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1936 Biografisches Rezensionen

Ulrich Tietze : Außer Reih und Glied

Ulrich Tietze

Außer Reih und Glied

Walter Mehrings Sprachgewalt als Waffe des Gejagte

Lutherische Monatshefte„Mehring hat Verse, Rhythmen, Assoziationen gefunden, die alles weit übertreffen, was mir je dazu eingefallen wäre.“ So kommentiert Kurt Tucholsky im Jahre 1929 Auszüge aus dem Buch „Die Gedichte, Lieder und Chansons des Walter Mehring“ und bemerkt dazu, daß dieses Buch mit seinen 252 Seiten „viel zu dünn“ sei.

Kurt Tucholsky, dem sprachliche und inhaltliche Unsauberkeiten bei anderen Schriftstellern selten entgingen, fand für Mehring so lobende Worte, wie sie ihm bei kaum einer anderen Gelegenheit in den Sinn kamen: „Dieser Dichter kann noch den Herzschlag seiner Leser beeinflussen, wenn er will . . .“, er habe „einen völlig neuen Ton in die Literatur eingeführt“, es handle sich um „herrlich gereimte Lieder, von einem in Deutschland fast nie gesehenen Wortreichtum, und diese Worte fliegen dem nur so zu“.

Mehr als fünfzig Jahre nach den Lobeshymnen Kurt Tucholskys kommt der Kabarettchronist Klaus Budzinsky in seinem Buch „Pfeffer ins Getriebe. Ein Streifzug durch 100 Jahre Kabarett“ zu einem ähnlichen Urteil. Bei ihm heißt es: „Mehrings Sprachgewalt und lyrische Potenz hob das Chanson im Kabarett auf ein Niveau, das vor ihm nur Frank Wedekind und nach ihm niemand mehr erreicht hat.“

Sicher ist, daß dieser Autor einen kaum zu überschätzenden Einfluß auf die satirische und kabarettistische wie auch auf die lyrische Literatur der zwanziger Jahre ausgeübt hat.

Walter Mehring, am 29 April 1896 in Berlin geboren, studierte Kunstgeschichte, veröffentlichte, kaum über zwanzig Jahre alt, expressionistische Gedichte und gehörte zu den Gründern des „Politischen Cabarets“ in Berlin. Für Max Reinhardts Kabarett „Schall und Rauch“ schrieb er ebenso Texte wie für andere Ensembles. Wie Kurt Tucholsky entdeckte auch Walter Mehring früh seine Liebe zu Frankreich: 1921 übersiedelte er in die Pariser Montparnasse-Cafés.

Seine vielfältigen Möglichkeiten in Form, Ausdruck und Inhalten zeigten sich vor allem in seinen Versen. Sein Schriftstellerkollege Eckart Peterich im Jahre 1963: „Rhythmus und Reim, die heute manchem als fragwürdig gelten, sind ihm natürlichste Freunde.“

Im „Ketzerbrevier“ von 1920/21, die Mehring eine „Seelenmesse für Agnostiker, Wortgläubige und unbekehrbare Freigeister“ nannte, findet sich eine geradezu unglaubliche Vielfalt lyrischer und satirischer Formen. Dabei hat der Autor hier immer wieder auch religiöse Motive benutzt, so etwa in der „Litanei“, in der es heißt: „Kyrie eleison – Alle Stätten/ die dich loben/ die uns ketten/ an das Droben/ mit Gelübden/ und Geboten/ in den Krypten/ der Zeloten/ von der Qual/ und allem Jammer/ in Spital/ und Folterkammer/ Alle, die dich loben, Gott,/ blutverwoben und bigott/ Herr, befreie uns davon -/ Kyrie eleison!

1933 zeichnete Mehring in einem seiner bekanntesten Gedichte, der „Sage vom Großen Krebs“ – die Vorlage dafür ist tatsächlich eine alte Sage -, die Gefahr einer Rückkehr in die mittelalterliche Barbarei der Folterkammern und Scheiterhaufen durch das NS-Regime in kunstvollen Versen. Wenn der am Boden des Mohriner Sees angekettete Krebs loskäme, „dann kreiste zurück die Jahrhundertuhr/ zur ewigen Mitternacht -/ und wenn die berauschte Kreatur/ vom Traum erwacht/ geht alles rückwärts und verquer, rückwärts und verquer/ zu Hexenbränden und Judenpogrom/ Hosiannah! Gott geb’s,/ daß nimmermehr loskom/ der Große Krebs!“ Dieses Gedicht erschien in der letzten Ausgabe der von Carl von Ossietzky herausgegebenen „Weltbühne“ am 27. Februar 1933, dem Vorabend des Reichstagsbrandes.

Walter Mehring entging, anders als andere bedeutende Antifaschisten, im letzten Moment den Nazis und ging ins Exil – zunächst nach Österreich. In einem chiffrierten Brief aus Deutschland wurde ihm die Nachricht übermittelt, daß die Gestapo seine Wohnung zerstört hatte: „… gestern hatten wir noch spät abends Besuch, der sehr ungehalten war, Dich nicht anzutreffen. Es ging recht ausgelassen zu, so daß wir heute früh uns sehr plagen mußten, um die Scherben und die Möbelfetzen und die Bibliothek Deines seligen Vaters wieder zusammenzuräumen.“

Der den Häschern und Folterern knapp Entkommene hatte in unzähligen Gedichten, Aufsätzen, Satiren vor dem Hitler-Faschismus gewarnt. Dies galt auch für andere Autoren, die dem Genre der „Neuen Sachlichkeit“ zugeordnet wurden, wie Tucholsky und Kästner. Aber Walter Mehring zeigte noch stärker als die anderen Schriftsteller anhand der Sprache der Nazi-Größen den fatalen Rückschritt in die längst vergangen geglaubten Zeiten. In einer der ersten Ausgaben der Exilzeitschrift „Das Neue Tage-Buch“ zu Beginn des Jahres 1933 erschien unter dem Titel „Der Hexenhammer“ ein Aufsatz Mehrings, der sprachliche, inhaltliche und ideologische Parallelen zwischen diesem spätmittelalterlichen Buch und den „Haupt-Büchern“ der NS-Bewegung, nämlich Hitlers „Mein Kampf“ und Alfred
Rosenbergs „Der Mythos des 20. Jahrhunderts“, verdeutlicht.

In seinem zuerst 1952 erschienenen Erinnerungsbuch „Die verlorene Bibliothek. Autobiographie einer Kultur“, das eine umfangreiche, weithin bissige und sicher in mancherlei Hinsicht auch ungerechte Auseinandersetzung mit Schriftstellern des 19. und 20. Jahrhunderts darstellt, deren Werke in der Bibliothek seines Vaters standen, die durch die Nationalsozialisten zerstört wurde, hat Mehring dargestellt, wie er den „Hexenhammer“ entdeckte. Dieses Buch habe, so schreibt er, „ein ungeheiltes Jugendtrauma, eine unvergeßliche Schockwirkung“ in ihm hinterlassen. Dabei hat er sich der vollständigen Lektüre dieses Werkes ausgesetzt, „wollüstig angeekelt die erpreßten, flagellantischen Selbstzerfleischungen genossen“, „diese Lektüre verschlungen“.

Mehring hat in seinem Aufsatz die Entsprechungen zwischen dem Geist der Hexenjäger und der Nazi-Ideologie dargelegt: „Den Hexenwahn hat der Rassemythos ersetzt.“ Wurden im „Hexenhammer“ die Hexen als Personifizierung des Bösen gesehen, so geschah Vergleichbares in Hitlers „Mein Kampf“ mit den Juden: Er sei „in seiner Gemeinheit so riesengroß, daß sich niemand zu wundern braucht, wenn in unserem Volke die Personifikation des Teufels als Sinnbild alles Bösen die leibhaftige Gestalt des Juden annimmt“.

