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1975 Brief

Mehring bittet Hans Bender um Antwort

München, den 7.4.75

Verehrter Hans Bender,

Volker Neuhaus (Hg.): Briefe an Hans Bender»Sie wissen«, schrieben Sie mir – am 1. Februar – »daß ich demnächst in »Akzente« einen Aufsatz von Dr. Dencker veröffentliche …« = Wissen möchte ich doch gern, was daraus – ob etwas daraus geworden ist-?- Denn Dr. Dencker, der in vielen anderen Aufsätzen mich betreut hat, hat diesmal nichts von sich hören lassen =

Sie wünschten, daß – – – »als neuer Text … am besten etwas Autobiographisches hinzukäme …« Ich sandte Ihnen Dokumentarisches, das zuverlässiger ist, als jede Selbstdarstellung = zu Ihrer Auswahl … Doch bestätigt haben Sie es mir nicht … es auch nicht abgelehnt – – – Ein paar Zeilen wäre es wohl wert gewesen – – –

Mit besten Grüßen
Ihr
Walter Mehring

P. S. zu Ihrem Brief: »… vor 3 Jahren nach meiner Müller-Rezension in der WELTWOCHE …«
= eben erhielt ich die Abrechnung des Fackelträger-Verlages: = »seit 1974 … kein Absatz…«

Volker Neuhaus (Hg.): Briefe an Hans Bender; Köln: Kulturkreis der Deutschen Industrie e.V. 1984; S. 167

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1930 Prosa Zeitschriften

Mehring schreibt über den „Krach“ im „Uhu“

"Krach" im Uhu

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"Krach" im Uhu

Krach; in: Der Uhu H. 6 vom März 1930; 6. Jg. 1929/30; S. 49 ff.

 

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1937 1958 Biografisches Brief

Erich Kästner erinnert sich an ein Treffen mit Mehring 1937

AN TRAUGOTT KRISCHKE

München, den 1. 2. 58

Sehr geehrter Herr Krischke,
besten Dank für Ihren Brief vom 24. 1.

Daß Sie so vielseitig über Horváth arbeiten, ist zweifellos sehr verdienstlich und auch nach meiner Meinung durchaus angebracht. In den zwanziger Jahren, als er in Berlin war und als dort seine Stücke »Geschichten aus dem Wiener Wald« und »Kasimir und Karoline« gespielt wurden, trafen wir einander, wenn auch nicht regelmässig, so doch gar nicht so selten. Das war weiter kein Wunder, denn beispielsweise in dem Künstlerlokal Schwannecke traf »man« sich sowieso. Er war nicht nur ein hochbegabter, sondern auch ein geselliger und ungewöhnlich sympathischer Kollege, der auf dem besten Wege war, etwa in Zuckmayers Richtung Ruhm zu ernten. Von Zuckmayer unterschied ihn – ob das mit seiner ungarischen Herkunft zusammenhängt oder nicht, weiß ich nicht – eine spürbare Hintergründigkeit, die er doch, ohne Geheimnistuerei, in scheinbar nur vordergründigem Dialog zu plazieren wußte. Ausserdem war er, wohl auch, wieder Verglichen mit Zuckmayer, weniger optimistisch als dieser. Gerade die Geschichten aus dem Wiener Wald sind ja ein hervorragendes Beispiel für seine durch Humor gemilderte Menschenverachtung.
Als ich ihn 1937 traf – und ich traf ja damals ausser ihm auch Walter Mehring, Walter Trier und andere Emigranten – waren wir wiederum des öfteren zusammen. Ich erinnere mich noch gut, wie erschrocken er war, als er hörte, daß ich wieder ins Dritte Reich zurückführe, und er hielt diesen Plan für lebensgefährlich. Als ich dann von seinem merkwürdigen Ende erfuhr, erinnerte ich mich begreiflicherweise dieses Gesprächs sehr deutlich. Über die Datierung seiner Arbeiten und ähnliches kann ich Ihnen kaum Auskunft geben. Das dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, daß wir (…) zwar fleissig über Literatur sprachen, aber eigentlich nicht so sehr über unsere eigenen Pläne. Ich weiß, daß ich Ihnen mit diesen wenigen Zeilen keine sonderlich zweckdienlichen Angaben machen kann, wollte aber doch, so gut ich es eben kann, Ihrer Bitte entsprechen.
Mit den besten Grüssen und Wünschen für Ihre Arbeit
Ihr
Erich Kästner: Dieses Na ja!, wenn man das nicht hätte! – Ausgewähle Briefe von 1909 bis 1972 (Hg. v. Sven Hanuschek) Zürich: Atrium Verlag 2003, S. 168)

