Kategorien
1929 Lyrik Rezensionen

Wolf Zucker sieht Mehrings Lyrik ganz anders als Walter Benjamin

In der „Literarischen Welt“ entdeckt Wolf Zucker in „Die Gedichte Lieder und Chansons des Walter Mehring“ das wirklich Besondere. Anders als Walter Benjamin, konzentriert sich Zucker auf die Wirkung und die große Bandbreite der Tonalität in Mehrings Lyrik. Dieser unideologische Blick ist denn auch mehr als 80 Jahre nach entstehen des Textes erhellend:

Walter Mehring gehört zu jenen Autoren, deren Wirkung viel weiter geht, als sie selber ahnen. Ohne daß sein Name genannt wird, sind seine Chansons weit über den engen Kreis der Literaturfreunde hinaus bekannt. Es gibt kein schöneres Lob für seine Gassenhauer, als daß sie wirklich in Kneipen bruchstückhaft gesungen werden. Dabei sind die Chansons, Legenden und Balladen mit einer so raffinierten Klugheit und Beherrschung aller sprachlichen Register geschrieben, daß sie oft naturgewachsene Wunderwerke an Ausdrucksfähigkeit zu sein scheinen. Mehring, dessen Wortschatz von der Grenadierstraße bis zum Boulevard de Clichy, von Oberammergau bis hinter die Reeperbahn reicht, hat etwas fertig gebracht, was es in deutscher Sprache sehr selten gibt:
Gedichte im „Volkston“. Gewöhnlich verstand man ja darunter eine gewisse künstliche Naivität, die auf ihre abgebrauchten Phrasen stolz war, die „Maienblüte“ und .‚Lerchensang“ als volkstümlich ausgab. Mehring ist auch nicht der Versuchung des neuromantischen Maschinenkjtschs erlegen, ist weder Naturalist noch Symbolist, sondern etwas ganz und gar Eigenes.
Was Paul Whitman für die Musik, das hat Mehring für das moderne Chanson geleistet: Die Verjazzung von Rhythmus und Melos. Jener synkopische Versstil, den schon Liliencron gelegentlich hatte, wird bei Mehring zur letzten Konsequenz ausgebaut. Aber eine solche Verwendung technischen Raffinements bleibt bei ihm nicht mechanisch. Gerade die völlige Durchdachtheit seiner Strophen gibt den Gedichten ihren besonderen Charakter. Bei allem Temperament hat Mehring jene sprachliche Disziplin, die für das Chanson Vorbedingung ist. Sein „‘ck bin jefiehllos, ’ck bin Poet!“ könnte als Motto über einer Theorie der Mehringschen Lyrik stehen. Und man würde damit sagen, daß hier ein Dichter mit Gefühl aber nicht „jefiehlvoll“ geschrieben hat.

Wolf Zucker: Die Gedichte, Lieder und Chansons des Walter Mehring; in: Die Literarische Welt Nr. 30, 5. Jg. vom 26. Juli 1929, S. 9.

Kategorien
1929 Lyrik Rezensionen

Walter Benjamin kann nichts mit Mehrings Gedichten, Liedern und Chansons anfangen

Die Gedichte, Lieder und Chansons des Walter Mehring„, die 1929 bei S. Fischer erschienen sind, gefallen nicht jedem. Walter Benjamin schreibt in seiner Rezension, dass ihm das „Unvernünftige, Verbissene, Herbe, Verächtliche, Heimweh und amor fati des Verrufenen“ fehlen. Anders als bei Brecht sei die Lyrik Mehrings nicht wirklich groß. De facto bewertet Benjamin die Lyrik Mehrings aber nicht wirklich nach der Qualität der Texte. Es geht ihm vielmehr um die Desavuierung eines Dichters, der sich explizit der kommunistischen Partei verweigerte. Anders als Brecht. Die Wahl einer Textstelle, die tatsächlich nicht zu den starken zählt, ist deshalb weniger Beleg für die Argumentation, als vielmehr Beleg für die Polemik. Und die Suche nach einer so schwachen Textstelle muss Walter Benjamin angesichts der vielen treffenden und sprachlich kraftvollen Texte einige Mühe gekostet haben. Und so erledigt sich die Kritik selbst, da sie nur von Ideologie geprägt ist. (A.O.)

Gebrauchslyrik? Aber nicht so!

Das Chanson, wie es vom Montmartre zu uns heruntergekommen ist, war ein Feuer, an dem der Bohemien sich den Rücken wärmte, jederzeit bereit, einen Scheit zu ergreifen und ihn als Brandfackel in die Palais zu schleudern. Weil aber der Arme alles verkaufen muß, so mußte er’s auch dulden, daß der Reiche sich Zutritt zu seinem Asyl erzwang und sich’s bei einem Feuer gemütlich machte, das darauf brannte, ihn zu verzehren. Das ist der Ursprung des Kabaretts. Schwer ist es den Schülern Aristide Bruants nicht geworden, sich auf die soziale Zweideutigkeit der Gattung einzulassen. Die sexuelle findet sich schnell dazu. Aber auch die Zote war noch Revolte, Aufstand des Sexus gegen die Liebe, und bei Wedekind geht es hart her. Erst recht geht es hart her bei Brecht, dem besten Chansonnier seit Wedekind, und dem lehrreicheren, weil bei ihm um den Waagebalken der Not die beiden Schalen Hunger und Geschlecht gerechter spielen. Mit Brecht hat das Chanson sich vom Brettl emanzipiert, die Decadence begann historisch zu werden. Sein Hooligan ist die Hohlform, in die dereinst mit besserem, vollerem Stoff das Bild des klassenlosen Menschen soll gegossen werden. Damit fand die Gattung ihre scharfe aktuelle Bestimmung. Es reicht nicht mehr aus, Gaunersprache und Platt, Argot und Slang zu parlieren, um hier mitreden zu dürfen. Und, die Wahrheit zu sagen: nie hat es ausgereicht. Wenn es in den Kreisen der »Vaterlandslosen«, »Entwurzelten« so etwas wie Heimatkunst gibt, dann ist es das Chanson, das aus dem engen rauchgeschwärzten Kneipenwinkel kommt. Und wo dergleichen Weisen etwas taugen, da haben einmal Männer beisammen gesessen. Mehring 1) mag allerlei Qualitäten haben, mag der Sprache rabeleske Toupets, balladeske Tollen oder bierbaumsche Schmachtlocken drehen – er hat nie an ungehobelten Tischen gesessen. Das Unvernünftige, Verbissene, Herbe, Verächtliche, Heimweh und amor fati des Verrufenen sind ihm fremd – trotz »Ketzerbrevier« und »Legenden«. Sein Chanson ist ein Esperanto der Dichtung, der Effekt ist sein letztes Wort und niemals liegt er in der Nuance. Ein Mann wie Brecht kann das Massivste anheben, wir werden immer unsere Freude daran haben, wie zart er es niederlegt. Mehring kann gar nicht athletisch genug stemmen, aber wenn man dagegen klopft, klingt es so hohl wie dies:

Und acherontisch donnert der Métrozug,
Apokalyptisch reist der Passagier.

Die Überlieferungen der Decadence sind gerade in Deutschland zu schwer erkauft und zu lauter – man braucht hier nur den Namen Hardekopf zu nennen –, um sich diese akademische Kopie gefallen zu lassen, der ihre Herkunft aus dem Amüsierbetrieb der Großstadt an der Stirn geschrieben steht. Diese Sachen haben keine verändernde Kraft; sie werden keine Umgruppierung verschulden. Denn sie sind nicht von der Niedertracht, sondern vom Masochismus eines bürgerlichen Publikums inspiriert.

Walter Benjamin: Gebrauchslyrik? Aber nicht so; in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt/Main: 1972, S. 183f.

Kategorien
Lieder

Dagmar Manzel singt „Die kleine Stadt“


Bei den Jüdischen Kulturtagen in Berlin hat Dagmar Manzel beim Eröffnungskonzert am 8. September 2011 Lieder von Werner Richard Heymann gesungen. Eines davon war „Die kleine Stadt“, dessen Text von Walter Mehring stammt.

Kategorien
1930 Film Lieder

Mehring steuerte Lieder zum Film „Ein Mädel von der Reeperbahn“ bei

Das belgische Plakat für "Ein Mädel von der Reeperbahn"
Das belgische Plakat für "Ein Mädel von der Reeperbahn" (Quelle: DIF)

1930 ist der Film „Ein Mädel von der Reeperbahn“ von Karl Anton als deutsch-tscheslowakische Koproduktion erschienen. Walter Mehring hat dazu Lider beigesteuert. Auf dem Filmportal wird der Inhalt beschrieben:

„Der Leuchtturmwärter Uwe Bull lebt mit seiner Frau Hanne und dem stummen Gehilfen Jens in einer abgeschiedenen, kleinen Welt. Erotisches Knistern kommt in diese Welt, als eines Tages als einzige Überlebende eines Schiffsunglücks Margot angespült wird, ein flottes Mädel von der Reeperbahn. Uwe verfällt dem kecken Mädel bald mit Leib und Seele, und nach einem Streit zwischen Margot und Hanne will er seine Frau verlassen und eilt Margot hinterher. Aber dunkle Wolken ziehen am Himmel auf, und da Uwe sich nicht um den Leuchtturm kümmert, gerät ein Schiff in Gefahr. Hanne will hinauf zum Scheinwerfer, stürzt aber vom Geländer und bleibt an einem Balken hängen, der langsam nachgibt. Da erkennt Uwe die Gefahr, eilt zurück, rettet seine Frau und bleibt von nun an bei ihr.“

Unter anderem ist in dem Film „Der Seemannschoral“ zu hören:

Wir haben die ganze Welt gesehn
— Die Welt war überall rund! –
Um alle paar Monat vor Anker zu gehn
Bei einem Mädchenmund!
Wir sahn eine Mutter in schneeigem Haar
— Die verkuppelte uns ihr Jöhr
Wir fraßen pfundweis den Kaviar
Direkt an der Quelle vom Stör!