Bekanntlich war es zu der Zeit, als die Hexenverfolgungen in massiver Weise einsetzten, die schlimmste Ketzerei und ein Zeichen für Besessenheit vom Teufel, wenn jemand nicht an Hexen glaubte. Hier zeigt sich eine Entsprechung im Denken Hitlers, der ohne allen Sinn für die Realität die Auffassung vertrat, der Jude „begründe(t) die marxistische Lehre“. Es sei daran erinnert, daß die vierzehn Jahre der Weimarer Republik von führenden NS-Ideologen als die Zeit des „Marxismus in Deutschland“ bezeichnet wurden. Wurde von den Autoren des „Hexenhammers“ den Hexen jede nur denkbare Gemeinheit, jede nur vorstellbare Bosheit zugetraut und auf sie zurückgeführt, jedes menschliche Leid als Untat der Hexen eingestuft – etwa Krankheiten, unerwartete Todesfälle usw. -, so argumentierte Hitler mit Blick auf die Juden ähnlich: Er diffamierte alles jüdische als „Pestilenz“ und als „giftige Seuche“ und behauptete, daß durch das Judentum „nur der Wahnsinn zur Wirklichkeit zu werden vermag, niemals die Vernunft“.

Ehrsame Burger

Die lange Zeit vernachlässigte Verarbeitung des Themas „Hexenverfolgungen“, die erst im Laufe der achtziger Jahre durch Publizierung einer Vielzahl von Büchern und Aufsätzen zum Thema korrigiert wurde, hat inzwischen zumindest deutlich werden lassen, daß diese Massenverfolgungen und -hinrichtungen System hatten. Was Walter Mehring –  bereits 1933! – über den „Hexenhammer“-Autor Heinrich Institoris schreibt, klingt heute wie eine nachträgliche Analyse des Terrors und staatlich legitimierten Massenmordes unter Hitler: Es sei „das Martern von Menschen in ein geregeltes System gebracht“ worden, und Institoris sei der „Vorgänger des hygienischen Mords. Die Pedanterie wurde bis zum Exzess betrieben. Denn all diese Henkersknechte waren ja nicht verhungerter, rachedurstiger Pöbel. Ehrsame Bürger waren sie; pflichttreue Schinder, gewissenhafte Akademiker der Bestialität“.

Auch in anderen schriftstellerischen Arbeiten schon zu Beginn seines Exils zeigte Mehring eine große Fähigkeit, die nationalsozialistischen Phrasen und den pathetischen Sprachstil zu entlarven. In dem 1989 erschienenen Sammelband „Zu Hitler fällt mir noch ein Satire als Widerstand“ gehören die Beiträge Mehrings sicherlich zu den interessantesten und wichtigsten Texten, so etwa seine im Jahre 1935 im „Neuen Tage-Buch“ erschienene Version vom Rotkäppchen-Märchen, das er in die Hitlerzeit verlegt und das er angesichts der für die Exilierten bedrückenden Erkenntnis der Unterstützung des Hitler-Staates durch viele Regierungen mit dem bitteren Satz enden läßt: „Und soweit sie nicht gefressen sind, kreditieren sie ihm noch heute.“ Einige Jahre später, im April 1939, veröffentlicht Mehring im „Neuen Tage-Buch“ eine Satire auf die Nazis unter dem Titel „Schema der nächsten tausend Reden“ – auch hier eine inhaltlich und stilistisch glänzende Parodie dessen, was etwa Goebbels regelmäßig von sich gab.

Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde Mehring, der den Nazis 1938 in Wien mit knapper Not entkommen war, in französischen Lagern interniert. Er entkam in die USA und kehrte erst 1953 nach Deutschland zurück. Aber die geringe Bereitschaft zur Aufarbeitung des Hitler-Terrors bei vielen Deutschen und das Gefühl, in diesem Land keine Heimat mehr zu haben, ließ ihn bald in die Schweiz übersiedeln.

Seine Odyssee als Exilant hat er – in Prosa und Versen -in dem Band „Topographie einer Hölle – Reportagen der Unterweltstädte“ dargestellt. Das Manuskript ging allerdings 1976 verloren, konnte jedoch anhand der (meist handschriftlichen) Erstfassung zum Teil rekonstruiert werden und erschien 1979 unter dem letztlich die ganze Problematik umfassenden Titel „Wir müssen weiter“. Es ist ein erschütterndes Dokument über das Schicksal eines Menschen, der permanent mit Blick auf das Schicksal von Freunden Nachrichten erhielt, in denen es hieß: „Verschollen! . . .  Verschleppt! . . . Ermordet!“

Am Ende dieses Lebens stand nicht der Haß, wohl aber die Verbitterung und die Einsamkeit. Am 3. Oktober 1981 stirbt der Dichter in einem Züricher Krankenheim. In seinem Zurückgezogensein wurde am Ende noch einmal das Lebensgefühl des Außenseiters deutlich, der zu Beginn seines schriftstellerischen Schaffens in einem Lied geschrieben hatte: „Doch trat ich außer Reih und Glied -/ ja, dann verzeiht!/ Hier steht ein Mann und singt ein Lied/ zum Trotz – am Rand der Zeit . . . “ 

(Tietze, Ulrich: Außer Reih und Glied – Walter Mehrings Sprachgewalt als Waffe des Gejagten; in: Lutherische Monatshefte H. 4/35. Jg. vom April 1996, S. 24f. Dem Autor vielen Dank für die Rechte, den Text hier veröffentlichen zu können.)

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1936 Brief

Henri Lichtenberger antwortet Mehring in Neuen Tage-Buch

Ein Brief von  Henri Lichtenberger

In Nr. 31 des NTB besprach Walter Mehring das neueste Buch Henri Lichtenbergers, des bedeutenden Germanisten der Sorbonne, in dessen Schule eine ganze Generation von Franzosen über das klassische und moderne Deutschland unterrichtet wurde. Mehring hatte, wie den Lesern erinnerlich sein wird, die Arbeit betrübend einseitig gefunden. Jetzt ist ihm ein Brief des Gelehrten zugegangen, der veröffentlicht zu werden verdient.

Lieber Herr Mehring,
von einer Reise zurückgekehrt, finde ich auf meinem Arbeitstisch den Artikel, den Sie meinem Buche „La Nouvelle Allemagne” gewidmet haben. Er überrascht mich nicht. Während ich das Buch schrieb, hatte ich selbst das Empfinden, dass ich nicht genügend Platz jenen einräumte, die die Opposition gegen Hitlerdeutschland verkörpern. Um „gerecht“ zu sein (wie ich das Wort verstehe), hätte man tatsächlich zwei Bände schreiben müssen: einen über die Legende des Nationalsozialismus, so wie ich es unternommen habe, sie wiederzugeben und darzustellen, – den andern über das Deutschland der Emigration und über jenes Deutschland, das schweigt und wartet. Von diesen beiden Büchern habe ich nur das erste geschrieben, und zwar zunächst, weil mein Werk nicht einen gewissen Umfang überschreiten durfte, sodann aber, weil gerade Hitlerdeutschland bedeutend schwerer für uns Franzosen zu begreifen ist (ich trug Sorge, eine ganze Reihe
von Punkten aufzuzählen, in denen es mir unanwendbar – „inassimilable“ – für uns scheint). So habe ich mir den Anschein gegeben, den Leiden, den Gewissenskonflikten des anderen Deutschlands nicht genügend Rechnung getragen zu haben. Ich begreife, dass man mir das vorwirft. Und Sie haben tausend Mal recht, ein Buch wie: Das Deutsche Volk klagt an” als notwendige Ergänzung zu dem meinen zu bezeichnen.