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Brief Prosa

Mehring bedankt sich bei Hans Bender für eine Rezension von „Müller“

Zürich, 9. 8. 72

Verehrter Herr Hans Bender,

besten Dank für Ihre Besprechung [laudatio] der MÜLLER-Chronik – eine der wenigen, die erschienen sind – im Gegensatz zu denen anläßlich der Wiener Erstausgabe [1934] – e.g. »Völkischer Beobacher« – »Der Angriff« ganzseitig; Dr.J.Goebbels; »An den Galgen« – »DER STÜRMER« – Steckbrief mit Photo = etc…

Die »MÜLLER-Chronik« war eigentlich ein Nebenwerk – ein »Pamphlet« – eine Sprachstudie = Der zweite Teil: »DIE ITZIGS« [von den, aus dem Maria-Theresia-Österreich nach Preußen exilierten,Juden bis zu dem letzten ,A.A. Hitler-Diplomaten‘ – ,von Hitzig‘] ging nach dem »Anschluß der Ostmark an’s Groß-Deutsche Reich« – samt anderen Manuscripten … und mir … verschollen = u.a. =

Es würde mich freuen, Sie einmal zu treffen [in der »Kronenhalle« – nachmittags – an meinem solitären Stammtisch] =

Ihr
ergebener
Walter Mehring

N. B. »Die Aufmerksamkeit nimmt zu, je mehr die Beschreibung unserem jahrhundert sich nähert = Mehring [muß … dann nicht gelesene Historie rapportieren … die altertümelnd sein will…« Aber alle Zitate – vom Mittelalter bis in die Fridericus-REX-epoche – bis 1848 – sind original…

Volker Neuhaus (Hg.): Briefe an Hans Bender; Köln: Kulturkreis der Deutschen Industrie e.V. 1984; S. 139

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1931 Lyrik Zeichnungen Zeitschriften

Vier Künstler verfolgen zwei Damen im Bois de Boulogne – im „Uhu“

Uhu: Vier Künstler verfolgen zwei Damen im Bois de Boulogne

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Uhu: Vier Künstler verfolgen zwei Damen im Bois de Boulogne

Im Jahr 1931 hatte die Redaktion des „Uhu“ eine schöne Idee. Lyriker sollten nach Bildern dichten und Karikaturisten nach Gedichten zeichnen. Heraus kam eine Stafette über eine Foto aus dem Bois de Boulogne von 1912.

„Dieses Foto gaben wir den dem Satirker Walter Melıring mit der Bitte, uns ein recht hübsclıes Gedicht dazu zu machen. Walter Mehrings Verse gaben wir dann an unsern Zeiclıner Horst v. Moellendorff mit der Bitte, uns eine recht hübsche Zeichnung dazu zu machen. Die Zeichnung von Horst v. Moellendorff gaben wir dann an den Lyriker Max Hermann-Neiße mit der Bitte, uns ein recht hübsches Gedicht dazu zu machen. Das
Gedicht von Max Hermann-Neiße gaben wir dann an unsern Mitarbeiter Otto Schmalhausen mit der Bitte, uns eine recht hübsche Zeichnung dazu zu machen. Jeder hat also nur die Arbeit seines Vorgängers als Anregung gehabt. Diese bunte Kette zeigt, wie – gleich einer Anekdote, die von Mund zu Mund  wandert – ein so eiııfacher Vorgang bei der Weitergabe durch Auffassung, Temperament und Ausdrucksmittel verändert wird.“

Uhu Nr. 7, 1930/31, H. 6; S. 31 ff.