Wir sahen Seeanemonen und Qualln,
Die schmückten Gebein und Gewand
Eines Matrosen, der war gefalln
Für irgendein Vaterland.
— Die Welt ist rund und klein!
Was kann sie dem Seemann noch sein?
In Hamburg an der Elbe
Gleich hinter dem Ozean
Ein Mädchen von Sankt Pauli
Von Sankt Pauli und von der Reeperbahn
Ein Mädchen, das bei Tag und bei Nacht
Bei jedem Kuß an uns nur gedacht
Ein Mädchen von Sankt Pauli
und von der Reeperbahn

Wir haben die ganze Welt bereist:
– La Plata – le Languedoc!
Wir haben mit Kannibalen gespeist
– Und überall gab’s einen Grog!
Uns folgte der Möwen Hungergekreisch
Wie die Huren der Waterkant
– Am Meeresbusen zum drallen Fleisch,
Da gingen wir an Land!
Wir haben den »Holger Danske« gesehn
– Und einen Völkerstamm
Zu Tausenden zugrunde gehn —
Die andern standen stramm!
Die Welt hat Leid und Freud!
Was haben wir Seemannsleut?
In Hamburg an der Elbe
Gleich hinter dem Ozean
Ein Mädchen von Sankt Pauli und
von der Reeperbahn

Wir haben die ganze Welt beglotzt:
Paris und den Vogel Roch!
– Wir haben die Seele uns ausgekotzt
Bei Australien Da liegt sie noch!
Wir sahen unsern Kapitän
Verfaulen im Lazarett!
Wir sahn eine Grotte mit lauter Feen
– Und ein frisch bezogenes Bett!
Wir sahen den toten Menelik
Hoch zu Krokodil!
Wir sahen überall den Krieg
– Und Wilhelm im Exil!
Die Welt ist zum Bespein!
Was kann noch Ekleres sein?
In Hamburg an der Elbe
Gleich hinter dem Ozean
Ein Mädchen von Sankt Pauli
Nahm sich einen Spießer zum Mann…
Was kann für uns da noch sein?
Ein Mädchen, das bei Tag und bei Nacht
Bei jedem Kusse an uns nur gedacht
Unser Mädchen von Sankt Pauli
Unser Mädchen von der Reeperbahn…

Kategorien
Rezensionen Wissenschaft

Max Herrmann-Neiße stellt Kabarettdichter und Kabarettkomponisten vor

Die Textlieferanten der ersten Überbrettlära in Deutschland waren (wie gesagt) lyrische Limonadenfabrikanten wie Ernst von Wolzogen, Bierbaum, platte Bonmotdrechsler und Bonhomiesatiriker wie Pserhofer, Rideamus. Traten im Rahmen dieser Kabaretts wirkliche Dichter auf, so war das eine ganz unorganische Erscheinung, ihrer Art nach hatten diese Poeten (Hille, Liliencron, die Lasker-Schüler) nichts mit den besondren Anforderungen eines Kabaretts zu tun, sie schrieben nicht fürs Kabarett und sie schrieben auch nicht so, daß ihre Werke irgendeine Möglichkeit gehabt hätten, vom Kabarett aus zu wirken. Von wirklichen Künstlern gemachtes Kabarett, das eine Welt für sich darstellte, war eben erst das der »Elf Scharfrichter«, mit den Dichtern Wedekind, Lautensack, Greiner, Ludwig Scharf, Gumppenberg. Dann gab es in den drei, vier Jahren, die dem Weltkrieg vorausgingen, eine Dichtung, die zwar nicht direkt fürs Kabarett gemacht war, aber ihrer Struktur nach einem wirklich künstlerischen und selbständigen Kabarett sehr geeignetes Material geboten hätte – ein Material, das erst jetzt ein paar belangvolle Kabaretts zu benützen anfangen. Die impressionistisch-naturalistische Literaturepoche hatte es in ihrem Ausgang zur grotesken Dichtung gezogen. Nachdem die höchste Reife des formalen Niveaus erreicht war, konnte man akrobatische Wagestücke und verblüffende  Fingerfertigkeiten vorführen. Man hatte alles ausgekostet, alle Illusionen verloren, nun wurde man zuletzt artistischer Illusionist. Oder man hielt Berlins Großstadtsensationen in grotesk frisierter Verklärung lyrisch fest, dämonisierte die Vergnügungsmöglichkeiten, die Deutschlands Hauptstadt damals den Kapitalkräftigen bot. Die Reihe der Dichterexzentriks war groß und mannigfaltig, Scheerbart, Meyrink, Mynona waren ebenso darin wie Hardekopf, van Hoddis, Lichtenstein, Ernst Blass, Hugo Kersten und das Autorenterzett der Kriminalsonette (Ludwig Rubiner, Friedrich Eisenlohr, Livingstone Hahn). In der Öffentlichkeit dominierte gleichzeitig das durchschnittliche Vorkriegskabarett, das hauptsächlich von einer unreellen, kitschigen Nobelpikanterie zehrte, deren Personen der elegante Herr und sein Verhältnis waren, und die Erotisches mit einem schmalzigen, aber durchaus eindeutigen Schmus servierten. Dafür waren die gefragten Autoren beispielmäßig Eddy Beuth, Ralph Benatzky (Die kleine Pagode, Piefke in Paris, Die Marquise von Laualliere), die Lieblingskomponisten Rudolf Nelson, Bogumil Zepler, Bela Laszky, Harry Waldau, Nicklaß-Kempner, Rebner, Ehrlich, eine Reihe, die heut noch tätig und wirksam ist, da ja dieses Amüsiergenre immer bleibt, und sich fortsetzt in Autoren wie Wilczynski und Komponisten wie Stransky. Während des Kriegs lebte das Durchschnittskabarett natürlich von billiger Verunglimpfung der »Feinde«, gewürzt durch galante Tanzeinlagen. Nachher benötigte man eine revolutionäre Walze. »Soziales« dem Schieberpublikum der Neppetablissements mundgerecht aufzutischen, siedelte man es ausschließlich in der Sexualsphäre an. Man verabreicht Sektgästen kein Dynamit, sondern verhilft ihnen, wenn’s hochkommt, zum angenehmen sadistischen Kitzel, oft gar nur zur witzlosen Stammtischschweinerei, die durch den Gassendialekt Ursprünglichkeit vortäuscht. Da ist die Dirne nicht aus ihrem Wesen heraus gestaltet, sondern aus der falschen Vogelperspektive ihrer Gelegenheitsbesucher gutbürgerlicher Provenienz. Standpunkt des beschwipsten Zynikers, der voll beleidigender Bonhomie ein »fideles« Unterwelt-Gastsspiel gibt. Oder des Romantikers, der sich selber berauscht an seinem arroganten, bequemen Mitleid. Wedekinds dämonische Beschwörung dieser Sphären ist nicht beliebt, macht denen Unbehagen, die in ihrer Selbstgefälligkeit nicht gestört sein mögen und gewohnt sind, über Abgründe sich hinwegzuwitzeln. Nicht die erstarrte Maske, sondern der zwinkernde Rouéblick, nicht eines Dichters unerbittliche Stimme, sondern des Commis voyageurs fettes Schnalzen gilt. Beispiele für die erträgliche und die unerträgliche Manier solcher Kabarettliteratur bietet Leo Hellers Sammlung Aus Pennen und Kaschemmen. Goldschnittlyrik mit dem Thema: Berlin NO. Nur ein paar Nummern haben ihre Stärke in der Eignung zum Vortragsmaterial insofern, als sie von vornherein gestellt sind auf die besondere Situations- und Ausdruckszuspitzung, auf den eignen Tonfall der Brettl-Brauchbarkeit. Die Schwindelatmosphäre des Berliner Kriegs- und Nachkriegsbetriebs, diese Hochstapler- und Vabanquestimmung mit ihrem Gemisch aus Wüsten, Feilschen, Bluffen, Talmikavaliertum, Nuttigkeit, Versumpfung, Gezappel, nimmt die deutsche Abart des Dadaismus dann einfach als Technik auf, erbarmungslos, exakt, mit nötiger Kaltschnäuzigkeit, marsch artigem Draufloshämmern, marktschreierischer Inseratenstrophe, marionettenhafter Geschäftigkeit, im rechten Grammophonrhythmus, betreibt die Tollheit als Gewerbe und schafft so auch für ein selbstherrliches Kunstkabarett bizarre, klischeefeindliche Vorlagen, in Gedichten von George Grosz, Richard Huelsenbeck, Hans Arp, Kurt Schwitters und in hanebüchner Prosa von Raoul Hausmann. Die Reihe der Außenseiter-, Urwuchs-, Unbandpoeten, jener Dichter, die durch die Vogelfreiheit und Konventionslosigkeit ihres Werkes für ein geistiges, kämpferisches Kabarett wichtige Anreger bleiben, setzte sich inzwischen von Wedekind, Ludwig Scharf über den gesinnungsechten Barden Erich Mühsam, dessen Verse voll spontaner Explosion und bittrer Sachlichkeit sind, radikal ohne radikale Form allerdings, und über die lebensechte, ursprüngliche, schicksalhafte Bohemienhaltlosigkeit der Emmy Hennings fort bis zu Bert Brecht, dem dramatischen Gestalter von gesellschaftsfeindlichen, schwärmenden und wüstenden Urtumsexistenzen, dem erschütternden Bänkelsänger der wilden Moritat Apfelböck oder die Lilie auf dem Felde und der großartig aufreizenden Ballade vom toten Soldaten.