Bleibt die Frage zu erörtern, ob das meine deswegen als nutzlos oder tendenziös zu gelten hat. Eine tragische Frage, gewiss, und schwer zu lösen! Ist das Hitlertum eine vorübergehende Krise der deutschen Seele, ohne Zukunft? (Und lohnt also aus diesem Grunde nicht der Versuch, es begreifen zu wollen, sondern ist in erster Linie von Bedeutung, es zu bekämpfen?) Oder ist das Hitlertum eine Enthüllung gewisser sehr charakteristischer Züge der deutschen Seele (in welchem Falle es verdiente, studiert und nicht nur widerlegt zu werden) ?

Ich bin pessimistisch genug, mindestens die Möglichkeit der zweiten These in Betracht zu ziehen und zu erweisen, dass, um Deutschland zu kennen, es nicht genügt, Lessing, Goethe und Nietzsche zu kennen, sondern dass es wesentlich ist, auch Wagner und Chamberlain, ja selbst Rosenberg, Schacht und Hitler nicht zu übergehen. …Es handelt sich da nicht um Sympathien, um Wahlverwandtschaften (Sie Wissen sehr gut, auf Welcher›Seite die meinen sind). Die Frage, um die es geht, ist, die Bedeutung eines Faktums abzuschätzen (möge dieses Ihnen nun behagen oder nicht behagen, das spielt keine Rolle).

Habe ich es nötig, Ihnen zu sagen, dass ich es nicht im geringsten bedauern würde, wenn die Ereignisse meinem Pessimismus Unrecht gäben, und wenn meine „objektive“ Studie in einigen Monaten oder einigen Jahren definitiv ungültig geworden wäre?

Mit allerherzlichstem Gedenken
Henri Lichtenberger.
22. Oktober 1936.

(Lichtenberger, Henri: Ein Brief, in: NTB H44/4.Jg. vom 31. 10. 1936; S. 1077.
Henri Lichtenberger bezieht sich auf Mehrings Rezension Die Objektivität (in NTB H. 31/4. Jg. vom 01. 08. 1936, S. 738-740))

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1937 Biografisches Lieder Zeitschriften

„Sturm über Österreich“ verteidigt Mehring 1937

Der „Pressefrieden“

Der im Zusammenhang mit dem 11. Juli vereinbarte Pressefrieden zwischen dein Dritten Reiche und Osterreich hat in den letzten Wochen durch das Verhalten der reichsdeutschen Presse eine schwere Schädigung erlitten. Die reichsdeutsche offizielle Presse und der reichsdeutsche Rundfunk nahmen schließlich unrichtige Nachrichten, die sich in die Wiener Mittags- und Abendpresse eingeschlichen hatten, zum Anlaß, direkte Angriffe gegen die österreichische Bundesregierung zu richten. Die Politische Korrespondenz sah sich schließlich veranlaßt, gegen diese Pressetreiberei Stellung zu nehmen.

Das Kommuniqué hebt hervor, daß die österreichische Regierung, wie der sachliche und ruhige Ton der offiziellen Presse  ja beweise, die Veröffentlichung unwahrer und tendenziöser Nachrichten mißbillige. Gleichzeitig aber wird darauf hingewiesen, daß das österreichische außerordentlich tolerante Presseregime eine direkte Einflußnahme auf Redaktionen nicht zulasse, wie ja das Bestehen gewisser, dem in Österreich bekanntlich verbotenen Nationalsozialismus nahestehender Presseerzeugnisse in·Osterreich zeige. Im Schlußsatz des besagten offiziellen Kommuniqués heißt es, daß Österreich nicht geneigt sei, die ,,betont unfreundliche Haltung der reichsdeutschen Presse, auch zugelassener Blätter, widerspruchslos zur Kenntnis zu nehmen, Einschüchterungsversuchen nachzugehen und einseitige Zugeständnisse zu machen«.

Im ,,Völkischen Beobachter“ vom 17. März erschien im Zusammenhang mit diesem neuerwachten Presseunfrieden ein Artikel, in dem auch die ganze katholische Presse Österreichs mit der ,,jüdischen und Asphaltpresse“ in einen Topf geworfen wurde, um dem österreichischen Katholizismus Volksfronttendenzen zu unterschieben und das deutsche Volk neuerdings gegen Osterreich aufzuhetzen.

Mag nun diese Pressehetze im Dritten Reiche nun daher kommen, daß man fürchtet, in österreichischen Blättern könnten Nachrichten auftauchen und von da aus in die Weltpresse übergehen, deren Verbreitung aus gewissen innenpolitischen Gründen nicht sehr angenehm ist; mag dies ein Einschüchterungversuch sein oder Panik, jedenfalls ist Grund genug vorhanden, daß wir auf diesen Angriff näher eingehen.

Der ,,Völkische Beobachter“ beschäftigt sich nämlich unter anderem auch mit der Redaktion des ,,Sturm über Osterreich“. Unseres Wissens besteht die Redaktion unseres Blattes nur aus einer Person, die auch im Impressum genannt ist. Alle Artikel, die erscheinen, gehen ausschließlich durch die Hand des Verantwortlichen, so daß die Anwürfe des „Völkischen Beobachters“,  die sich mit der Zusammensetzung unserer Redaktion befassen, als gänzlich unwahr zu erkennen sind. Der ,,Völkische Beobachter“ aber schreibt:

,,Ganz ähnlich wie das katholische Wochenblatt »Sturm über Österreich«, in dem der jüdisch-deutsche Emigrant Walter Mehring im trauten Tete-a-tete  mit der emigrierten roten Baronin Scholley sein Gift zu verspritzen pflegt, den Ärger über die scharfe Anprangerung der des Wiener Handels im Blatte der jugoslawischen Gruppe »Zbor« mit der Verleumdunng  Deutschlands abzureagieren suchte, daß dieses mit Hilfe der rollenden Mark den serbischen Chauvinismus gegen Osterreich anfeuere.“

Wir wollen einmal etwas näher an den hier angegebenen Tatbestand in unserer Redaktion eingehen. Gewiß, Herr Walter Mehring ist dem Verantwortlichen voll bekannt. Desgleichen, daß er ein jüdisch-deutscher Emigrant ist. Geschrieben hat er im »Sturm über Österreich« aber nicht. Bekanntlich ist Walter Mehring ein Literat und Chansondichter. Seine Chansons werden jedoch nicht nur in Österreich geschätzt. Einzelne seiner Gedichte, wie zum Beispiel das Lied »In Hamburg an der Elbe«, werden in einem Lokal des Berliner Westens ständig gesungen. Vom »Völkischen Beobachter« wurde es vor ungefähr zwei Jahren als ein Beweis dafür zitiert, wie populär Hamburg in Berlin ist.

Ich selber habe dieses Lied bei SA- und BDM-Gruppenaufmärschen singen hören. Ein anderes Lied ist »Die kleine Stadt«. Der deutsche Rundfunk hat es vor einem Jahre gebracht. Da man sich aber später doch erinnerte, daß der jüdisch-deutsche Emigrant Walter Mehring eben das ist, wozu ihn das Dritte Reich gemacht hat, wurde ihm kein Honorar ausbezahlt. Der »Völkische Beobachter« kann überzeugt sein, daß Walter Mehring, wenn er im »Sturm über Österreich« geschrieben hätte, auch sein Honorar bekommen hätte und darin mag sich die Praxis des »Sturm über Österreich« seinen Mitarbeitern gegenüber von der des deutschen Rundfunks wesentlich unterscheiden. Ein drittes Lied »Die Maschinen« wurde vor zwei oder drei Jahren im Sportpalast gesungen. Auch da blieb das Honorar aus.