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1984 Wissenschaft

Michael Bauer zweifelt an Mehrings Erinnerungen an Oskar Panizza

Michael Bauer: Oskar Panizza
Sechs Jahre nach Kriegsende erschien in den USA Walter Mehrings »The Lost Library«. Ein Kapitel darin war dem »Liebeskonzil« und seinem Verfasser gewidmet. Neben einigen lesenswerten Betrachtungen zur »Himmels-Tragödie« wurde Oskar Panizza durch Mehrings 1952 auch in Deutschland erschienene »Verlorene Bibliothek« endgültig zu einer legendären Gestalt erhoben. Wie bereits 1927 der »Völkische Beobachter« ließ Walter Mehring Panizza direkt nach dessen Prozeß in die Schweiz fliehen. Er ergänzte Panizzas Urteil um »Verbreitung unzüchtiger Schriften« und verschärfte dessen Strafe auf »Zuchthaus«. (46) Um den »Fall Panizza« skandalträchtig in die deutschen Nachkriegsjahre zu retten, ließ Mehring auch den von Hanns Heinz Ewers überarbeiteten Erzählungsband »Visionen der Dämmerung« nachträglich konfiszieren. Postum machte er Oskar Panizza mit Heinrich Lautensack bekannt und erschuf Panizza unter Berufung auf dessen Vilshofener »Caféhauskollegen« und Frank Wedekind einen »Jesuitenonkel«. Als »Sadistisch-Hoffmannischer Horrornovellist« und als Verfasser des »Liebeskonzils« konnte Panizza der Sympathie Walter Mehrings gewiß sein. Bis heute gerne zitiert blieb die »story« von Mehrings gescheitertem Besuch in der Bayreuther Irrenanstalt«: »(Niemand durfte ihn [Panizza] besuchen; ich habe es vergeblich auch versucht …)« Angesichts der Vorliebe des alternden Mehring für Anekdoten und phantasievolle Ausschmückungen dürfte die Geschichte vom gescheiterten Besuch in Bayreuth ebenso frei erfunden sein wie der von Mehring genannte Essay Panizzas »Transvestitentum und Effeminismus im Messiaskult«.

Aufgrund der Tatsache, daß in Mehrings ››Verlorener Bibliothek« Titel Panizzas umformuliert bzw. ergänzt wiedergegeben werden und selbst dessen Todesjahr falsch angegeben ist, sollte diese »Quelle« künftig nicht mehr kritiklos zitiert werden. Weniger die Person und das Werk als »Der Fall Panizza« interessierten Walter Mehring angesichts einer sich Anfang der fünfziger Jahre neuerlich abzeichnenden restriktiven deutschen Kulturpolitik. Mit Mehrings Kapitel aus der »Autobiographie einer Kultur«, so der Untertitel seines Buches »Die verlorene Bibliothek«, überdauerte die Legende vom syphilisinfizierten Dichter, der als ehemaliger Psychiater schizophren in einer »Irrenanstalt« endete (48), den zweiten Weltkrieg.

Michael Bauer: Oskar Panizza – Ein literarisches Porträt; München: Hanser Verlag 1984; S. 24 ff.

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1946 Lieder Lyrik

Erich Grisar hält Walter Mehring 1946 für tot

Erich Grisar (Hg.): Denk ich an Deutschland in der Nacht - Eine Anthologie deutscher Emigrantenlyrik Aber auch jene Dichter, die die Tiefe ihrer Gefühle hinter der strengen Sachlichkeit ihres Stils zu verbergen trachten, haben schwer an der Verlassenheit getragen, in die das Schicksal sie gestoßen. So bekennt Walter Mehring – der doch vor 1933 schon lange Jahre in Paris lebte und mit dieser Stadt so verwachsen war, daß er ihr einen Roman widmete -, daß er manchmal im Schlaf berlinert, und als man Alfred Kerr die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannte, dichtete er:

Deutschland, kein winselndes Abschiedsweh!
Liebe dich doch wie eh und jeh.
Bin aus dir (nicht von dir) verbannt,
Wende den Fuß nun anderwärts,
Bist du dereinst nicht Hitlerland,
Drück ich dich wieder ans Herz.

Es mußten viele Jahre voll schmerzlichen Geschehens vergehen, ehe diese Hoffnung sich erfüllen durfte. Mancher hat die Spannung der langen Trennung nicht ausgehalten und seinem Leben ein vorzeitiges Ende bereitet, wie Kurt Tucholski (sic!), Ernst Toller, Walter Mehring, Stefan Zweig und Ernst Weiß. Andere wie Max Hermann Neiße, Joseph Roth und Robert Musil sind gestorben, ohne die Heimat wiederzusehen, ein Schicksal, das ebenso Georg Kaiser und Franz Werfel widerfahren ist, wenn sie auch das Ende des Regimes, das sie aus dem Lande trieb, noch erleben konnten.