Der unnachahmliche Ausbund von einem lebensechten Vagantenpoeten aber ist Joachim Ringelnatz, heutiger Franccis Villon, der erschüttert, wie nur die Einheit von Dichter, Werk, Leben erschüttern kann. Ein Original, etwas herrlich Veralkeholisiertes, Urviechiges, mit dem niederträchtigen Dichterblick für die Kleinzüge allen Außenseitertums, dem etwas für sei nen Bezirk so Klassisches entstammt wie Noctambulatio. Einst war er nur ein Münchner Unikum, als Boetticher einer von den Hauspoeten im »Simplizissimus« der Kathi Kobus, der in Morgensternartigen Sächelchen wie der Schnupftabaksdose den Durchschnitt kaum überragte. Aber in den Turngedichten, in den Phantasien des Matrosen Kuddel Daddeldu und im Geheimen Kinder-Spiel-Buch schuf er sich dann eine ganz eigentümliche, barocke Ausdrucksform, einen Ton und Rhythmus, den nur er so hat, für eine ganz eigne Erlebniswelt. Das sind drei Maskierungen oder Demaskierungen ein und desselben Wesens. Dieser Seemann Kuddel Daddeldu, dieser Turnerschreck und dieser Wegweiser für Enfants terribles – es ist mehr als »ernsthaft selbstparodistische Laune«, es sind keine Fiktionen, keine »erdichteten Gestalten«, es ist der Zwang, seine verquere, verfahrene, halb lachhafte, halb melancholische Lebenschose in Zickzackbahnen zu erledigen. Alles ist gleich echt und verflucht schicksalhaft, der Ekel an der strammturnerischen Umwelt, daß man sich in nebulose seemännische Gruseligkeiten flüchtet, wo man von einst erlebten oder auch nur vorgestellten exotischen und erotischen Abenteuern träumt, und schließlich in allem als Kind dasteht, himmlisches, boshaftes Kind, dem alles nur Spiel ist und nach automatischem Widerpart und Schabernack der kaum von Trunkenheit zu unterscheidende Urweltschlaf kommt, der selig fallend von nichts mehr weiß.

Dieselbe göttliche Naivität herrscht in allen drei Büchern und überall grenzt sie nahe an die raffinierteste Bewußtheit exzentrischer Technik, aber darin ist kein Widerspruch, wer selbst ein vielfältiger, hin und her gerißner Dichtermensch ist, kennt das, wie man dicht nebeneinander lindeste Schwärmerei, schadenfrohen Zynismus, Liebenswertes und Selbstzerstörensches haben kann und muß. Dieselben Grundelemente finden sich in allen drei Werken: der energische Zugriff, das wurschtige Sichfallenlassen, die schnuppige, ruppige, weit absichtslose, so doch im letzten Sinne keusche Eindeutigkeit, die keine Zote ist, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der man auch diesen Dreck des Lebens, der einen immerzu plagt, hinschmeißt, und auch die scheinbare Herzlosigkeit und Grausamkeit mancher Verse ist kein Gefühls- oder Gewissensmangel, eher der Überfluß daran, der sich mit der faktischen Herzlosigkeit der tatsächlichen Majorität der Mitbürgerschaft zu deren Ungunsten ausgleicht. Heut tritt Ringelnatz in allen größeren Kabaretts Deutschlands auf, und wie er seine Dichtungen bringt, mit dem vollkommnen Eindruck des Improvisierens, schnapsselig über der Situation Stehens, großzügiger Liederlichkeit, das paßt so vorzüglich zu seinem Vortragsmaterial, daß aus Mensch, Poet, Rezitation und Carmen die komplette Einheit geschaffen ist. Wirklich heutigen Dichters Wesen kann nur sein die undefinierbare, im Grund doch grausliche und höllische Mittellage zwischen Tragik und (noch mit Tragik getränktem) Grinsen. Ringelnatz verkörpert sie auf eine ganz originelle Art, und wie er z. B. die Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument nicht vorträgt, sondern zu einem prägnanten Drama leibhaftigen Erlebens macht, muß auch dem Stumpferen beigebracht sein, daß des grotesken Dichters (wie jeglichen wahren Dichters) Element die Tragik, die unleugbare, unentrinnbare Daseins-Tragik bleibt.

Ein Dichter, der nie direkt fürs Kabarett schrieb und leider bis jetzt noch von keinem Kabarett gebracht wurde, dennoch für ein wirklich im Geistigen radikales Kabarett der Dichter von überlegner Originalität und Unnahbarkeit wäre, ist Gottfried Benn. Die Vehemenz seines Griffes ist ohnegleichen, und alles ist das schroffste Gegenteil von Sentimentalität. Die Gattung Couplet ist gesteigert ins schonungslos Vernichtende, daß die Fronde der besten bisherigen Angriffs-Chansons tief unter Benns Nihilismus bleibt, weil jene die Feindschaft innerhalb derselben Welt, Benns Dichtungen aber brückenlosen Bruch bedeuten. (Eine Wucht, die zu geißeln weiß, ohne in Eckengezänk zu vernörgeln, teilt ihre gut gezielten Bewegungen aus. Seine Dichtung, traditionslos heidnischen Geistes voll, bombardiert die Erstarrung, Stupidität, Verdünnung und Entblutung des Daseins. Und als Benn über ein Preisausschreiben »für das beste deutsche Chanson« als über ein Symptom der Zeit sich ärgerte, schrieb er einen Prolog- über einen deutschen Dichterwettstreit [Die Aktion, Jahrgang 12, Nr. 9/10], der ingrimmig das ganze Repertoire heutigen »Kultur«-Schwindels bucht und als Vernichtung durchschnittlich kabarettistischen Animierbetriebs zugleich das idealste Vortragsmaterial für ein faktisch gefährliches Revolte-Kabarett darstellt.)

