, bouquineurs“ hatte schon Mehrings Abenteurerneigung zu den abenteuerlichen Mysterien alter Schwarten verraten, eine sehr begreifliche Neigung aller Phantasten, an phantastische Tradition anzuknüpfen, aller Ironiker, sich magisch zu maskieren und in den Absonderlichkeiten vergangenen
Geheimniskrams und Luftgespinstes herumzustöbern.
Solcher Lust (die auch schon im letzten Abschnitt seines Kabarettbuches „Das Ketzerbrevier“ geisterte) frönt leidenschaftlich der Band „Neubestelltes abenteuerliches Tierhaus. Eine Zoologie des Aberglaubens, der Mystik und Mythologie vom Mittelalter bis auf unsre Zeit“ (Gustav Kiepenheuer, Potsdam). Mehring nimmt sich darin der Geschöpfe an, die in den Akten einer zünftigen Zoologie nicht registriert wurden, der Fabelviecher und Merkwürdigkeiten wie Einhorn, Drache, Basilisk, Lintwurm, Greif, Seeschlange und bürgerlicherer Monstra: die Ziege mit zwei Köpfen, das schlesische schwarze Schwein, die Zeitungsente. Satire und Mystik feiern Schlachtfeste ihrer Verwandtschaft, und noch in so gelehrsamen, durch die rarsten Zitate beglaubigten Traktaten ist Mehrings Angriffslust aktuell rege. So wird endlich einmal konstatiert, daß auch die menschliche Überhebung übers Tier Zeichen antisozialen Sinnes und Kastengeistes ist, Herrenanmaßung, die gottgewollte Abhängigkeit des Tieres vom Menschen zu proklamieren. Einen noch gröberen Schlag bekommt der Stolz mit der Versicherung, wie zufällig die Seele einen Menschenkörper bewohnt, wenn der Dünkel gezwungen wird, sich in eine Heuschrecke zu verwandeln, der Herr Wirkliche Geheime Rat im Polizeipräsidium, Abteilung la, plötzlich als Insekt hilflos umzulernen sucht. Irgendwo existiert das Namenlose, ein Sackermentsding, das jeder Definition spottet und für solche Extravaganz in unsrer Zeit geschäftlich nüchterner Ordnung schwer büßen muß, indem es als Fabrikzeichen für Bitterwasser ein blamables Ende nimmt. Die Parole dieser ehrfurchtslos nur dem Nützlichkeitswahn huldigenden Epoche wird prägnant auf die Formel gebracht: „Quäle nie ein Tier zum Scherz, wenn du nicht Gelehrter bist!“ und präzis genug ausgesprochen: „Die Geschichte der Zivilisation, das ist die Geschichte der falschen Scham und beginnt schon im Paradiese. – Scham ist die Angst vor der Natur, vor den Trieben und Ungeheuern.“ Die Schöpfungsgeschichte erfährt eine Beleuchtung von revolutionärem Standpunkte aus: da ist die paradiesische Schlange die „Todfeindin aller Regierungen“, die die Privilegien, „die Früchte der Erkenntnis und die Schätze der Erde, zu deren Hüterin sie bestellt war, an die Menschheit auslieferte“. Schließlich siegt eine nüchterne Götterdämmerung, das Ungeheuer Moral erledigt die ungeheueren Tiere und beschert dafür der Menschheit die negativen Ungetüme, Bakterien und Mikrokokken. Wir Poeten aber flüchten uns zu entzückenden Besuchen bei dem sympathischen alten Weib, das um Grönland herum bei ihrer Tranlampe zutiefst im Meere sitzt und das von Zeit zu Zeit die Walrosse mit ihren Riesenzähnen lausen, sind gern zu Gaste beim Weiland Herrn von Megenberg in seinem kuriosen Aquarium, gut Freund mit Meermönch, Meerbischof, Meerfratz, vertraun uns lieber Schäfern und Spökenkiekern an als der täglich dementierten Zeitungs-„Wahrheit“. Lieben den Bieresel, der alles zerwirft, wenn ihm nachts nicht ein Krug mit Bier an einen bestimmten