Die Leser des »Sturm über Österreich« wissen wie reichlich in diesem Blatte der literarische Teil behandelt ist. Seit seinem Bestand wurde unseres Wissens das einzige »Kloster von Sendomir« von Grillparzer in Fortsetzungen veröffentlicht. Ich glaube auch,  der »Völkische Beobachter«wird sich darüber klar sein, daß diese Novelle von Grillparzer nicht von der »emigrierten roten Baronin Scholley« erworben, sondern einfach aus Grillparzers Werken abgedruckt wurde. Die »emigrierte rote« Baronin Scholley ist uns ebenfalls bekannt. Sie hat eine rein literarische Agentur und beliefert Blätter aller Schattierungen, aber nicht nur in Wien, sondern auch im Dritten Reiche. Sie ist in Linz geboren und nach Wien zuständig, war niemals Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und wir wüßten nicht, welche Artikel oder welche Kurzgeschichte wir von ihr hätten erwerben können, da ja bekanntlich derartiges im »Sturm über Österreich« überhaupt nicht erscheint.

So sehen die Informationen des »Völkischen Beobachters« ans. Wahrscheinlich verhält es sich ebenso mit der Polemik gegen unseren Artikel »Die braune Hetze gegen Osterreichs Export in Jugoslawien«. Der »Völkische Beobachter« beschränkt sich einfach darauf, zu erklären, dass, was wir geschrieben haben, sei nicht wahr. Die Prüfung der Nachricht selbst behält man sich aber in der Redaktion des. »Völkischen Beobachters« offenbar vor und begnügt sich vorläufig mit einer Behauptung.

Jedenfalls hat die deutsche Diplomatische Korrespondenz auf das Kommuniqué der Politischen Korrespondenz den Rückzug angetreten. Sie beklagt sich darüber, dass eine Reihe von innerdeutschen Fragen ständig in polemischer Form und offenbar ,,ohne jede Sorge um die Rückwirkungen“ ausgegriffen werden. Scheinbar meint man im Dritten Reiche mit diesen ,,innerdeutschen Fragen“ die Frage des Katholizismus und da sind wir wohl der Meinung, daß der deutsche Katholizismus nicht nur eine innerdeutsche Frage ist, sondern schließlich und endlich jeden Katholiken interessiert, ob er nun ein Deutscher oder ein Nichtdeutscher ist. Daß aber der Kampf gegen die katholische Kirche zur Grundlage der gesamten deutschen Kulturpolitik geworden ist, ja, daß sich die deutsche Kulturpolitik eigentlich in diesem Kampfe gegen den Katholizismus völlig erschöpft, darüber zu schreiben scheint uns überflüssig.

Das Kommuniqué der Diplomatischen Korrespondenz erklärt weiter, »daß die Sprache der Wiener und der Prager Blätter kaum noch einen Unterschied aufweist«. Es versucht also die Giftmischerei weiterzutreiben und, da es mit der Beschuldigung von Volksfronttendenzen nicht ging, nun eine Verbindung Prag—Wien herzustellen und daraus den Schluß zu ziehen, daß gewisse Kräfte in Osterreich am Werke seien, unsere außenpolitische Linie, wie sie der 11. Juli darstellt, abzubiegen.

Wir sind immer auf dem Standpunkt gestanden, daß der 11. Juli eine rein außenpolitische Angelegenheit sei, ein Abkommen, das den europäischen Frieden und nicht, wie so manche nazistische Auslassungen es gern haben möchten, den Krieg Osterreichs an Seite Deutschlands zum Zwecke hat.

Selbstverständlich schließen wir uns  den Vertragstexten an, die besagen, daß die Achse Berlin—Rom gegen niemand gerichtet ist und daß auf der anderen Seite der Beitritt zu den Römischen Protokollen jedermann offensteht. Dies scheint man in Berlin zu vergessen. In Österreich aber kann es nur eine Meinung geben, nämlich die, daß jede Verbreiterung des bestehenden politischen Systems in Mitteleuropa, die dem Frieden dient, zu begrüßen ist. Damit ändert auch reichsdeutsche Zeitungspolemik nichts und nichts der Wunsch der Deutschen Diplomatischen Korrespondenz, die Leserschaft eines großen Teiles der österreichischen Presse für den beginnenden Kulturkampf im Dritten Reiche günstig zu stimmen.

Ing. Franz Bosch

(Bosch, Franz: Der Pressefrieden; in: Sturm über Österreich Folge 12/5. Jg. vom 28. März 1937, S. 2.)

Die Zeitschrift „Sturm über Österreich war eine Wochenzeitung, die in Wien von Franz Bosch herausgegeben wurde. Sie war das Organ der „Ostmärkischen Sturmscharen„. Deren Ziel war es, die jungen Männer Österreichs im Katholizismus und in einem österreichischen Patriotismus zu erziehen. Ursprünglich waren sie auch bewaffnet, legten diese aber aus freien Stücken nieder, um als reiner Kulturbund weiterzuexistieren. Vom Nationalsozialismus war der katholische Verband nicht infiziert. Im Juli 1936 schlossen das Deutsche Reich und Österreich das sogenannte Juli-Abkommen, in dem sich beide Seiten verpflichteten keinerlei Propaganda im jeweils anderen Land zu betreiben. Kurz vor den Olympischen Spielen war dies für Berlin sinnvoll. Auch, weil die inhaftierten Nationalsozialisten in Österreich amnestiert wurden. (A.O.).

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1927 Prosa Rezensionen Zeitschriften

Essad Bey feiert Algier oder die 13 Oasenwunder

WALTER MEHRING
ALGIER ODER DIE 13 OASENWUNDER
(Verlag „Die Sclımiede“, Berlin)

Algier oder Die 13 Oasenwunder (1925)Es gibt Bücher, die man in einer Nacht, ohne sie aus der Hand zu legen, ausliest und dann irgendeiner Freundin schenkt. Es gibt auch solche, deren Weisheit man in langen Wochen in sich einsaugt, und die man dann im Bücherschrank versteckt , damit sie kein fremdes Auge sieht. Es gibt aber auch Bücher, die man in einer Nacht auslesen möchte,  und die man doch nicht ausliest, weil man sie auch morgen und übermorgen und noch nach drei Tagen lesen will, und die man nie einer Freundin schenken würde.

Ein solches Buch ist „Algier“ von Walter Mehring.

Heutzutage ist es Sitte, daß jeder Europäer, der an einer Cook-Rundreise nach dem Orient
teilnahm und kein literarischer Analphabet ist, ein Buch (und zwar ein schlechtes Buch) über den Orient schreibt. So steht man jeder Neuerscheinung auf diesem Gebiete etwas skeptisch gegenüber: Denn es gibt keinen Orient mehr, oder es ist sehr wenig von ihm übriggeblieben, oder er hat sich verborgen und wird nur den Augen eines Dichters sichtbar; und ein solcher Dichter ist Walter Mehring. Das, was der Reisende in Algier sieht, sind schmutzige Straßen, verlauste Kinder, zerstörte Moscheen, neuerbaute Hotels und kommunistische Flugblätter, die jemand als „Teppich des erwachenden Asiens“ bezeichnete. Das, was Walter Mehring in Algier sah (oder nur fühlte), war nicht nur der Staub von heute, sondern es war auch der Orient, der letzte Fetzen jenes Orients, der einst die Moscheen von Buchara erbaute, auf den Teppichen der Alhambra Verse rezitierte an Lepra erkrankt, und zuletzt das schöne Wort „Backschisch“ erfand. Dabei bleibt Walter Mehring ein moderner Dichter des 20. Jahrhunderts, der seine romantische Pietät gut unter den Schleier des ironischen Lächelns zu verbergen weiß. Er macht das wie Ehrenburg, sein großer russischer Kollege, dem man auch nie die Gedanken ablesen kann.