Ein Chanson zu schreiben, das sich vollkommen mit dem deckt, was die Gattung fordert, ist eine Aufgabe, deren Schwierigkeit man nicht unterschätzen darf. Autoren, die das konnten und sich auf die spezifischen Bedürfnisse des Kabaretts bewußt einzurichten verstanden, direkte Kabarettautoren von wirklichem Rang gab es in Deutschland lange nicht. Um 1919 erst existieren zwei Leute, die als Kabarettautoren ernsthaft in Betracht kommen: Kurt Tucholsky und Walter Mehring. Kurt Tucholsky, unter diesem Namen und unter den Pseudonymen Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger Hauptmitarbeiter der Jacobsohnschen »Weltbühne«, hat eine Fülle witziger Couplets geschaffen, die das bis dahin übliche Niveau noch überragen. Sie sind meist angriffslustig in einer gewissen Texten versorgen kann, daß eine gute Humoristin alten Stils, etwa Else Ward, und die Repräsentanten neuster Ausdrucksform (die Holl, die Ebinger, Paul Graetz) seine Chansons bringen. Er hat oft sehr gut den rechten Berliner Ton getroffen, in der Dame mit’n Avec und in den Soloszenen, die er für Graetz schrieb. Eine neue Art Chanson, eine ganz dem Rhythmus der Zeit und dem Rhythmus heutigen Kabaretts entsprechende Coupletkunst begründete Walter Mehring. Er begann damit, die alte Berliner Gassenhauer-Tradition mit neuster Ätzung und Wuppdizität zu beleben. Da gelangen ihm so vorbildliche Treffer wie Deutscher Liebesfrühling 1919, ‚Fräulein lrene, Couplet en voltige. Was Mehring vor allem zu seinem Metier befähigt, ist eine rhythmische Feinfühligkeit, eine Treffsicherheit, den richtigen Vortrags-Schwung jedem einzelnen Couplet gleich mitzugeben, daß schon im Takt die Situation sich ausdrückt und Melodik und Stimmung sich vollkommen decken. Dabei ergibt sich für die verschiednen Gelegenheiten eine dementsprechende Abwechslung: eine Ahnung vom Tonfall Bruantscher Schreckenslieder (Die Kartenhexe, Zum blauen Affen, Cabaret Schwalbennest, die Kehrreimweise Moralisches Glockengeläute, Kinderlied), eine Simultanität, die von der »Fortgeschrittnen Lyrik« manches nutzte (Graduale) und schließlich das originellste Produkt eines freien Rhythmusses der Couplet-Technik, wie es beispiellos leuchtet in Die Reklame bemächtigt sich des Lebens. Es muß noch einmal gradezu konstatiert werden, daß der nun so oft dünner nachgemachte Vortrags-Elan, der die rasende Mechanik des Großstadtbetriebes exakt ausdrückt und so etwas wie einen Expressionismus der Brettl-Dichtung, eine im Automobiltempo losgelassene, gebremste und Kurven nehmende Momentaufnahme, zuerst und am intensivsten moussierte in solchen Mehringoriginalen wie Achtung Gleisdreieck, Sensation, Salto mortale. Er erwischt alte und neue Medien grade im rechten Moment, ladet sie mit seiner Elektrizität, und die eigne tadellos funktionierende Walze ist perfekt. Er würfelt die ulkigsten Reime erster und zweiter Ordnung durcheinander, macht aus überstürzendem Radebrechen eines liebestollen Fremdlings die Note des Kaukasierliedes, mixt aus Niggersong, Ragtime und Operettenrefrain eine Jazzband, eine mit Sätzen verübte Tanzorgie, und kurbelt die gute alte Popularität des Berliner Volkslieds in eine ganz gegenwärtige Vehemenz. Diejenigen haben aber Unrecht, die den Mehring nur als den poetischen Lokalreporter möchten gelten lassen, wenn er auch, unter anderm, den Jargon des »Berliner Schlagers« wie kein zweiter Meister, ihn für modernste Force gebrauchsfertig machte mit all seinem Mutterwitz, seinen pfiffigen Worteinfällen, dem derben Rotwelsch seiner Respektlosigkeit. Aber Mehrings Bezirk ist nicht bloß ein Rummelplatz, Pficht nur der größre Rummelplatz Berlin, sondern die heutige Erdoberfläche schlechthin, Mehrings Sujets sind international, er beherrscht viele Register, und er läßt sich auch nicht einmal auf ein einziges Temperament, auf eine einzige Gefühlsnuance festlegen. Mokante Kaltschnäuzigkeit, absolute Gemütslosigkeit ist die Signatur, mit der man ihn abstempelt, aber dann wird man bei ihm auf einmal von Sachen beunruhigt, die so gar nicht ins Schema passen, wie Die Kiilte oder Die roten Schuhe, wo ein schnoddriger Spötterpoetisch kommt. Ein Grundzug Mehrings ist schon die blutige Skepsis, die sich von keiner Illusion mehr zur Ehrerbietung anführen läßt (und auf die Kaffrigkeit der lieben Umwelt spuckt), aber schonungslosen Zynismus und krasse Verachtung bringt erst der auf, der im Tiefsten einer zarteren Anbetung tödlich enttäuscht wurde. Solches Getroffensein wächst zum diabolischen Aufschrei des Puppenspiels Weiße Messe, zu den »Geißelliedern« Lita nei und Schwarze Ostern. Mehrings Schöpfungen haben ihren Platz im Repertoire der wesentlichen neuen Kabarettkünstler (Gussy Holl, Rosa Valetti, Trude Hesterberg, Blandine Ebinger, Kate Kühl, Erika von Thellmann, Mady Christians, Kurt Gerron, Fritz Kampers, Gustav von Wangenheim sangen sie), man kann ein ganzes ideales Kabarettprogramm allein aus seinen Büchern zusammenstellen mit Berlinischem, Ländlichem, Internationalem, mit Sentimentalem und Aggressivem, Zärtlichem und Barschem, Schwärmerei und Abfuhr, wobei für Ankurbelung, Atemholen, Steigerung und radikal brüsken Ausklang bestens gesorgt wäre. Da gäbe es pompöse Monstrestücke wie die Arie der großen Hure Presse und Blocksberg, Bravournummern wie Dressur, Der Rattenfänger von Hameln, Amerikanisches Riesenspielzeug, Balladen wie die vom Abenteurer und vom Highwaymann, hinterhältige Romanzen wie Mein Herz, unscheinbare, sanfte, dennoch mit geheimer Schadenfreude geladne Liedchen wie Die kleine Stadt und Bergerette. Dann ganz große, Stimmung der Weltstadt in unendlicher Schwermut gestaltende Dichtung Wenn wir Stadtbahn fahren, radikale Attacke Die Maschinen, wundervoll grinsende Ironie Ziehende Schafherde, bestes Tingeltangel If the man in the moon, robustes Chanson Die Gardekiirassiere, schnuppige, unbürgerliche, vagabundenfrohe Justamentstrophen Die vier auf der Walze und Choral für Seemannsleute und schließlich die beiden besten kabarettgemäßen Persiflagen, die ich kenne, die Oberammergau-Parodie und den Russischen Holzschnitt. Mehring-Nachahmer und -Epigonen gibt es nun schon die Masse (man findet sie sogar in den Animierkabaretts der Friedrich- und Jägerstraße, wo die Sache allerdings ganz verplattet und veräußerlicht wird). Noch verhältnismäßig selbständig dagegen bediente sich Hans Janowitz des Mehringstils, indem er ihn mehr mit seiner weicheren, laueren, gefälligeren Art durchtränkte und plausibel machte. (Das ergab Sachen wie den Nachtspaziergang 1921 bis zu so nichtssagenden Massenartikeln wie Wenn der Morgen graut, nimm dir keine Braut dem Autobus-Chanson und dem Javalied.).
Der Schauspieler Hermann Vallentin kommt aus seiner eignen temperamentvollen Menschlichkeit und Drastik und aus einer gewissen verständnisinnigen Lebensbeobachtung zu ein paar Couplet-Texten voll Mutterwitz und echt Berlinischer Mischung aus Rührung und schlagfertiger Laune. Sein Dornröschen auf dem Wedding wurde von Blandine Ebinger gesungen, Wenn der Frühling in die Höfe steigt von Annemarie Haase, Sind’s die Augen, geh‘ zu Buhnke leider nur von einer matten Kopie der Ebinger. Das Lied von der republikanischen Droschke, Eine Viertelstunde Zeitgeist, Der Mann ohne Namen trug er selbst vor. Klabund, der alles kann, hat eigentlich auch in seinen Kabarett-Texten keine eigne Note, nur, daß es immer gefällig brauchbar gemacht ist, sei es ein Hamburger Hurenlied (das die Häusinger zur Laute sang), eine Soloszene Der Spieler (vom Schauspieler Hubert von Meyerinck gestaltet) oder zuerst von der Ebinger gesungne Piecen wie Deutsches Volkslied oder die kessen Chansons Wo andre gehrt, da muß ich fliegen und Ich baumle mit de Beene. Jetzt beliefert am eifrigsten die Kabaretts mit Texten Marcellus Schiffer. Der ist schon sozusagen ein Routinier des Chansontextes, aber in einer mittleren Position, zwischen dem Kabarett – Dichter Mehring und über den vielen kleinen Zufall-Schreiberchen, die glauben, sich den Kabarettstil angeeignet zu haben, wenn sie in schwüler Stimmung oder in kesser übertriebenheit versiert sind. Schiffer hat wirklich eine direkte Kabarettbegabung, seine Texte sind oberflächlicher als die Mehrings, nicht so unterirdisch gefährlich, nicht so mit Sprengstoff geladen, aber doch meist mit dem Zynismus eines überlegnen Intellekts gespeist, der sich nicht düpieren läßt. Auch er beherrscht mancherlei Walzen: kann zierliche, kunstgewerbliche Reizsächelchen machen wie Chinoiserie, derbe Humoresken wie Immer Emma, hat immer wieder zeitgemäße Einfälle, läßt einmal eine Midinette, einmal eine Hoteldiebin, einmal einen wohnungssuchenden »möblierten Herrn«, einmal eine Fliegentütenjungfrau, einmal ein Fräulein Raffke erscheinen. Die Schlagworte und Modesprüche bringt er sofort geschickt in der richtigen sarkastischen Umformung unter: Jeder Mann sein eigenes Niveau, Verständigungspolitik, Ick hab mir jarnischt bei jedacht. Schließlich die Höhepunkte seiner Produktion sind jene hemmungslosen Persiflagen erotischen Schwindels: Eine beßre Sache, Die Perverse, Die Linie der Mode, Die Minderjährige und die Kinderlieder.) Auch sein Schaffen ist nicht auf einen einzigen, in einer bestimmten Linie talentierten Künstler zugeschnitten: es gab so verschiednen Temperamenten und Typen wie Bendow, Benofsky, Rose Müller, Dora Paulsen, Annemarie Haase, Kate Kühl, Margo Lion den grade für sie richtigen Stoff.

Komponisten des heutigen Kabaretts sind Friedrich Hollaender, Werner Richard Heymann, Mischa Spoliansky, Victor Heermann, Stefan Meisel, Allan Gray, Clauberg, Michael Krauss, Hermann Krome. Victor Heermann hat eine Süße, etwas Lyrisches, das ein Altes Rokokolied besonders einprägsam macht oder Schiffers Chinoiserie oder zierliche Gedichte von Franz Hessel. Gelegentlich kann er allerdings auch etwas Robusteres (Wozu in’n Kintopp?) sachgemäß vertonen. Seine beste Interpretin bleibt seine Schwester Belly. Mischa Spoliansky stellt am schmissigsten den grotesken, vigilanten und prägnanten Rhythmus des modernen Getriebes dar. So brachte er Schiffers Frozzeleien, Vallentins Wenn der Frühling in die Höfe steigt, den Matrosensang und meine eigne Rummelplatz-Persiflage vom Wilden Mädchen Kuddly auf die wirksamste Pointe. Werner Richard Heymann ist ein Musiker von vielen Graden. Er hat die Melodie, die verführerische, einschmeichelnde, manchmal bis ins fast Süßliche entschwebende Melodie! Und er hat auch die Fähigkeit zur großen ernsthaften Aufmachung. So gab er die einfache Weise zu Ottakring, Ich und mein Freund, Cascan, Wiegenlied, die graziöse zu Kleine Stadt, Midinette, Schattenfox, den Aufwand für die Arie der gro(3en Hure Presse und das Lied der Fürstin Trubetzkoi, das Balladeske für Charlot und den Abenteurer, das Parodistische für Lulaley, Zirkus, Madagaskar. Mehring erklärte mir, der völlig adäquate Komponist für seine Dichtungen sei noch nicht gefunden. Trotz Friedrich Hollaender, der für mein Gefühl bis jetzt am sichersten einen eignen Brettlstil schuf, Texte von Mehring, in der Spannungsweite von Blocksberg bis Mein Herz mit reinster Einfühlung vertonte und oft mit Erfolg sein eigner Autor war. Amerikanisches Riesenspielzeug, Rattenfänger, Russischer Holzschnitt, Kleine Internationale sind auch vom Komponisten aus so gut bedacht, daß sie mit dem richtigen Schwung und soviel farbiger, graziöser Tonmalerei, wie jedes von ihnen bedarf, zum Gesamtkunstwerk von holdem „Wuchs sich runden. Und einmal haben Walter Mehring, Blandine Ebinger, Friedrich Hollaender miteinander das Idealkabarett doch zumindest vorgezeichnet.