Ort gesetzt wird, und sind natürlich herzlich gern in „Wirtshäusern nach Feierabend“, die viel Spukiges haben „durch jenes rätselhafte, menschenverlassene Durcheinander, in ihrer tristen Öde voll von Spuren besoffenen Radaus“. Diese Registrierung vergeht nicht mit Vergangenem, notiert sich flink bis auf die jüngste Gegenwart durch: die Folies-Bergère-Revue schließt sich den Schimären von Notre-Dame an, und die Tiller-Girls tanzen in den Hexensabbat, bis der Kilometerfresser Auto, der Drache von heut, alles in Angst setzt. Menschen mit Tierköpfen spazieren neben uns, Geier mit Intelligenzbrillen, Wirtinnen, die ihre Gäste in Schweine verwandeln, Generäle mit Bulldoggenschädel, verzerrt durch Bigotterie. Was ähnliche Typen vergangner Zeiten als Werwolf schreckte, heißt heut kraß plakatiert „Bolschewistenscheusal“. Es liegen die halb ernsthaften, halb skurrilen, absichtlich barocken Exkurse dieses prächtig vielseitigen Buchs ganz in der Sphäre jener bewußten Lebens- und Philosophietravestien, wundervollen Wunderlichkeiten, antiphilologischen Belesenheitsorgien, deren scheinbare \/Vindigkeit sehr schnell Sturm werden kann und deren Tollheit zuletzt die sehr klare Abrechnung mit einer nüchtern ungerechten Welt wird. Diesen Bogen mit Namen wahllos zu kennzeichnen: Rabelais, F ischart, Christian Reuter, Sterne, Jean Paul.
Aus dem Aufgehen, Sicheinleben in solch putzige Luft, in ihren Stil und in ihren erfreulich unabhängigen, dreisten Geist schuf Mehring schließlich eine ganz unvergleichliche Nachdichtung von Balzacs „Contes drôlatiques“, die unter dem Titel „Trollatische Geschichten“ in der schönen, handlichen Balzacausgabe des Verlages Ernst Rowohlt, Berlin, erschien. Es mußte einer kommen, der das Gefühl hat für sprachliche Besonderheiten, Abnormitäten, Revolten (die auch geistige sind), um die nach Regis beste Übertragung dieses unbefangen saftigen, aus richtiger poetischer Spiel- und Verkleidungefreude gewachsnen Werkes in ein kongruentes Altertümlichkeitsdeutsch der Fischart- und Katzipori-Schwänke zu schaffen. Es wurde kein Altertümeln und Verschnörkeln daraus, sondern die Transponierung in ein Deutsch, das die Sprachkraft von einst jedem, der heut überhaupt Gefühl für Sprache hat, verständlich macht, herznah bringt.
Max Herrmann-Neiße: Walter Mehrings Prosa; erschienen in: Die neue Bücherschau, 3. Folge, Heft 5, Berlin: 1925
Walter Mehring freute sich sehr über die Neuinszenierung seines „Kaufmanns von Berlin“ von Rainer Behrend. Die Berliner „Tribüne“ hatte schon vorher einige Programme mit kabarettistischen Texten in den 1970er-Jahren aufgeführt. Dieser Brief wurde in der Zeitschrift „Theater heute“ veröffentlicht. In ihr wurde auch der gesamte Text des Stückes abgedruckt.