Wer nie im Orient war, wer von dem Lande des Halbmonds nur träumen kann, der lese
keine Reisebeschreibungen, der lese nicht die Mitteilungen der zahlreichen königlichen und nichtköniglichen Akademien der Wissenschaften, der lese die 13 Oasenwunder von Walter Mehring, denn das, was darin steht, ist nicht nur Algier, sondern das ganze Araberland, von den Bergen des Atlas bis zu den Schneegipfeln des Libanon.

(Essad Bey: Walter Mehring: Algier oder Die 13 Oasenwunder; in: Die literarische Welt, Nr. 22, 1927.)

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1920 Kabarett Lyrik Rezensionen

Ernst Richter feiert Walter Mehrings Debüt

Berlin 1920

Unheimlich wuchtet dieses steinerne Meer in die rote Zeit. Schwingend in Tönen, flutend in elektrischen Farben, berstend von Geräuschen, ah eine dämonische Kulisse, schräg gegen den fahlen Horizont gestellt, in dem ein blauer Mond besoffen taumelt. Harfend der Dichter, auf Stahlsaiten, aufsteigend, Brennendes in sich fressend, Geräusche verschluckend, fürwahr ein Nachtwandler, ein grimmassierender Liebhaber.

Berlin – O magisches Zauberbecken, aus dem Wälder auftauchen, Banken, Bahnhöfe. Paläste, Flüsse, Hochbahnen, Automobile, Luftschiffe, Cadeten, und Bankdirektoren, Proleten, Pfaffen, Spaziergänger, Schauspieler und lachende Mädclıen. O Buntheit des einzigen Augenaufschlags, der das Blut in einem Rhythmus rinnen läßt, in einem neuen frechen Walzer . . .  hörst Du? Schieber, Blut, Strolche, schüttelnde Feldgraue, Hasardeure in allen Farben . . . O, schon steigt der Päan aus Schmutz und Rhythmus, schon steigt er in die Sterne, die großen, betrunkenen, streikfreien Sterne der Weltmetropole, der geeinigten Kommune Groß-Berlin!

Auf dem Bauschutt zerbrochener, zertrümmerter Luftschlösser verbeugt sich der junge Cutaway mit dem spitzen Kopf, der von innerem Aufruhr geschüttelt Coupletverse herausschmettert, wie ein Hahn trompetet, der Wortfetzen von sich schleudert wie ein fanatischer Schwindsüchtiger den letzten Lungenrest – meine Damen und Herren in diesem stilvoll gewobenen Rahmen erlaube ich mir den jungen Diclıter Walther Mehring zu präsentieren, der eine besondere Gattung des politischen Couplets neu belebt, gelvanisiert, schicklich appretiert. Diese Couplets fassen mit spitzen etwas verdorbenen Fingern den kleinen Schaumrest von dem Weltmeer ab, der Berlin sich benennt, pusten ihn auf, größer, magischer, verwester spiegelnd, ein Embryo, riesenhafter Ballon, eine Nachtvisioıı mit Schatten, Gespenstern, spiegelnden Erlebnissen – und davon lebt das nun, dieser junge Dichter. Eine chemische Reinigung seines Vorbestellungsbestandes würde ergeben, daß er Mietherr im Kaschemmenviertel ist – aber das lassen wir wohl bleiben, das wollen wir wohl nicht: wir wollen die Romantik der allerrealsten Ereignisse, wir wollen den Dreck und das Brecheisen, das Polizeipräsidium und – natürlich – das Gleisdreieck.

Parbleu, dieses Berlin ist eine ganz neue Erfindung, letzte Neuheit nach dem letzten Streik, vornehmster neuzeitlicher Dessin, in einer halbseidenen Schieberdestille verstohlen herumgereicht. Das ist unser Berlin, in dem wir den Bolschewismus bekämpfen, mit roten Fahnen immer an die Wand lang für die Weltrevolution demonstrieren, Kinos besuchen, das schlankste Füßchen und die dickste Taille prämiieren – o Du herrliche Stadt mit der Sicherheitspolizei, Nachtlokalaushebungen, Schönheitstänzen und es lebe das natura Ballett! Das Alles, meine Damen und Herren, finden Sie bei Waltlıer Mehring. Nur, verstehen wir uns recht, nicht den Worten und Begriffen nach – das bringt die erste beste Lokalzeitung besser: 0 nein, keineswegs, vielmehr als Vorstellung ungewissester und doch präzisester Art, als schaukelnder Klangfetzen, zerbrochener Rhythmus, eckiger Schrei, als nachgeschleudertes Wort, als Vokalkette, als Konsonantencascade – lesen Sie sich das laut vor, meine Herrschaften, es ist einfach der gute Ton, über das Berlin von 1910 unterrichtet zu sein.

Wirkliclı: mein ganzes literarisches Milieu stimmt mich zur Seelenmanicure: hüten Sie sich vor der Rückständigkeit. Dadaistische Ausstellungen besuchen, ein bischen in expressionistische Filme gehen, der Consum des Großen Schauspielhauses, die Lektüre der Roten Fahne – gewiß, das ist alles schon sehr schön, aber fördert wirklich nicht
llıren seelischen Stoffwechsel wie es die Hygiene verlangt. Tun Sie etwas für Ihr darbendes Gehirn. Füttern Sie es mit Melıring. Sie werden begeistert sein von einer neuartigen, entscheidenden Reinigung der Gehirnbahnen. Sie werden den Kurfürstendamm und die lnvalidenstraße, Altmoabit und Bahnhof Alexanderplatz mit neueroberten seelischen Kräften erleben, die Sie selbst überraschen. Was ist Kola-Dultz, was ist Yohimbim dagegen! Versuchen Sie es! Vollziehen Sie Ihre innere Revolution! Man weiß ja nicht, was mit Berlin passiert! Man muß fest auf seinen Beinen stehen, muß auf Alles gefaßt sein, was ein sozialistischer Magistrat in die Welt befördert, muß nicht erschreckt sein, wenn der Magistrat morgen mit schwarzweißroten Fähnchen durch die Friedrichstraße zieht. Verschaffen Sie sich unter allen Umständen einen archimedischen Punkt, einen topographisch sicheren Standort in der geistigen Siedlungsfläche Großberlins. Eine
ernste Lektüre der Mehringschen Couplets bewerte ich wie sieben halbtiefe Kniebeugen. Gehen Sie an die Arbeit.

(Richter, Ernst: Berlin 1920; in: Schall und Rauch, 1. Jg/Nr. 2 vom Oktober 1920; S. 1 f.
Diese Rezension ist einer der ersten Texte, der über ein Buch Walter Mehrings erschienen ist. )

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2013 Biografisches

Gabriel Heim erinnert sich an Besuche Mehrings in Zürich

Gabriel Heim: Ich will keine Blaubeertorte, ich will rausIn den ersten Jahren hat Ilse oft Besuch von Freundinnen und alten Kollegen aus Berlin, die am Schauspielhaus gastieren oder auf der Durchreise sind. (…) Zu ihnen gehört Walter Mehring. Er besucht llse immer am späten Nachmittag und bleibt zum Abendessen. Er kann wunderbar berlinern, und nie habe ich seine Geschichten aus der großen Stadt mit den vielen Lichtern und Theatern satt. Ich frage ihn ein Loch in den Bauch nach Nollendorfplatz und Bahnhof Zoo, nach Molle und Bolle. Ich bettele darum, und er rührt mich. Schon als Kind entwickele ich eine Ahnung davon, dass Walter und llse, dass Onkel Hans und Tante „Putz“ und auch Emil und Gustav mit der Hupe und selbst der Ganove Grundeis ihre aufregende Welt, in der sie so viel erleben und in der sie zu Hause sind, verloren hatten. Es musste ganz wunderbar gewesen sein dort (…). So möblieren alle Besucher in Ilses Wohnung ihre Erinnerungen. Ihre Bilder werden mir zu Räumen, zu Straßen, zu einem rasend rieselnden Kaleidoskop Voller Lärm und Neon. Es wird so mächtig, dass ich als kleiner Junge fast jede Nacht von dieser rauschhaften Stadt träume und am Tag gar nicht verstehen kann, warum Ilse und Walter und die vielen anderen nicht dort leben und noch immer dort sind, statt sich am stillen, eintönigen Waldrand über Zürich gemeinsam danach zu sehnen.