Kategorien
1921 Biografisches Brief

Siegfried Jacobsohn freut sich über einen Brief Mehrings aus Paris

Kampen auf Sylt, am 23. Juni 1921

Dorbacke [?] erster Ordnung, heute kommt ein jauchzender Brief von Mehring aus Paris, der nach seiner Rückkehr, wie seine Mutti sagen würde, ein unerschöpfliches Füllhorn von ungeahnten Eindrücken über mich und mein geduldiges Blatt ausschütten wird. Und Du Eselsbrägen sitzt in solchem „Speisesaal“ auf Deinem Bierarm und kneifst Gussyn ebendorthin, weil Du in Paris nur als feiner Willem auftreten kannst. Jau, me schießt! Na, komm Du mir man bei Muttern! Ohne Gruß der Herausgeber.

Ich brauche schnellstens einen Titel für die kleine Kriegsgerichtsgeschichte.

Siegfried Jacobsohn schreibt diesen Brief am 23. Juni 1921 an Kurt Tucholsky. Jacobsohn war Herausgeber der Weltbühne. Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky kümmerten sich um das Blatt, wenn der Chef nicht da war. In diesem Brief spielt Jacobsohn auf Kurt Tucholsky und Gussy Holl an. (A.O.)

Kategorien
1938 Biografisches

Hertha Pauli beschreibt Mehrings Flucht aus Wien

Als Wien noch die Weltstadt war, in der das Haus Habsburg und der Walzerkönig regierten, spielte auch das Wiener Kaffeehaus eine ganz andere Rolle. Hier traf sich die große Welt, hier wurden Ideen geboren, Entscheidungen gefällt und Hoffnungen begraben. Im Kaffeehaus spiegelte sich wie auf einem kleinen Welttheater der Wandel der Zeiten. Die Figuren an den Stammtischen, Politiker, Dichter oder Schachmeister, traten entsprechend auf und ab. Die beiden berühmtesten Cafés aus der guten alten Zeit lagen nahe der Hofburg: das Café Herrenhof und das Café Central. Im Herrenhof traf sich Kronprinz Rudolf einst inkognito mit liberalen Journalisten, und im Central spielte vor dem Ersten Weltkrieg ein Herr Bronstein täglich seine Schachpartie, bis er in einem versiegelten deutschen Militärwaggon als Leo Trotzki in die Weltgeschichte einfuhr. Vor dem Zweiten Weltkrieg frühstückte ein neues Regierungsmitglied gern im Herrenhof. Jeder gute Ober kennt die Lesegewohnheiten seiner Stammgäste, und so legte er Dr. Seyß-Inquart stets geflissentlich die Zeitungen aus Deutschland auf den Tisch. War doch der Herr Minister 5sterreichs offizieller Verbindungsmann mit dem Dritten Reich.

Am Freitag, dem 11. März 1938, hatte ich gegen Mittag ein Rendezvous im Café Herrenhof — nicht mit Seyß-Inquart, den ich weder kannte, noch zu kennen wünschte, sondern mit zwei guten Freunden. Ich mußte mich beeilen, weil ich mich verspätet hatte. Ich war im Hotel Bristol von der amerikanischen Verlegerin Blanche Knopf empfangen worden, di sich zu meiner Freude für meine kürzlich erschienene Biographie von Bertha von Suttner interessierte.
Dieses Buch war in Deutschland ebenso schnell verboten worden wie das Buch der Friedensnobelpreisträgerin selbst, „Die Waffen nieder“. Aber auch in Wien hatte die Suttner-Biographie einen kleinen Wirbel verursacht: als ich im Rundfunk daraus vorlas, warfen Nazi Stinkbomben in das Studio. Blanche Knopf aber wollte die Biographie nach Amerika mitnehmen, obwohl es zur Zeit kaum erfolgversprechend schien.

Wenn man sich beeilt, kann man das Caf6 Herrenhof vom Bristol aus in weniger als zehn Minuten erreichen, nicht aber an jenem 11. März 1938. „Wenn man am Ring nimmer durchkommt, haben wir Revolution“, sagen die Wiener seit 1918. An jenem Tag hielten mich Polizeisperren auf, weil junge Nationalsozialisten vor der Oper aufzogen. „Heil Hitler!“ brüllten sie.

Fragend wandte ich mich an einen der Polizisten. Der zuckte die Achseln, aber ein zweiter — Polizisten gehen gern paarweise um — sah mich plötzlich scharf an. Was soll denn das heißen, dachte ich, während ich mich aus dem Staub machte. Die Polizisten folgten mir, und in meiner Angst geriet ich fast unter die Nazi-Demonstranten. Doch die ließen mich laufen, weil die Polizei hinter mir her war. Ich schlüpfte in den Eingang eines Durchhauses und konnte durch den Ausgang auf der anderen Seite unbemerkt entkommen.

Als ich im Herrenhof auftauchte, fand ich die Freunde besorgt. Die „Heil Hitler“-Rufe drangen wie ununterbrochenes Hundegekläff zu uns herein. „Auch die Polizisten sind Nazis“, flüsterte ich atemlos und verstummte, weil der Ober zu uns trat.

„Was darf‘s sein?“ fragte er wie immer. Ich bestellte eine Schale Gold — nur Kaffee, denn mir war der Appetit vergangen.

Im Kreis meiner Freunde erholte ich mich. Der eine war Dr. Carl Frucht, heute Informationschef der UNO-Weltgesundheitsorganisation in New Delhi, damals noch Student. „Carli“, wie wir ihn einfach nannten, war Mitbegründer der „Österreichischen Korrespondenz“, meiner literarischen Agentur, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, vor allem österreichische Autoren zu verbreiten.

Der zweite war Walter Mehring. Der in Paris lebende deutsche Dichter war 1934 für ein paar Tage nach Wien gekommen und ein paar Jahre geblieben. Unsere höfliche Anfragen nach seinen Werken hatte er zunächst unbeantwortet gelassen. Schließlich wurden wir auf einer Gesellschaft einander vorgestellt, und er schaute mich lachend an: „5 i e sind die Österreichische Korrespondenz?“ Er hatte offiziellen Herren ausweichen wollen, nicht einer höchst unoffiziellen jungen Dame. Noch heute spricht er manchmal von dem großen Bänderhut, den ich damals trug.
„Du mußt jetzt rasch fort“, riet ich ihm im Herrenhof. Seine Ausbürgerung stand auf der ersten Goebbelsliste, was ihn mit Stolz erfüllte. „Und du?“ fragte er mich. „Bei uns ist es doch etwas anderes“, erwiderte ich, und Carli setzte hinzu: „Wir müssen am Sonntag wählen.“ Für diesen Sonntag, den 13. März — das Datum machte mich abergläubisch —‚ hatte Schuschnigg die allgemeine Volksbefragung angesetzt: Ja oder Nein, für oder gegen ein freies, unabhängiges Osterreich. Das zu erwartende Ja schien uns über jeden Zweifel erhaben. Bekannte aus politischen Kreisen bekräftigten uns darin; nicht nur Guido Zernatto, Generalsekretär der Vaterländischen Front, Staatssekretär und einer unserer Autoren, prophezeite einen überwältigenden Sieg; auch Vizebürgermeister Ernst Karl Winter, Mehrings Verleger, der als Sozialist nach einer Anti-Nazi- Einheitsfront rief. Und der deutsche Botschafter von Papen hatte Alma Mahler-Werfel anvertraut, daß nicht einmal mehr die österreichischen Nazis öffentlich für den Anschluß eintreten konnten, da ja die Unterschrift des Führers seit der Zusammenkunft mit Schuschnigg in Berchtesgaden unsere Unabhängigkeit garantierte.

Der volle Preis dieser sogenannten „weiteren Normalisierung der österreichisch-deutschen Beziehungen“ war uns nur gerüchtweise bekannt. Die veröffentlichten Punkte schienen schlimm genug. Seyß-Inquart wurde Innenminister, andere Nationalsozialisten erhielten Schlüsselstellungen, und für Naziverbrecher, wie die Dollfußmörder, gab es eine Generalamnestie.

Als die Nachricht von Schuschniggs Canossagang bekannt wurde, hatte ich Zernatto in der Vaterländischen Front angerufen. „Der Bundeskanzler in Berchtesgaden?“ rief ich entsetzt. „Wie konnte er nur?“ „Das hab ich ihn auch gefragt“, antwortete der Staatssekretär.