Das ist mehr als das brauchbarste Arsenal für ein radikal kämpferisches, überlegen geistiges Kabarett, das ist ein lyrischer Zeitspiegel von gewíssenhafter Schärfe und unerbittlichem Wahrheitsmut. Einem sintflutwürdigen Weltzustand sagen diese saftigen Gesänge die bittere Meinung. Mehring hat hier zwei herrliche Eigenschaften, die bei der heute üblichen Art der Künstler, sich vor eindeutiger Stellungnahme zu drücken, dumm zu stellen, in neutrale Spielplätze zu retten, ebenso selten wie aller Ehren wert sind. Er bekennt sich zu seinen menschlichen, freiheitlichen Prinzipien nicht Weniger mannhaft, als das die Anhänger barbarischer Ansichten zu tun pflegen. Und er kann seine Überzeugung auf eine Art ausdrücken, die jedem Menschen leicht eingeht und auch dem Einfachsten sich mit ihrer volkstümlichen Musik einprägt. Es ist stilistisch interessant, die Entwicklung seiner Form zu beobachten. Da wurde aus der Tradition von Pottier bis Bruant und einem Schuß Spreewasser mit Zielsicherheit diese jetzt ganz gefestigte, unverwechselbare Walter-Mehring-Weis, eine Diktion, die den einfachsten Ausdruck, Vertrautheit mit allerlei Mundartlichkeit, ein drängendes Vorwärts im Rhythmus, echte Keßheit und ebenso echte Herzlichkeit niet- und nagelfest eint und in sicherlich strenger Arbeit zum straffpointierten Schlager stählt. Ein Bänkelsang-Swift, möcht man sprechen, wobei das Wort Bänkelsang keine Herabsetzung sein soll, im Gegenteil, die Anerkennung, wie nah Mehring dem heut möglichen Begriff Volkslied kommt. Wer Ohren hatte zu hören, konnte es schon aus Mehrings früheren Werken heraushören; in diesem neuen Bande dürfte es wohl auch für Begriffsstutzigere spürbar sein, daß Mehring auf seine Fasson ein ernst zu nehmender, echter Lyriker ist. Das ist keine journalistische Fixigkeit, die aus der Zeit gereimte Zeilen schindet, sondern liebebedürftiges, liebewilliges Poetentum, das an der Tücke des gegenwärtigen Tatbestandes leidet. Die Provokation kommt aus der eigenen Todesverzweiflung, das Segenswort für alle Art Kummer ist so drastisch, wie es sein muß. Die „Kantate von Krieg, Frieden und Inflation“ enthält akkurat die krasse Wahrheit über ein Stück Historie, aus dem sinnlosen Wüsten unserer sogenannten Rechtspflege werden drei besonders arge Fälle konserviert, „Gebet über Beuthen“ ist hochaktuell als massive Absage an allen nationalen Beneblungsdreh. Schließlich gibt es die phantastischen, überlebensgroßen Gebilde „Mond und Liebe über großen Städten“, „Singweise vom Paradies“ (in wundervoller Leichtigkeit und Grazie), zuletzt nimmt Mehrings Ton etwas von Benn an („Das Lied vom Schlaf der Tier- und Menschenjungen“ und „Die betrübte Ballade vom Menschen und den Tieren“) und mündet damit in den richtigen, für ihn zuständigen Himmel.
„Arche Noah SOS“ ist ein gewichtiger, mit eigener Geistigkeit bewehrter, mit unwiderstehlicher Musik werbender Dichterangriff auf
die deutsche Kulturreaktion.
Max Herrmann-Neiße: Walter Mehring: Arche Noah SOS; erschienen in: Die literarische Welt, 7. Jg. Nr. 19, Berlin 1931.
Bei der Stuttgarter Antiquariatsmesse 2013 wurde ein Buch mit einer sehr amüsanten Widmung von Kurt Tucholsky angeboten. In den Band der zweiten Auflage seines Buches „Lerne Lachen ohne zu weinen“ aus dem Jahr 1932 hat er in der rechten unteren Ecke des Innendeckels geschrieben: „Was ist der Unterschied zwischen | Mussolini, Stalin u. Hitler? | Ja, wer das wüßte – !“ – Gegenüber, auf dem Vorsatzblatt steht von seiner Hand: „Dem Erfinder vieler Dichter, | die ohne ihn nicht wären – | W. M. | Tucholsky. | 1932.“ Offenbar hat Kurt Tucholsky das Buch seinem Freund und Kollegen Walter Mehring geschenkt. Die Widmung bringt sehr schön zum Ausdruck, dass beide im Kommunismus keinen vernünftigen Weg sahen, um Demokratie zu bewahren.