Wenn zu der hier getroffenen Auswahl noch einige Worte gesagt werden dürfen, so ist zu betonen, daß alle vorgelegten Gedichte aus der ersten Zeit des Hitlerreiches stammen. Das bedingt, daß manches von ihnen stofflich überholt ist. Doch eben das war der Grund, die
Gedichte, die bisher nur in Abschriften in Umlauf waren, neu vorzulegen; denn sie sind unverwischbare Zeugen einer Zeit, die uns damals unerträgliche Barbarei zu sein dünkte und die, wie wir zu unserem Leid erfahren mußten, doch nur das uns heute fast harmlos scheinende Vorspiel einer Epoche war, die Schuld und Verbrechen ins Maßlose häufte.

Die Art des Entstehens dieser Sammlung führte dazu, daß mancher bekannte Name fehlt, aber neben den Lücken wird der Leser auch auf manches Wertvolle Gedicht stoßen, das heute an keiner anderen Stelle mehr auffindbar sein dürfte; denn obwohl mehr als ein Jahr vergangen ist, seit der furchtbare Alp von uns gewichen ist, der länger als ein Dutzend Jahre auf uns allen lastete, ist doch (von Glaesers Roman „Der letzte Zivilist“ und Langhoffs Moorsoldaten“ abgesehen) noch so gut wie keins der Bücher, die in der Emigration geschrieben Wurden, in Deutschland neu herausgegeben worden. Dieser Tatsache entnehmen Verlag und Herausgeber die Berechtigung, diese kleine Sammlung vorzulegen, um dem deutschen Leser einen Hauch von jenem Geiste zu vermitteln, der jenseits der deutschen Grenzen lebendige Wirklichkeit gewesen ist und den die Menschen innerhalb der Grenzen so lange nicht mehr haben spüren können.
Dortmund, im Juli 1946.
ERICH GRISAR.

(Dieser Text von Erich Grisar ist ein Auszug aus dem Vorwort für die Anthologie „Denk ich an Deutschland in der Nacht, in der Lyrik aus dem Exil 1946 in Deutschland vorgestellt wurde. Erich Grisar zählt Mehring in dem Text zu denen, die sch im Exil das Leben nahmen. Dass ihm die Flucht über Frankreich in die USA geglückt war, war dem dem Dortmunder Autor, der während des Dritten Reichs ebenfalls mit Publikationsverbot belegt war, nicht bekannt. Etwas mehr als ein Jahr nach der Kapitulation ist der schmale Band erschienen und war einer der ersten, der sich mit dem Schaffen der Eimgranten beschäftigte.

Erich Grisar (Hg.): Denk ich an Deutschland in der Nacht – Eine Anthologie deutscher Emigrantenlyrik; Karlsruhe: Verlag Volk und Zeit 1946; hier: Nazi-Zoo, S.44 f; Das Tränenfass, S. 46 f., Ode an Berlin, S. 48 f., Erich Mühsam, S. 50.)

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1964 Biografisches Kabarett Lieder Lyrik Wissenschaft

Elisabeth Pablé über Mehrings Rolle als Chansondichter

Elisabeth Pablé (Hg.): Rote Laterne Schwarzer HumorNach dem Krieg setzte eine Kabarett-Renaissance sondergleichen ein. Die Aufhebung der Zensur ermöglichte Walter Mehring im erneuerten „Schall und Rauch“ Zeitsatire großen Stils. „Berlin, dein Tänzer ist der Tod“ hieß sein Auftakt zu cler „goldbesch … Zeit der Zwanziger Jahre“. Klabund, Seemann Kuttel Daddeldu-Ringelnatz, Theobald Tiger alias Tucholsky und Marschall Böff alias „Ecce Homo“-Zeichner George Grosz assistierten. Mit seinem expressionistischen Sprachen-Ragtime schuf Mehring, Jahre vor Brecht, den Song. 1921 setzte Trude Hesterbergs „Wilde Bühne“ die Tradition des zugrundegegangenen „Schall und Rauch“ fort.