Mehring ist ein raffinierter Spötter und sarkastischer Charmeur. Für ihn ist Ilse immer noch die zwanzigjährige Schauspielerin, mit der er vom Kakadu aus in die Nächte zieht, die bei Tagesanbruch Mampe und Prärieauster schlürft und Stullen mampft und im Lehen wie im Rollenfach gern die Lulu von Wedekind gibt. Ilse mag dieses Spiel, denn es handelt von den guten Erinnerungen. Wenn ich aber frage, warum wir alle nicht mehr dort sind und warum ich nicht dort zur Schule gehen darf, wo es doch so viel zu sehen und immer wieder davon zu erzählen gibt, da bekomme ich kaum eine Antwort, allenfalls knapp: »Du sollst dem lieben Gott danken, dass du damals nicht auf der Welt warst. (…)

Mehring trägt notorisch Bücher in seinen ausgebeulten Jackentaschen herum, und in jeder freien Minute, wenn Ilse kurz zur Küche geht oder das Telefon klingelt, greift er nach einem Bändchen und versinkt in dem grünen Sofa. Ich mag Walter gern, denn er ist nicht viel größer als ich, hat flinke Augen, kleine Händchen mit Spindelfingern und ist schlagfertig. Mit fünf oder sechs Jahren fordere ich ihn ernsthaft zu Boxkämpfen heraus. Er nimmt an, und viele Jahre lang fighten wir bei jedem seiner Besuche im langen Flur der Wohnung verbissen miteinander. Als ich stärker werde und Walter immer mehr schrumpft, ist Schluss damit. Er ruft mich zu seinem Meister aller Klassen aus, und als ich zwölf werde, schenkt er mir ein signiertes Bändchen seines Ketzerbreviers: „Für Gabriel, den jungen – Engel – von dem greisen >Dichter< Walter.“ Ilse freut sich immer auf Mehrings Besuche. Ich spüre, dass die beiden viel Gemeinsames miteinander gehabt haben, so wie ich sie in ihre verlorene Zeit schlüpfen sehe.

Meist, aber besonders wenn Besuch da ist, werde ich früh ins Bett geschickt. Mehrings schnarrende und durchdringende Stimme und llses helles Lachen dringen bis spät in mein Zimmer.

(Gabriel Heim: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus – Eine Mutterliebe in Briefen; Berlin: Quadriga Verlag 2013, S. 16ff.

Gabriel Heim ist 1950 als Sohn von Ilse Heim-Winter in Zürich geboren. In seinem Buch verarbeitet er die nie erzählte jüdische Familiengeschichte seiner Mutter, die als junge Schauspielerin schon 1933 Berlin verlassen hatte. Ihre Mutter aber blieb in der Stadt und hoffte sehr lange, dass es ein Leben in Berlin noch möglich wäre. Später hoffte sie auf eine legale Ausreise. All das ist in Briefen festgehalten, die Gabriel Heim hinter Büchern entdeckte. Dabei schildert er sowohl das Leben von Mutter Ilse als auch das seiner Großmutter und weiterer Familienmitglieder, die rechtzeitig nach Palästina oder in die USA auswanderten. Mit Walter Mehring verband Ilse das Zusammenleben in den ersten beiden Exiljahren in Paris. Und eine lebenslange Freundschaft. (A.O.))  

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1941 1942 Biografisches Brief

Thomas Mann setzt sich für Mehring und Kollegen ein

An Louis B. Mayer                                                                               Pacific Palisades, California
740 Amalfi Drive
[Oktober 1941]

Dear Mr. Mayer:
Es ist nicht meine Gewohnheit, mich in Angelegenheiten einzumischen, die mich nicht unmittelbar angehen; dennoch möchte ich mir die Freiheit nehmen, Ihnen eine Sache, die mir am Herzen liegt, und mir, wie vielen anderen wohlwollenden Leuten Sorge macht, vertrauensvoll vorzutragen.
Es war eines cler schönsten und verdienstlichsten Vorkommnisse während der letzten turbulenten und so viel Leben und Glück zerstörenden Jahre, ein Vorkommnis, das gewiß niemals vergessen werden wircl, wenn man die phantastische Geschichte der Auswanderung cler europäischen Kultur erzählt, daß zwei große Filmgesellschaften in  Hollywood sich entschlossen, einer Reihe von deutschen und österreichischen Schriftstellern Notverträge zu geben, die diese Männer nicht nur in den Stand setzten, in die Vereinigten Staaten einzuwandern, sondern ihnen auch, wenigstens für eine gewisse Frist, die Grundlage ihrer Existenz sicherten. Der Übersichtlichkeit wegen setze ich Ihnen hier die Namen der fünf Autoren auf, deren sich M.G. M. in so generöser Weise angenommen hat, und füge die Anfangs- und Enddaten ihrer Verträge hinzu.

Alfred Döblin 8. Oktober 1940 – 7. Oktober 1941
Alfred Polgar 24. Oktober 1940 – 23. Oktober 1941
Hans Lustig 10. Dezember 1940 ~ 9. Dezember 1941
Wilhelm Speyer 1o. März 1940 – 9. März 1942
Walter Mehring 5. April 1941 ~ 4. April 1942