Walter Mehrings „Müller – Chronik einer deutschen Sippe“in einem Kindertheater-Verlag zu publizieren ist schon gewagt. Aber Sven j. Olsson will, dass der Text aus dem Exil nicht vergessen wird. Und so hat er sich vorgenommen, diesen Roman über den deutschen Untertanen in eine neue Form zu bringen, um ihn einer neuen Generation nahe zu bringen.
Dazu nimmt sich Olsson vor, den Text so weit wie möglich in seine Bühnenfassung einzubinden. Mehrings Ritt durch fast zwei Jahrtausende Deutschtum seit Tacitus folgt er. Eine Fülle von historischen Szenen wechseln sich ab, viele Müllers kommen dabei nur sehr kurz vor. Das erschwert auf der einen Seite das Verstehen der einzelnen Müllers. es macht auf der anderen Seite aber die dramatischen Effekt der Herausbildung eines Typus leicht. Denn egal in welchem Deutsch der Müller spricht, egal in welcher Zeit er beheimatet ist, er duldet die Obrigkeit nicht nur. Nein, er verehrt sie geradezu.
Olsson legt das Theaterstück nicht nur in der Abfolge der Müllers in ihrer jeweiligen Zeit wie den Roman an. Er folgt Mehring auch in der Rahmenhandlung. Auch auf der Bühne verortet er den Dr. Armin Müller, den Oberstudienrat des Königlischen Wilhelms-Gymnasium, der als NSDAP-Mitglied um seinen arischen Stammbaum und damit die Anerkennung des von ihm so bewunderten Systems kämpft. Anders als im Roman wird Armin Müller viel stärker als verbindendes Glied im Textgefüge eingesetzt. Er ist in und zwischen den Szenen immer wieder in seinem Kampf um den Ariernachweis zu sehen. Das festigt das Stück sehr, gibt ihm Kontur uns den jugendlichen Zuschauersn, für die die Dramatisierung ja verfasst wurde, den Halt, den sie benötigen dürften, um dem Stück zu folgen.
Olsson arbeitet zudem mit dem „Lied der Straßenkehrer“ und weiteren Versen Mehrings, um dem Stück Halt und Schwung zu geben. Er legt des Text als einen rasanten Wechsel von Zeitebenen, Bühnenebenen und Rollenwechseln der Schauspieler an. Das kann, wenn es gut inszeniert ist und die Schüler Spaß am Spielen haben, bestimmt sehr gut werden. Es birgt aber auch die Gefahr, dass sich in der großen Vielfalt des Geschehens das Stück im Klamauk oder im Bühnenchaos verliert. Auf jeden Fall ist die Dramatisierung von „Müller – Chronik einer deutschen Sippe“ ein Stück, das es wert ist, auf der Bühne ausprobiert zu werden. Wer die Inszenierung des „Kaufmanns von Berlin“ in der Berliner Volksbühne gesehen hat, kann sich vorstellen, dass Olssons Müller-Fassung besser beim Publikum ankommt als Castorffs Kaufmann. Denn die Kraft der Satire, die in Mehrings Müller steckt, hat Olsson auf jeden Fall erhalten. (A.O.)
Der erstaunliche und mysteriöse Kunstfund von München macht in diesen Tagen Schlagzeilen. Bei Cornelius Gurlitt fanden Ermittler eine erstaunliche Fülle von Bildern, die von den Nazis als „entartete Kunst“ diffamiert worden waren. Cornelius Gurlitt entstammt einer Kunsthändlerfamilie, mit der auch Walter Mehring zu tun hatte. Wolfgang Gurlitt kannte Mehring schon in jungen Jahren, als sie sich beide in Berlin für all das interessierten, was die Nazis dann ab 1933 verboten. Er war der Cousin von Hildebrand Gurlitt, dem Vater von Cornelius Gurlitt.