„Bis hierher und nicht weiter“, erklärte Kurt von Schuschnigg nach seiner Rückkehr. Er sprach im Parlament, neben der Büste seines Vorgängers Engelbert Dollfuß, der 1934 ein Opfer der Nazis geworden war. Die große Kampfansage war erst vorgestern erfolgt, als Schuschnigg in Innsbruck, seiner Tiroler Heimat, verkündet hatte: „Man‘der, s‘isch Zeit! Am Sonntag wird abgestimmt“ — und mit dem Ruf schloß: „Rotweiß-rot bis in den Tod!“

Brausender Jubel war ihm gefolgt. „Rot-weiß-rot bis in den Tod!“ Wenn wir auch den Feind schon in den eigenen Reihen wußten, wir wollten kämpfen. Wir wollten die Mörder überrumpeln, ihnen keine Zeit zum Gegenschlag geben. Die Wahl sollte ihnen den Wind aus den Segeln nehmen.

Selbst Mehring, der Schwarzseher, mochte keine Warnungen hören und blieb. Hatte man ihm nicht schon 1934 in Paris von der Fahrt zu den „Austrofaschisten“ abgeraten? Im Zug nach Wien erzählte ihm dann ein Mitreisender, daß sein neuer Gedichtband „Und Euch zum Trotz“ in Österreich verboten worden sei. Der Herr trug das Buch bei sich und bat voll höflicher Bewunderung um ein Autogramm. „Wer sind Sie denn?“ wollte Mehring wissen.
„Ich bin der Zensor“, kam es zurück.

Später, beim Heurigen, bezeichnete Walter sich manchmal als „Wahl-Wiener“. Jetzt schien ihm, nach dem alten Witz aus dem Ersten Weltkrieg, unsere Lage „hoffnungslos, aber nicht ernst.“

„Ich lasse euch nicht allein“, erklärte er an jenem März- morgen im Herrenhof. Wenn alle Stricke reißen sollten, glaubte er nämlich, uns nach Frankreich retten zu können. Er hatte gute Beziehungen zum Quai d‘Orsay.

Unser Gespräch wurde plötzlich unterbrochen. „Herr Dr. Seyß-Inquart, bitte“, rief der Ober. „Berlin am Apparat!“

Am Nebentisch erhob sich ein Herr und ging dicht an uns vorbei zum Telephon in die Garderobe. In diesem Augenblick wurde mir plötzlich bewußt: diesem Mann untersteht jetzt unsere Polizei!

Auf dem Sims hinter unserm Ecktisch standen liebliche Barockengelein aus Bronze. Auf einen davon zeigend, flüsterte ich Mehring ins Ohr: „Soll ich ihn damit erschlagen?“

Walter schüttelte den Kopf. „Hilft nichts — es sind zu viele.“

Der Innenminister kam an seinen Tisch zurück, zahlte und eilte hinaus. Besorgt blickte der Ober ihm nach. „Sehr nervös, der Herr Doktor“, bemerkte er vertraulich zu uns. „Dem schmeckt heut‘ net amal sei‘ Apfelstrudel.“

Was hinter den Kulissen vorging, erfuhr ich erst viel später von Guido Zernatto im Exil. Seyß-Inquart begab sich nach diesem Anruf aus Berlin ins Bundeskanzleramt, wo man ihn schon überall gesucht hatte. Weder in seinem Büro noch in seiner Advokatenkanzlei war er zu finden gewesen; auch in der früher illegalen Landesparteileitung in der Seitzergasse konnte man ihn nicht erreichen. Nur sein Wagen parkte davor.

Indessen liefen im Bundeskanzleramt immer bedrohlichere Meldungen ein. An der bayrischen Grenze und in München sammelten sich deutsche Truppen; in der Grenzstadt Passau wurden im Laufe des Tages Militärtransporte mit 40.000 Mann erwartet, und in Niederösterreich und Wien rotteten sich SA- und SS-Verbände zusammen.

Man hoffte, Seyß-Inquart werde beruhigend eingreifen. Noch tags zuvor, am Donnerstag, dem 10. März, hatte er sich bereit erklärt, für Schuschniggs Volksabstimmung im Rundfunk zu sprechen. Daß er unterdessen im Herrenhof — einem gut gewählten, neutralen Ort — mit Berlin telephonierte, kam erst heraus, als er mit seinem Kabinettskollegen, dem Minister ohne Portefeuille Glaise von Horstenau, nun endlich im Bundeskanzleramt erschien.
Die beiden Herren überbrachten ein Ultimatum. Der Führer wünschte eine Verschiebung der Wahl um vier Wochen; dann sollte sie unter der Leitung von Seyß-Inquart vor sich gehen. Wurde das Ultimatum abgelehnt, würden die beiden Minister demissionieren und jede weitere Verantwortung ablehnen. Sie gaben dem Bundeskanzler für seine Entscheidung bis ein Uhr mittag Zeit. Eine knappe Stunde also.

Eine Absage der Wahl schien Schuschnigg unmöglich. Er könne die technischen Vorgänge ändern, nicht aber den Termin verschieben, erklärte er und gab Zernatto den Auftrag, mit den beiden Herren wegen einer Fristverlängerung zu verhandeln. Indessen wollte er die Lage mit Bundespräsident Miklas besprechen.

Dr. Seyß versicherte, er habe bezüglich der Frist bereits sein möglichstes getan, doch ließ er sich schließlich herbei, Berlin zurückzurufen, und kam mit einer Verlängerung um eine weitere Stunde zurück.

Im Vorzimmer des Bundeskanzleramtes wartete eine schweigende Menschenmenge, während unausgesetzt die Telephone klingelten. So verging die Zeit, die letzte Frist, die Seyß-Inquart gewährt hatte. Zernatto redete auf ihn ein, diese Taktik, diese Politik könne unmöglich von ihm ausgehen — sie stehe in völligem Widerspruch zu seiner bisherigen Haltung . . . Der Innenminister nickte. Es liege nicht mehr bei ihm, meinte er. Die Entscheidung falle jetzt anderswo.
„Wo?“
„In Berlin.“
„Oder auf den Barrikaden“, erwiderte Zernatto.

Nach kurzem Überlegen entschloß Seyß-Inquart sich zu einem weiteren Gespräch mit Göring, der drüben die Zügel führte. Dieser Anruf wurde in der Bundes- zentrale abgehört. Wie sich später herausstellte, entsprach es den Tatsachen, was Seyß-Inquart darüber berichtete: erst habe Göring ihn warten lassen, um mit dem Führer zu reden; dann habe der Marschall das Ultimatum für verfallen erklärt und hinzugefügt:
„Teilen Sie das Schuschnigg mit.“
Seyß-Inquart wandte sich an Zernatto. „Wollen wir dem Bundeskanzler die Nachricht überbringen?“
Der österreichische Staatssekretär antwortete: „Das ist Ihre persönliche Aufgabe.“
Der Innenminister zuckte die Achseln. „Ich habe nur die Nachricht zu überbringen, aber keinen Einfluß. Ich bin nichts als ein historisches Telephonfräulein.“

Österreichische Propagandaflugzeuge flogen über den Himmel, und Millionen von Wahl-Flugzetteln flatterten auf die Straßen von Wien herab, in wilde Tumulte hinein. Als wir aus dem Herrenhof kamen, gerieten wir zwischen schreiende Fronten.

„Rot-weiß-rot bis in den Tod!“ schallte es aus unseren Sendern. „Heil Hitler!“ gellte es dazwischen. Ich pfiff die Marseillaise vor mich hin, aber es hörte mich keiner. Meine Kampflust übertraf meine Furcht. Noch immer siegesgewiß, zogen Carli und ich durch das Gewühl, während Mehring sein Hotel am Westbahnhof aufsuchte, um wenigstens seine Bibliothek zusammenzupacken. Was gleichzeitig im Bundeskanzleramt vor sich ging, ahnten wir nicht.

Wir gelangten heil in unser „Büro“, das nur aus einem Zimmer meiner Mansardenwohnung in einer CottageVilla bestand. Hier war es noch ruhig, als sei nichts geschehen. Friedlich lagen die Manuskripte unserer Autoren in den Fächern eines hohen Regals. Sämtliche politische Richtungen von links nach rechts waren vertreten; nur die nationalsozialistische fehlte.
Wir waren stolz auf unsere Liste. Sie reichte vom Dichter Franz Theodor Csokor, der als Vertreter Österreichs am P.E.N.-Kongreß in Dubrovnik für den Ausschluß der Nazis gestimmt hatte, über Alfred Polgar und Egon Friedell bis zu den Auslandsrechten von Schuschniggs „Dreimal Osterreich“.

An jenem Freitagnachmittag arbeiteten wir wie immer, weil es uns am wichtigsten schien, Ruhe zu bewahren. Abends wollte ich meinen Vater besuchen, der mit seiner jungen Frau im 9. Bezirk wohnte, in der Nähe des Biochemischen Instituts, seiner Arbeitsstätte. Meine Mutter, einst Mitarbeiterin der Neuen Freien Presse, Frauenrechtlerin und Pazifistin, lebte schon lange nicht mehr.