Vielleicht darf man sagen, daß der Vorteil des Abkommens zwischen M.G.M. und diesen Schriftstellern nicht ganz allein auf Seiten der Letzteren war. Tatsächlich kann man nicht nur von einem gewissen ideologischen Gewinn sprechen, den die Firma dadurch hatte, daß sie diese angesehenen europäischen Namen mit dem ihren verband, sondern auch rein praktisch ist zum Mindesten in mehreren Fällen ein entschiedener Nutzen für die Studios der M. G. M. zu buchen.
Man versichert mir. daß zum Beispiel. Hans Lustig sich als ein wirklich wertvoller Writer erwiesen hat, und ich weiß, daß Gottfried Reinhardt und Sam Berman Alfred Polgar sehr warm empfehlen und zwar auf Grund seiner besonderen dialogischen Begabung, die er speziell bei der Mitarbeit am letzten Garbo-Film bewährte.
Was Döblin betrifft, so hat cr soeben eine story eingereicht, die bei Mr. Keneth McKenna großes Gefallen gefunden hat. Es ist Döblin ein American „Junior“ Writer zur Seite  gegeben worden, um seine story zu entwickeln. Auch in diesem Fall also hat sich bereits der Wert des Engagements für die Firma erwiesen.
Ich erwähne diese Dinge, die Sie wahrscheinlich so gut wissen wie ich, nur, um dem Vorwurf zuvorzukomınen, der der Firma gemacht werden könnte, wenn Sie den Kontrakt mit den Refugee-Schriftstellern erneuerte: daß nämlich fruchtloses Geld nur zu humanitären Zwecken ausgegeben werde. Und damit habe ich den Wunsch und die Bitte ausgesprochen, die mich und nicht nur mich allein bewegen. Die Zukunft dieser Männer, die in Europa sich durch ihre Schriften Ansehen und Lebensunterhalt erworben haben, macht uns Sorge, und meine, unsere Bitte an Sie, dear Mr. Mayer, geht dahin, Sie möchten das ausschlaggebende Gewicht Ihres Einflusses in die Wagschale werfen, um ein Engagement der genannten Schriftsteller für ein weiteres Jahr zu bewirken. In diesem Jahr kann sich viel ändern, und aus dem Wechsel der politischen Lage können sich neue Wirkungs- und Verdienstmöglichkeiten für die Refugees ergeben. Wenn M.G.M. bis dahin die Verbindung mit ihnen aufrecht erhält, so wäre das zweifellos von jedem Gesichtspunkt aus und vor jeder Kritik zu rechtfertigen. Denn erstens ist mit Bestimmtheit zu hoffen, daß auch Schriftsteller wie Speyer und Mehring sich mit der Zeit dem Studio wertvoll zu machen wissen werden, und zweitens scheint mir keine Frage, daß das Gehalt für einen Mitarbeiter wie Hans Lustig, wenn er nicht auf einen Refugee-Vertrag gekommen wäre, sich so viel höher belaufen würde, als es tatsächlich ist, daß er für mehrere Kollegen mitaufkommt.
Ich möchte noch etwas erwähnen. Zeitweise hörte man, daß die Screen Writers Guild dem Engagement der ausländischen Autoren opposed sei. Dies hat sich als ein vollkommener Irrtum erwiesen. Mir liegt ein Schreiben des Mr. Sheridan Gibney vor, in dem er ausspricht, daß »our organization is open to Writers of all nationalities who seek employment in the motion picture industry. We welcome new talent which scrves to enrich the industry and would consider it highly improper if the Guild should discourage the employment of any of its members for other than lawful or contractual reasons.«
Lassen Sie mich zusaniınenfassen: durch Ihr Eintreten für ein Wiederengagement der Refugee Writer würden Sie Männern einen unschätzbaren Dienst leisten, die im Kulturleben unserer Zeit eine ehrenvolle Rolle gespielt haben und mutmaßlich wieder werden spielen können, wenn man ihnen über diese kritische Zeit hinweghilft, und ich würde den Entschluß dazu sowohl für menschlich schön und dankenswert, als auch für klug halten. Denn das Wenigste, was man sagen kann, ist, daß er der Gesellschaft nicht zum Schaden gereichen würde.
Verzeihen Sie mir den Freimut dieser Worte, aber ich hielt es für meine Pflicht, für diese gefährdeten Kollegen mich einzusetzen und sie Ihrem weitbekannten Wohlwollen zu empfehlen.
Ihr sehr ergebener
Thomas Mann

Ich wäre jederzeit bereit Sie zusanımcn mit Mrs. Dieterle, die sich dieser Sache annimmt , aufzusuchen, wenn Ihnen an einer mündlichen Besprechung gelegen ist.

(Thomas Mann: Briefe 1937 – 1947; Frankfurt (Main): S. Fischer 1963, S.211 ff.)

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2015 Dramatisches Linksammlung

Sven j. Olsson dokumentiert sein aktuelles Mehring-Projekt

Den Roman „Müller – Chronik einer deutschen Sippe“ hat Sven j. Olsson schon in eine Bühnenfassung gebracht. Jetzt arbeitet der Hamburger Autor und Dramaturg an einem neuen Walter-Mehring-Projekt. Er will „Die verlorene Bibliothek“ auf die Bühne bringen. Angesichts eines Textes, der sich vor allem mit der Gedankenwelt Mehrings und seinem kulturellen Fundament auseinandersetzt, ist dies ein spannendes Projekt.

Sven j. Olsson will mit seinem Arbeitsjournal sicherlich auch in den Dialog mit den Lesern seines Blogs eintreten. Auch um dies zu befördern, ist ab sofort in der rechten Navigation dieser Seite der rss-Feed des Arbeitsjournals von Olsson eingebunden. Die Leser dieser Seite können dann mit einem Klick auf die von Olsson gelangen. Die URL der Seite lautet: http://www.merin.de

Schon die ersten Beiträge zeigen, dass sich der Autor nicht nur mit Walter Mehring auseinadersetzt. Vielmehr stellt er auch potenzielle Szenen seines entstehenden Stücks online. Ein spannender Blick in die Werkstatt also, der regelmäßig erneuert werden sollte.

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2015 Lieder Lyrik

Mehrings Gedichte neu zu haben: Dass diese Zeit uns wieder singen lehre

Walter Mehring: Dass diese Zeit uns wieder singen lehreGut 35 Jahre nach der Sammlung der Gedichte Walter Mehrings in der Werkausgabe ist jetzt eine neue Zusammenstellung der wohl wichtigsten lyrischen Texte neu erschienen. Martin Dreyfus hat die Auswahl im Zürcher Elster-Verlag übernommen und ein sehr knappes Nachwort zur Einordnung verfasst. „Dass diese Zeit uns wieder singen lehre“ heißt der 208 Seiten starke Band.

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1998 Wissenschaft

Bettina Widner untersucht in ihrer Dissertation „Müller“

„Walter Mehring ist einer der sprachmächtigen Lyriker, Satiriker und Poeten der Weimarer Republik. Kurt Tucholsky beschreibt die Denkart Mehrings:

Wenn wirklich Philosophie, Ablehnung aller Metaphysik,
schärfste und rüdeste Weltbejahung einen Straßensänger
gefunden haben, der das alles in den Fingerspitzen hat, […]
wenn die neue Zeit einen neuen Dichter hervorgebracht hat:
hier ist er.

Das Werk Mehrings genießt während der Zwanzigerjahre Ansehen, 1933 folgt der Sturz in die Bedeutungslosigkeit. Der von Mehring lange prophezeite Siegeszug des NS und das Leben im Exil zerbrechen ihn192. Nach dem Krieg fasst er in Deutschland nicht mehr Fuß. Zu behaupten, Mehring habe schreibend „nicht die Wirklichkeit im Kopf, sondern die Wahrheit, seine Wahrheit, die Wahrheit des Dichters“, trifft zwar die ihm eigene Fabulierlust, ist aber vereinfachend. In „Opposition zu allen bestehenden Produktions- und Lebensformen“ trotzt Mehring zeitlebens gegen Monarchie und Militarismus, Justiz,
Kirche. Nach Meinung Frithjof Trapps beschreiben Mehrings Texte ein

„Höllensystem“, das Bezug nimmt auf das, was anderen „heilige Werte“ sind – Werte, die dem Satiriker selber, wie er sagt, „zuwider“ sind. Man kann auch sagen: Mehrings Welt, die er in unzähligen Texten nachzeichnet, ist nichts anderes als eine „Topographie der Hölle“, ein Bild der Gegenwart – und der Geschichte – im Spiegel endlos sich variierender Höllenvorstellungen. Mehring selber ist Insasse der von ihm beschriebenen „Hölle“: verdammt, schon zu Lebzeiten in der „Hölle“ zu leben und sie unter ständigem Zwang zu beschreiben.

Diese Charakterisierung scheint mir unter zwei Aspekten treffend zu sein. Die Empörung des Satirikers Mehring entzündet sich an einer ungenügenden Realität, sie schürt einen beinah ,heiligen‘ Hass, der während der Weimarer Jahre zu einer Existenzform gerinnt. Hier keimt der verbitterte Enthusiasmus späterer Jahre. Mehrings Texte betreiben Bilderstürmerei, doch zehren sie auch von den gestürzten Ikonen – der „Häretiker“ Mehring schöpft aus der Gewalt und der Macht herrschender Lehre: „Jeder Staat ist eine legalisierte Interessengemeinheit, die sich gegen das Individuum verschworen hat.“ <SN: 220> Der Radikaldemokrat Mehring wird nicht müde, den bürgerlichindividuellen Anspruch auf ein angemessenes Leben in Freiheit zu bekräftigen. Oder, um das Diktum Karl Kraus’ abzuwandeln, zu Hitler ist Mehring meistens etwas eingefallen.