Im März 1918 War Wedekind gestorben. In einer Augsburger Kneipe sang ein junger Mann die halbe Nacht zur Guitarre die Lieder des großen Ahnherrn. Der junge Unbekannte hieß Bertolt Brecht. In der „Wilden Bühne“ schockierte er dann erstmals die Berliner mit seinem Elternmörder „Jakob Apfelböck“; der Durchbruch gelang ihm 1928 gemeinsam mit Kurt Weill in der „Dreigroschenoper“; beider überragende Interpretin war Lotte Lenya.

In dieser Zeit und im intimen Rahmen der „Wilden Bühne“ wurde geprägt, was Deutschlands Chansontradition genannt werden darf. Trude Hesterberg, Rosa Valetti, die später ihr eigenes „Größenwahn“ eröffnete, Kate Kühl hießen die neuen Chansonetten, die auch vor politischen Texten nicht zurückschraken. Man gab sich revolutionär, politisch-pamphletisch, links.

Die eigentliche Entdeckung der zwanziger Jahre war die emanzipierte Frau. Sie zog als Herrscherin ins Kabarett, wie der Chronist Berlins Walter Kiaulehn feststellt: „Die neuen Lieder waren (den Frauen) von den Dichtern auf den Leib geschrieben worden, und darum ließen sie auch die Kniekehlen mitsingen. Es klang sehr gut.“ Hatte man zuvor nur Sinn für die Beine der Tillergirls, so interessierte man sich nun für Persönlichkeiten, die außer ihren Beinen auch noch Witz zu verkaufen hatten. Die Troubadoure der neuen Berlinerin waren die Chansondichter. Mehring, Tucholsky schrieben für die Valetti in den Dissonanzen von Rot und Schwarz, Klabund hatte der kindhaften Blandine Ebinger „Ich baumle mit de Beene“ geschrieben, Friedrich Hollaender widmete ihr die „Lieder eines armen Mädchens“. Ein neues Gespann hieß Marcellus Schiffer-Margo Lion. Schiffer schuf das weibliche parodistische Typenchanson.

Nach 1925 war der politische Elan der Anfangsjahre im Rückzug. Die große Zeit der kleinen Revue brach an. Intim, elegant, voller Pikanterie, verdankt sie ihre Qualität weitgehend dem Geist ihrer Autoren und Komponisten. Über Nacht schlug Schiffers Revue mit der Musik von Mischa Spoliansky „Es liegt in der Luft“ ein, über Nacht hatte Berlin seinen neuen Schlager; Margo Lion und Marlene Dietrich – bis zu diesem Zeitpunkt 1928 eine kleine Kabarettstatistin – ersangen ihn mit ihrem Duett von der „Besten Freundin“.

Elisabeth Pablé (Hg.): Rote Laterne Schwarzer Humor – Chansons des Jahrhunderts; München: Residenz Verlag 1964, S. 10 f.

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1921 1961 Prosa

Walter Mehring: Tucholsky, der Vamp und die Canaille

René Droz (Hg.): Marlene Dietrich»Das Wort Vamp wurde erst Mode, als es die Frauen, die es bezeichnen
sollte, schon nicht mehr gab …«
Walter Mehring

Als ich Walter Mehring fragte,wie er den Vamp definierenwürde, lächelte er milde und sagte, daß selbiger nicht zu definieren sei. »Der Vamp, den Ihr Jungen von der Leinwand kennt, ist ja ohnehin nur ein Abklatsch. Damals in Berlin … da stand er vor uns, auch wenn wir dieses Schlagwort nicht dafür brauchten. Diese Künstlerinnen waren so einmalig, daß sich jeder Versuch, sie unter einen Sammelbegriff einzuordnen, von selbst verbot … Damals gab es auch noch Schriftsteller, welche diese Individualität zu schildern vermochten. Wenn ich nur an Valeska Gert denke und an die großartige Charakterisierung, welche Tucholsky von ihr gegeben hat …« Vielleicht besitze er das Heft der »Weltbühne« noch. Dann würde er es mitbringen. Tucholsky habe in wenigen Worten das Wesen des Vamps für immer festgehalten, und dies zu einer Zeit, wo der Vamp, ohne daß er diesen Namen trug, eine lebendige, künstlerische Realität war…

Die erwähnte Kritik hat Kurt Tucholsky 1921 geschrieben, und dort liest man folgende Sätze:

»In den Lichtbogen schlurft eine Schlampe in Schwarz, der rote Halsbesatz deckt den Kopf ab – einen verluderten, unfrisierten Kopf. Wer ist das? Was ist das für ein Gesicht? Die ,Vorstadtdirne‘ von Toulouse-Lautrec ist eine Gräfin dagegen – gegen diese Nutte. Gleichgültig schieben sich die Schulterblätter hoch – gleichgültig schiebt sich das gemietete Stück Fleisch aus der Auslage durch die Straße. Und wird von einem Kerl ergrifien – und produziert das Frechste, was wohl je auf einer Bühne gemacht worden ist. Die Beine öfinen und schließen sich. Und Gleichgültigkeit, Krampf – dennoch Krampf! – und Geldgier schütteln den ausgeschaukelten Körper: eine Lues und die Heilsarmee kämpfen mit gleicher Inbrunst um diese arme Seele. Wer sich je bei den ,berüchtigten Berliner Nackttänzen‘ nach dem Laster gesehnt hat: hier ist es. Und noch nie habe ich so verstanden, wie Lust und Qual auf demselben Loch gepfiffen werden. Und dann haucht sie die letzte Lust aus, spuckt aus, ohne es zu tun – und versinkt.

Diese ,Canaille‘ ist eine wahrhaft geniale Leistung …« [1921]

Aus: René Droz (Hg.): Marlene Dietrich; Zürich: Sanssouci Verlag 1961, S. 17 f. Das Zitat findet sich in: Kurt Tucholsky: Valeska Gert; in: Die Weltbühne, 17. Jahrgang, Nr. 7, S. 204.

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1963 1964 Biografisches

Walter Mehring: Zu Haus bin ich überall

Hermann Kesten (Hg.): Ich lebe nicht in der Bundesrepublik„Unsere Leser“, schreiben Sie mir, „sollten erfahren, warum Sie, geehrter Herr, nicht in der Bundesrepublik leben . . .” Hm! Ich muß mal rasch überlegen, wie ich’s begründen, wie ich mich rechtfertigen soll . . . Einst nannte ich mein eigen: eine ererbte Bibliothek; mir unersetzlich in ihrer einmaligen, nie wieder herstellbaren Auswahl – eine Kunstsammlung von Bildern, Graphiken, Collages damals verrufener, heut weltgerühmter Maler – ein Archiv, Schränke voll, von Privatbriefen nun schon klassisch gesprochener Zeitgenossen – an meinen Vater und mich. Auch gelegentlich ein Daheim. All das fiel, in einer Stunde, einer SA-Haussuchungsplünderung zu Beginn des zirka tausendjährigen Dritten Reiches anheim. Seitdem mochte ich nichts mehr besitzen. Wenn einer ein Bein verloren hat, kann es ihm nicht mehr nachlaufen. Wenn einer sein Herz verloren hat, bleibt ihm nichts übrig, als sich einen Vers draus zu machen – auf die Geliebte: seine Sprachheimat, seine ihm allein teure Vergangenheit . . .
Item: Ich lebe nicht in der Bundesrepublik, weil ich, seit meiner Geburt (1896 in Berlin), „auf Reisen” lebe – via Exil bis zu meinem exitus letalis – weil Heimweh die einzig  eingebildete Krankheit ist, an der ich bisher noch nie gelitten habe – weil die, zur Zeit, zeitgemäße, neudeutsche Literatur kein Resonanz-(Blut und)-Boden für mich ist . . .

In einem schmalen Buch hat Hermann Kesten 1963 all jenen Exilierten Platz geboten, die nach dem Krieg nicht in die Bundesrepublik kamen. Die Liste derer, die in dem band zu Wort kamen, liest sich wie ein Who is Who des Exils. Verdienstvoll ist auch der kurze Anhang, der auf acht eng beschriebenen Seiten eine Liste der bedeutenden Vertriebenen aus dem Dritten Reich enthält. Das Buch macht deutlich, wie schwer für viele die Rückkehr war. Vor allem, wenn sie auch nicht in die DDR wollten, wie die meisten derer, die zu dem Buch einen Text beisteuerten. Das erschien im Jahr des Auschwitz-Prozesses. Hermann Kesten (Hg.): Ich lebe nicht in der Bundesrepublik; München: List Taschenbücher, 1964; S. 113. (A.O.)