Wolfgang Gurlitt erbte die Galerie seines Vaters Fritz in Berlin. Trotz mehrfacher Konkurse oder fast abgewendeter Konkurse behauptete er sich als Kunsthändler. Während des Dritten Reiches blieb er in Deutschland und versuchte einen großen Dieal mit dem Kunstmuseum in Basel zu organisieren. Nach dem Krieg wurde er sehr schnell Österreicher und baute das Kunstmusiem in Linz auf, dessen Leiter er wurde, bis er 1960 seinen Stuhl räumen musste, weil er private und dienstliche Aspekte zu sehr vermengte. Ein privates Engagement war seine eigene Galerie in München, in der er 1961 Bilder von Walter Mehring und dessen Frau Marie-Paule ausstellte.
Mehring war bis 1933 selbst Kunstsammler. Doch nach einer Hausdurchsuchung durch die SA 1933 sind seine Bilder von George Grosz, Feininger, Campendonk, Klee und vielen anderen verschollen. Die Nazis verkauften viel beschlagnahmte Kunst ins Ausland, um Devisen zu beschaffen. Das übernahmen dann Kunsthändler wie Hildebrand und Wolfgang Gurlitt.
Am 5. April 1956 schreibt Mascha Kalko in einem Brief an Chemjo Vinaver von einem Besuch in der Redaktion von DER MONAT. Walter Mehring hatte in ihr publiziert. Die Zeitschrift war ein Projekt, das auch mit Mitteln der US-Geheimdienste finanziert wurde, um der intelektuellen Auseinandersetzung mit Ostberlin etwas entgegenzusetzen.
„War gestern gerade in der Redaktion DER MONAT, eine amerikanisch-deutsche Publikation vom Congress for Culture, sowie Kristols Blatt in England, die Redakteure Melvin Laski und Dr. Helmut Jaesrich empfingen mich wie es sich gebuehrt, – Laski ist ein Brooklyner Jid, mit Baertchen à la Kurt List, den er gut kennt, und als die hoerten wir haben was mit Commentary waren wir gleich mittendrin, (das fuer Dich nur) sie waren zunaechst mal von mir entzueckt und wir sprachen fast 2 Stunden miteinander ueber alles. Laski ist 2 mal jaehrlich in NY, wird sich mal melden bei mir. Jaesrich sagte, Sie sind zu gescheit, um wie andre auf diesen herzlichen Empfang nun zu bauen. Mehring dachte, nun geht das so weiter und hatte schreckliche Enttaeuschungen, bis er verbittert nach Frankreich ging, wo seine Schwiegereltern aermlich fuer ihn und seine Frau sorgen.“
(zitiert aus: Mascha Kaleko: Sämtliche Werke und Briefe; Bd.2, S. 336. Hg. v. Jutta Rosenkranz; München: dtv 2012)
An Walter Mehring. Paris, 3.8.1927
Paris XVI
5 Avenue du Colonel Bonnet
Auteuil 44-24
Sehr verehrter Herr Strafanstaltsdirektor,
möchte Herrn Direktor mal schreiben, weil seitdem ein viel besserer Mensch geworden, seitdem bei Herrn Direktor mein lebenslänglich abgebüßt habe. Fühle mich seitdem wie im Himmel und kann dasselbe jedermann nur aufs Wärmste empfehlen.
Abgesehen davon:
1.) Sie müssen mehr haben; denn ich will hooptsächlich Kuhplehs machen und nur hier und da etwas Scene.
2.) Condotion sine que non: Urheberrecht wird nicht übertragen, sodaß sie also nichts ändern können, wenn wir nicht wollen. Verlagsrecht auch nicht.
3.) Jach hab mer gedacht, 3000 Mark. Das ist vorher zu bezohlen. Begründung: wir haben unsere Zuverlässigkeit seit Dschahrenden bewiesen – der Rendant des neuen, noch nicht einmal bestehenden Theaters hat das erst zu tun. Kein Mißtrauensvotum gegen Piscator – äußerstes Mißtrauen gegen alles geschäftliche Drumherum eines neuen Unternehmens. Haben wir das, dann ärgern wir uns nicht mehr. (Ausprobiert.)