1924 greift Walter Mehring über profan weltliche Bilder hinaus und lotet die „Topographie der Hölle“ (Trapp) aus. Daß solche Transzendenz wenig geeignet scheint im Kampf gegen die Nazis, wird Mehring spätestens im Exil bewusst. Der 1934 erschienene Gedichtband Und Euch zum Trotz wünscht sich die Aggressivität eines radikal diesseitig denkenden Satirikers zurück:

Daß diese Zeit uns wieder singen lehre
Die guten Lieder eines bösen Spotts
– Selbst wenn uns Herz und Sinn danach nicht wäre –
Nur Euch zum Trotz!
(Nur Euch zum Trotz …!) <SN: 15>

Der Roman Müller: Chronik einer deutschen Sippe (1935) mobilisiert noch einmal das hergebrachte Kompendium Mehringscher Satire und attackiert den „ewigen Spießer“. In dessen Spielarten „von Rechts bis Links“ <VB: 23>, erkennt Mehring seinen „wichtigsten Feind“. Der Dadaist und Anarchist Mehring erschafft in der Figur des Spießers und Untertanen ein negatives Abbild seiner selbst. Ausgangspunkt und Projektionsfläche seines satirischen Tadels sind nicht Machthaber – die in den Augen Mehrings unbelehrbar sind –, es sind die kleinen Leute. Mehring hält das épater le bourgeois für eine Verteidigung aufklärerischer Bürgerlichkeit am Leben. Unter dem Titel: „Vernunft: Knockout!“ markiert Mehring 1929 die Grenzen literarischen Protests: „Eins in die Fresse! ist ein Argument, / das ein Jahrtausend Weisheit überrennt“ <CL: 323>. Die Ratio, so Mehring, ist der Gewalt schutzlos preisgegeben und muß dem braunen Terror weichen. Mehring nimmt den Geistesschaffenden jede Illusion gegenüber dem nahen Ende der Republik – und der eigenen Rolle im Geschehen:

Nach dem Rezept von Euren Denkernächten / streng theoretisch
hat man Blut verspritzt! Ja glaubt Ihr denn, daß man
ein Leben schone, / Weil einer ein Atom zerspalten hat? /
Man nützt es auch! Doch glaubt: es geht auch ohne, / Und
ohne Denken wär die Rechnung glatt. <CL: 323>

Die Intellektuellen jener Jahre tragen, so Mehring, an einer doppelten Bürde: Sie sollen sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stellen und gleichzeitig der Erkenntnis beugen, dass sie der Mahlstrom der Realpolitik mundtot macht. Im Licht einer beispiellos rohen Zukunft wirkt die Vergangenheit kostbar, als ein Jahrtausend „Weisheit“, das es, als vergangenes, zu verteidigen gilt. Das Aufkommen und die Existenz der Nazibewegung als „Nichtdenken“, als „Irratio“ abzutun, hat Folgen: Daß Mehring die Vergangenheit adoriert, ist für einen inkonzilianten Satiriker ein denkbar ausgefallenes Geschäft. Die hergebrachte Geist-Macht-Antinomie greift nicht mehr.

Die Faktizität des Jahres 1933 setzt einen weiteren Akzent:

Diejenigen Autoren, die ihrer Zeit einen Spiegel vorgehalten hatten, damit diese sich in dem geschärften Abbild, das der Spiegel wiedergab, besser erkennen konnten – sie mußten einsehen, daß das satirische Zerrbild die Welt in Wahrheit geschönt hatte. Was vor 1933 Übertreibung gewesen zu sein schien, erwies sich nach 1933 als Untertreibung. <Trapp, S. 19>

Mit dem Müller–Roman betätigt sich Mehring als Chronist und schreibt eine zweitausendjährige Vergangenheit unter der Maßgabe der Nazigegenwart um. Der Satiriker erneuert damit seine Aufgabe zu übertreiben – indem er untertreibt. Die deutsche Geschichte wird dargestellt als eine unübersehbar lange Abfolge von Zufall und Unglück, die Diktatur scheint jetzt nur ein episodischer Nullpunkt historischer Entwicklungen zu sein.

Auch der Beitritt zum „Bund Freie Presse und Literatur“ im Jahr 1937 öffnet dem polarisierenden Mehring keine Tore. Der Bund tritt gegen die herrschenden Kräfte des NS-Exils an, vor allem den kommunistisch dominierten „Schutzverband Deutscher Schriftsteller“.

Das Selbstwertgefühl Mehrings versiegt mit den Jahren im Exil. So soll die Empfängerin der 1941 beendeten Briefe aus der Mitternacht mehr als das Verlangen nach ihrer Nähe stillen; die Projektion ihres Gegenübers stählt die auktoriale Existenz und beglaubigt das im Umhergetriebensein gefährdete Ich des Dichters. Der Eros soll hier Wunderheiler
sein vom „Herzasthma des Exils“ (Thomas Mann). Walter Mehring ruft sich eigene Versäumnisse in Erinnerung. Gesellschaftliche Visionen hätten vor allem dem Hochgefühl des Weltverbesserers selbst gegolten:

Zur Freiheit! Edel war der Rausch … / Was aber gaben wir in
Tausch? / Zu Menschenrechten! Selbst: Zu Gott! / Das letzte
Wort sprach das Schafott! / So haben wir mit Feur und
Schwert / … niemals geliebt, nur … stets bekehrt – […] <KB: 154>

Bedauernd konstatiert Mehrung, hinter der Fahne des Fortschritts sei so oft die Inquisition marschiert. Mehring betrauert auch das versunkene „Ithaka“ <BA: 180>: Der Tod der Boheme-Freunde löscht die geistige Heimat Mehrings aus.

Elende Jahre in den Vereinigten Staaten verstören Mehring. 1951 legt er noch einmal ein Buch, Die verlorene Bibliothek: Autobiographie einer Kultur, vor. Dass er die väterliche Buchsammlung zurücklassen musste, machte den Flüchtling wehrlos:

Ich ließ den Schutzwall hinter mir, den einst mein Vater mir errichtet hatte – aus Tausenden von Bänden –, jeder ein Anathema seiner weißen Aufklärungsmagie, kraft der er, der fortschrittsgläubige Atheist, sich gegen die Rückfälle ins Werwolftum gefeit geglaubt hatte. <VL: 19>

Die historische Faktizität der deutschen Diktatur steckt die „Grenzen der Aufklärung“ (Detlev Claussen) ab, läßt den Aufklärer im Nachhinein erscheinen als ein Phantast im Harnisch von Büchern, abgeschirmt von gesellschaftlicher Realität. Sich vor diesem Hintergrund des geistigen Erbes nicht mehr versichern zu können heißt für Mehring, ganz und gar entwurzelt zu sein.

Mehring verstummt in den Jahren nach dem Krieg. Wie die anderen untersuchten Satiriker findet er sich in Deutschland nicht mehr zurecht. Er ist vergessen. 1978, drei Jahre vor seinem Tod, beginnt der Claassen Verlag die Edition der Werke Walter Mehrings.“

(Bettina Widner: Die Stunde des Untertanen – Ein Untersuchung zu satirischen Romanen des NS-Exils am Beispiel von Irmgard Keun, Walter Mehring und Klaus Mann; Berlin: FU-Dissertationen 2001; Anmerkungen und Nachweise finden sich in den PDF-Dokumenten, die auf dem Server der Freien Universität liegen. Der Link zu dieser PassageDie vollständige Dissertation aus dem Jahr 2001 auf dem Server der Freien Universität Berlin)