Von der Straßenbahn aus schien alles ruhiger, denn wir berührten die inneren Bezirke nicht. Mein Vater empfing mich bedrückt, die Stiefmutter kampflustig. Wir drehten das Radio an. Nach sieben Uhr sprach unser Bundeskanzler:
„Der heutige Tag hat uns vor eine schwere und entscheidende Situation gestellt. Ich bin beauftragt, dem österreichischen Volk die Ereignisse des Tages zu berichten. Die deutsche Reichsregierung hat dem Herrn Bundespräsidenten ein befristetes Ultimatum gestellt, nach welchem der Herr Bundespräsident die Regierung nach den Vorschlägen der deutschen Reichsregierung zu bestellen hätte, widrigenfalls der Einmarsch deutscher Truppen für diese Stunde in Aussicht genommen wurde. Ich stelle fest, vor der Welt, daß die Nachrichten, die in t3sterreich verbreitet wurden, daß Ströme von Blut geflossen seien, daß die Regierung nicht Herr der Lage wäre und aus eigenem nicht hätte Ordnung machen können, von A bis Z erfunden sind . . .“
Ich atmete auf.
„Der Herr Bundespräsident beauftragt mich, dem österreichischen Volk mitzuteilen, daß wir der Gewalt weichen. Wir haben, weil wir um keinen Preis, auch in dieser ernsten Stunde nicht, deutsches Blut zu vergießen gesonnen sind, unserer Wehrmacht den Auftrag gegeben, sich ohne Widerstand zurückzuziehen …“
In meinen Ohren brauste mein nicht-deutsches Blut, so daß ich nur mehr den Schluß hörte.
„So verabschiede ich mich in dieser Stunde von dem österreichischen Volk mit einem deutschen Wort und einem Herzenswunsch: Gott schütze 3sterreich!“
„Gott“, sagte meine Stiefmutter.
Aus dem Radio klang Musik, vertraute Klänge von Joseph Haydn. Mein Vater schien plötzlich erleichtert. „Es kann doch nicht so schlimm sein“, meinte er. „Die spielen ja unsere Kaiserhymne.“
Ich schaute ihn nur an. Seit dem Zusammenbruch der Monarchie war das „Gott erhalte“ nicht mehr gespielt worden. Wohl aber sang man dieselbe Melodie mit anderem Text: „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt . . .“

Wäre es nicht zum Weinen gewesen, ich hätte gelacht. Doch mir kamen auch keine Tränen. Ich starrte ins Leere. Ein neues Lied kam durchs offene Fenster: „Brüder, wir marschieren, bis alles in Scherben fällt“, sang und klang es da draußen, „heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt!“
Ich wollte fort — wohin? „Wiedersehen jenseits der Grenze“, formten meine Lippen.
Papa schloß das Fenster. „Um Gottes willen, wenn dich einer hört“, flüsterte er. Und dann: „Ich bleibe.“ Nur meine junge Stiefmutter rief mir nach: „Denk an uns, wenn du an der Grenze bist!“
Später ging dann mein Vater über die Grenze — sie blieb.
Auf der Straße rings um mich brüllende Stimmen. „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ Es gibt keine Barrikaden.
Ich drücke mich in eine Telephonzelle. Die Verbindung klappt. „Komm gleich zu mir“, sage ich zu Mehring. „Ja“, antwortet er und hängt ein. Oder sind wir unterbrochen? Ich bin plötzlich allein. Nur Walters Stimme klingt mir noch im Ohr: „Gott geb‘s, daß nimmermehr loskomm‘ der große Krebs . .
Seine „Sage vom großen Krebs“ hatte er schon vor dem Reichstagsbrand geschrieben — jetzt kam der Krebs auf mich zu: „Wenn die berauschte Kreatur vom Traum erwacht“ — Schritt für Schritt — „geht alles rückwärts und verquer, rückwärts und verquer zu Hexenbränden und Judenpogrom . . . ! !“
Der Krebs hat plötzlich viele Gesichter. „Nieder mit euch“, schreit er. „Hör mich, Volk, welch‘ du hier lebst .. .“ Die Volksgenossen umringen mich, tanzen, singen: „Wenn‘s Judenblut vom Messer spritzt, dann geht‘s noch mal so gut“ — das Horst-Wessel-Lied. Ich laufe, laufe schneller als heute mittag — „dann kreiste zurück die Jahrhundertuhr zur ewigen Mitternacht“ — er kommt hinterher, hinterher. .. „Es geht um, es geht um, der große Krebs“ … Gott schütze Österreich. Hinter mir fällt die Tür ins Schloß. Ich bin zu Hause. Auf dem Boden türmen sich verstreute Manuskripte. Es ist still. Dann nimmt mich jemand in die Arme, als sei ich aus der Hölle wiedergekommen.
„Daß du nur da bist“, sagte Carli dann, und wir schauten uns an.
„Was machst du denn hier?“ fragte ich. „Die Manuskripte einpacken.“
„Die können wir doch nicht mitnehmen — ?“
„Wollen wir auch nicht“, erklärte er mir. „Sie müssen aus dem Haus, wenigstens die gefährlichsten.“
„Und wohin?“
„Ins Gebüsch, über die Gartenmauer. Da sieht sie lange keiner.“
Die Idee schien gut, denn verbrennen konnten wir nichts; wir hatten eine Gasheizung, keinen Ofen. „Nur laß mich jetzt nicht allein“, bat ich. Und Carli blieb. Nach neun Uhr kam Mehring, weiß wie die Wand. Die tobenden Horden hatten sein Taxi am Gürtel aufgehalten. Der Chauffeur war durch Seitengassen entkommen, schimpfte auf die „Saubagasch“ und vermittelte die neuesten Nachrichten; im ersten Bezirk sei kein Durchkommen mehr, im Bundeskanzleramt säße die SS, Schuschnigg sei verhaftet … Mehring stürzte ans Telephon. „Wen willst du anrufen?“ fragte ich.
„Paris. Einen Freund am Quai d‘Orsay.“ Seine Finger umklammerten schon den Hörer.
Die ganze Nacht suchte er von meinem Telephon aus Paris zu erreichen. Daß dies für uns gefährlich sein könnte, war uns nicht klar; wir begriffen bloß, daß die Verbindung nicht zustande kam.

Mit fieberhafter Hast taten wir sinnlose Dinge, ohne daß es uns bewußt wurde. Vielleicht einfach deshalb, weil das Leben seinen Sinn verloren hatte. Carli rannte unentwegt mit ‘dem Anti-Nazi-Material hinunter, Mehring telephonierte, ich räumte alte Sachen um.
Gegen Mitternacht meldete das Radio: „Bundeskanzler Seyß-Inquart hat zur Wiederherstellung der Ordnung in Berlin um den Einmarsch deutscher Truppen ersucht . . .“ Wir wollten es nicht glauben und fingen an herumzutelephonieren. Bei Zernatto hob niemand ab; wahrscheinlich war auch er schon verhaftet. Wir versuchten noch andere Leute anzurufen. Csokor meldete sich: „Packt ein“, sagte er. „Wir sprechen uns morgen.“ Wir saßen mitten unter den restlichen Manuskripten und rührten uns nicht. Mehring wagte sich nicht mehr in sein Hotel: im Morgengrauen ging Carli hin, um ihm die nötigsten Sachen zu holen. Er kam mit einem Köfferchen und der Meldung zurück, daß Mehring bereits um zwei Uhr früh von ‘der Gestapo gesucht worden war. Gott sei Dank nicht bei mir
Als Morgengruß schmetterte uns der Rundfunk entgegen: „Die erbetenen deutschen Truppen haben die Grenze überschritten. Reichsführer Himmler ist im Hotel Imperial eingetroffen, der Führer nach Wien unterwegs.“

Wann würde die Gestapo bei mir auftauchen?

Wir schlichen uns auf die Straße. Deutsche Bomberbrausten mit Donnerhall und aufgemalten Hakenkreuzen über den Himmel, so dicht, daß für uns die Sonne nicht aufging. Wir drückten uns in eine dunkle Ecke in einem Döblinger Caf6. Der Ober brachte uns zwei Zeitungen, von denen eine schon längst als Naziorgan bekannt war. „Die anderen sind beschlagnahmt“, sagte er. „Die Deutschen kommen.“
Mehring bestellte Cognac statt Kaffee. Den Ober wunderte nichts mehr. „Walter“, sagte ich, „wir müssen dich dann gleich zur Bahn bringen“, worauf er noch einen Cognac bestellte. Carli und ich tranken schwarzen Kaffee.
Wir zahlten und gingen. „Fahren muß jeder von uns allein“, meinte Carli auf dem Weg. „Erst Sie, Mehring, dann die Hertha — dann ich.“ Es war die Reihenfolge unserer Gefährdung. Keiner widersprach. Allein war man wohl sicherer.
Am Westbahnhof sahen wir schon von weitem die schwarzen Uniformen um den Haupteingang. Mehring kehrte um: „Ich kann nicht . . .“
Wir gingen ziellos umher; unversehens gerieten wir fast zu nahe an Walters Hotel. „Du mußt fahren“, flüsterte ich ihm zu. Ein hoffnungsloses Achselzucken war die Antwort.

Ich redete weiter auf ihn ein. „Wir werden bei mir auf Nachricht von dir warten — wenn bis Abend kein Telegramm aus Zürich kommt, suchen wir dich — wenn es eintrifft, kommen wir nach . ..
„Was soll ich denn telegraphieren?“ fragte Walter tonlos.
Wir einigten uns auf „Grüße, Onkel Emil“ — der Name fiel uns aus Kästners „Emil und die Detektive“ ein. Durch einen unbewachten Seiteneingang kamen
wir in den Bahnhof. Carli ging zum Schalter; ich plauderte mit Mehring auf französisch, weil er statt eines Passes nur ein französisches Reisepapier bei sich trug. Auf dem Perron wartete schon der Zug.