4.) Der Herr müßten aber schon herkommen. Sieh mal, Großer, anders ist nicht. Und zwar müßten Sie gerherkommen, wenn Sie schon was haben. Und ich auch was. Über das Grundsätzliche kann man sich einig werden. Es brroocht Ihnen nicht gesagt werden, daß die eigentliche Arbeit dann erst losfangt. Wa?
(Dieser Brief ist eine Antwort Tucholskys an Walter Mehring. Der hatte ihn zuvor in einem Brief gefragt, ob er mit ihm zusammen eine Revue für Erwin Piscator schreiben würde. Tucholsky besteht auf die Einhaltung des Urheberrechts, da es Erwin Piscator damit nicht so genau nahm. Seine Skepsis gegenüber dem Projekt kommt in seinem Ton zum Ausdruck. Wobei es im Briefwechsel von Tucholsky und Mehring oft zu solchen Formulierungen, Persiflagen und Camouflagen kam. A.O.)
WIR MÜSSEN WEITER
Fragment aus dem Exil
160 Seiten, geb., claassen Verlag GmbH, Düsseldorf, DM 19,80
Walter Mehrings Erinnerungen an Flucht und Exil in Österreich, Frankreich und USA umfaßten ursprünglich 800 Seiten. Das Manuskript, das unter dem Titel „Topographie einer Hölle – Reportagen der Unter-Weltstädte“ veröffentlicht werden sollte, ging 1976 „irgendwo zwischen München und Zürich“ verloren. Erhalten geblieben sind ca. 400 meist handgeschriebene Manuskriptblätter: Entwürfe, Notizen, Durchschläge einzelner Manuskriptseiten, aus denen sich einige Zeitabschnitte rekonstruieren ließen.
Unter dem Titel „Hitler saß uns auf de Versen“ beschreibt Mehring die Stationen seines Exils in Österreich und Frankreich und die Apokalypse seiner Flucht vor den Deutschen. So enthält der Band Kapitel über
– den Ausnahmezustand in Wien kurz nach dem Attentat auf Dollfuß, die letzten Stunden vor dem Anschluß Österreichs,
– Schicksale der in der „buckligen Fremdengaststätte und Exilkommode“ wohnenden Emigranten,
– Horvaths Tod,
– die Treffs der Pariser Bohême,
– die letzten Tage von Paris vor dem Einmarsch der „boches“,
– die Flucht von Paris über Bayonne und Toulouse nach Marseille,
– Paßfälscher, Denunzianten und die um freie Caféhausplätze streitenden Literaten in Marseille,
– das demütigende Anstehen vor den Polizeipräfekturen um Übersee- und Niemandslandpässe,
– die Verhaftung in Marseille und die Internierung im Lager St. Cyprien,
– die Flucht mit einem Frachtdampfer in die USA.
WIR MÜSSEN WEITER ist keine Biographie einer außer Rand und Band geratenen Zeit, sondern ein sehr persönliches, manchmal zorniges, manchmal satirisches, manchmal dadaistisches, manchmal pamphletisches Erinnerungsbuch eines Betroffenen.
Mehring zerstört die Legende von der antifaschistischen Einheitsfront, zeigt politische Widersprüche unter den emigrierten Intellektuellen, schildert Fehden um Ausreisepapiere, macht eindringlich deutlich, was Emigration heißt – jeden Tag die angstvolle Frage: was bringt der nächste Tag? Werden wir durchkommen?
Walter Mehring,
geboren 1896 in Berlin, entging seiner Verhaftung durch die SA nur knapp, emigrierte nach Frankreich, wurde 1939 interniert und konnte 1941 in die USA entkommen. Mehring lebt heute zurückgezogen in Orselina bei Locarno. Bisher sind erschienen:
MÜLLER und DIE VERLORENE BIBLIOTHEK.
Die Pressesstelle des Claassen-Verlags hat diesen Pressetext als “Besprechungsunterlage” mit dem Band für die Rezension verschickt. Zwei Belege der Rezension hat sich der Verlag von den Rezensenten erbeten. (A.O.)