Mit dem kleinen Koffer reichte Carli Mehring seine Fahrkarte. „Schnellzug Wien—Zürich-—Paris, einsteigen!“ rief der Schaffner. Mehring ging auf den Perron hinaus, da trat ein SS-Mann auf uns zu, und im Schatten der schwarzen Uniform schien die Filigranfigur des Dichters vollends einzuschrumpfen.
„Wer sind Sie?“ fragte der SS-Mann und wies auf Mehring.
Carli trat dazwischen. „Das ist unser Französischlehrer“, sagte er rasch und hielt dem Nazi wie zum Beweis seine Studentenkarte hin.
„Unser Französischlehrer“, wiederholte ich beflissen. Der Uniformierte wandte seine Aufmerksamkeit uns zu. Bösartig musterte er den Ausweis. Ich hörte
schwaches Geräusch, und ein Blick aus dem Augenwinkel bestätigte mir: Mehring war verschwunden. Der Zug stieß einen schrillen Pfiff aus. Eine schmale Gestalt sprang in den letzten Wagen. „Aufhalten!“ schrie irgendwer.
Wir erstarrten. Aber die SS-Leute stürzten sich auf eine kleine Gruppe, die noch einsteigen wollte. Carli hatte recht: Gruppen sind gefährdeter — sie waren umstellt und wurden abgeführt, während der Zug sich langsam aus der Bahnhofshalle ins Freie bewegte und das Rattern der Räder mit dem Donner der über uns kreisenden deutschen Flugzeuge verschmolz.

Dieser Auszug stammt aus dem Buch „Der Riss geht durch mein Herz“ von Hertha Pauli. In ihm beschreibt sie ihre Flucht aus Österreich und Frankreich, die sie zusammen mit Walter Mehring unternahm. Der ganze Band ist ein Muss für alle, die mehr über Walter Mehring erfahren wollen.

Kategorien
1930 Fotos

Walter Mehring sitzt vor Alfred Kerr auf der Schulbank

Alfred Kerr lehrt Walter Mehring und andere in der "Schulklasse deutscher Dichter", wie der Hörfunk funktioniert.
Alfred Kerr lehrt Walter Mehring und andere in der "Schulklasse deutscher Dichter", wie der Hörfunk funktioniert.

Im Februar 1930 ist Walter Mehring wieder Schüler. Neben Max Hermann-Neiße sitzt er in der ersten Reihe in der „Schulklasse deutscher Dichter“ vor dem „Lehrer“ Alfred Kerr, der in einer launigen Stunde den Hörern an den Geräten aktuelle Literatur vermittelte. Die „Schüler“ mussten eigene Texte vortragen. Alfred Kerr dozierte fröhlich.

Kategorien
1925 Rezensionen Zeitschriften

Max Herrmann-Neiße blickt 1925 auf neue Kabarettdichtung

Neuere deutsche Kabarettdichtung

Lange fehlten in Deutschland jene Dichter des packenden, urwüchsigen, aktuellen Schlagers, die in Frankreich die Entwicklung des Kabaretts zu einem eignen vollwertigen Kunstzweige früh gefördert hatten, gab es gar keine Schriftsteller, die spezifisch dahin begabt waren, ein Ereignis sofort rücksichtslos zu entblößen und unterm amüsanten Pfeilregen des Witzes zu begraben. Gab es keine Künstler, denen jene leichte Musikalität im Blute liegt, die im einprägsamen Rhythmus und mit dem volkstümlichen Gedächtnisanhalt des Refrains gleichsam spontan Empfindung und Meinung sich äußern läßt. Gab es auch keine abseitigen, untergründigen Urwuchspoeten, Bänkelsangdichter voll Dämonie und satzungsferner Doppelbödigkeit.

Die Textlieferanten der ersten deutschen Überbrettlära waren lyrische Limonadenfabrikanten (Ernst von Wolzogen, Bierbaum), platte Bonmotdrechsler und Bonhomiesatiriker (Pserhofer, Rideamus). Und die Dichter, die damals zufällig im Rahmen dieser Kabaretts auftraten, schrieben nicht fürs Kabarett und schrieben nicht so, daß ihre Werke irgend eine Möglichkeit gehabt hätten, vom Kabarett aus zu wirken. Von wirklichen
Künstlern gemachtes, Kabarett, das eine Welt für sich darstellte, war erst das der »Elf Scharfrichter« mit den Dichtern Wedekind, Lautensack. Leo Greiner, Gumppenberg, Ludwig Scharf. Dann gab es in den drei, vier Jahren, die dem Weltkrieg vorausgingen, eine Dichtung, die zwar nicht direkt fürs Kabarett gemacht war, aber ihrer Struktur nach einem wirklich künstlerischen und selbständigen Kabarett geeignetes Material zu bieten hätte. Die impressionistisch-naturalistische Literaturepoche hatte es in ihrem Ausgang zur Groteske gezogen: nach der Erringung eines hohen formalen Niveaus führte man akrobatische Wagestücke und verblüffende Fingerfertigkeiten vor, hielt Berlins Großstadtsensationen in grotesk frisierter Verklärung lyrisch fest. Die Reihe der Dichterexzentriks war groß und mannigfaltig, Scheerbart, Meyrink, Mynona waren ebenso darin wie Hardekopf, van Hoddis, Lichtenstein, Blass, Hugo Kersten und das Autorenterzett der »Kriminalsonette«. Die Schwindelatmosphäre des Kriegs- und Nachkriegsbetriebs nimmt die deutsche Abart des Dadaismus dann einfach als Technik auf, erbarmungslos, exakt, mit nötiger Kaltschnäuzigkeit, marschartigem Draufloshämmern, marktschreierischer Inseratenstrophe, marionettenhafte Geschäftigkeit, betreibt die Tollheit als Gewerbe und schafft so auch für ein selbstherrliches Kunstkabarett bizarre, klischeefeindliche Vorlagen in Gedichten von George Grosz, Richard Huelsenbeck, Hans Arp, Kurt Schwitters. Die Reihe der Außenseiter-, Urwuchs-, Unbandpoeten, jener Dichter, die durch die Konventionslosigkeit,
ja Vogelfreiheit ihres Werks für ein geistiges, kämpferisches Kabarett wichtige Anreger blieben, setzte sich inzwischen von Wedekind, Ludwig Scharf, über den gesinnungsechten Barden Erich Mühsam, die lebensechte, schicksalshafte Bohemienhaltlosigkeit der Emmy Hennings, den Dramatiker Bert Brecht, der zugleich der erschütternde Bänkelsänger der milden Moritat Apfelböck oder die Lilie auf dem Felde und der großartig aufreizenden Ballade vom toten Soldaten ist, bis zu dem in seiner Art einmaligen Daseinsbohemien, Grotesketragiker Joachim Ringelnatz fort. Das ist der Ausbund von einem heutigen Vagantendichter, der erschüttert, wie nur die Einheit von Dichter, Werk, Leben erschüttern kann. Ein Original, etwas herrlich eralkoholisiertes, Urviechiges mit dem niederträchtigen Dichterblick für die Kleinzüge allen Außenseitertums, dem etwas für seinen Bezirk so Klassisches entstammt wie Noctambulatio. In den Turngedichten, in den Phantasien des Matrosen Kuddel Daddeldu (beide bei Kurt Wolff, München) und im Geheimen Kinder-Spiel-Buch (Gustav Kiepenheuer, Potsdam) schuf er sich eine ganz eigentümliche barocke Ausdrucksform, einen Ton und Rhythmus, den nur er so hat, für eine ganz eigne Erlebniswelt. Das sind drei Maskierungen oder Demaskierungen ein und desselben Wesens.

Dieser Seemann Kuddel Daddeldu, dieser Turnerschreck und dieser Wegweiser für Enfants terribles – es ist mehr als» ernsthaft selbstparodistische Laune«, es sind keine Fiktionen, keine »erdichteten Gestalten«, es ist der Zwang, seine verquere, verfahrene, halb lachhafte, halb melancholische Lebenschose in Zickzackbahnen zu erledigen. Alles ist gleich echt und verflucht schicksalhaft, der Ekel an der strammturnerischen deutschen Umwelt, daß man das Kotzen kriegt, sich in nebulose seemännische Grogseligkeiten flüchtet, wo man von einst erlebten oder auch nur erhofften exotischen und erotischen Abenteuern träumt und schließlich in allen als Kind dasteht, boshaftes, himmlisches Kind, dem alles nur Spiel ist und nach automatischem Widerpart und Schabernack der kaum von Trunkenheit zu unterscheidende Urweltschlaf kommt, der selig lallend von nichts mehr weiß. Es ist dieselbe göttliche Naivität hier wie in den Turn- und Seemannsgedichten, und dort wie hier grenzt sie an die raffinierteste Bewußtheit exzentrischer Technik, aber dabei ist kein Widerspruch, wer selbst ein vielfältiger, hin und her gerissner Dichtermensch ist, kennt das, wie man nah nebeneinander lindeste Schwärmerei, schadenfrohen Zynismus, Liebenswertes und Selbstzerstörerisches haben kann und muß.

Dieselben Grundelemente finden sich in dem Kinder-Spiel-Buche wie in den andern Ringelnatzwerken: der energische Zugriff, das wurschtige Sichfallenlassen, die schnuppige, ruppige, weil absichtslose, so doch im letzten Sinne keusche Eindeutigkeit, die keine Zote ist, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der man auch diesen Dreck des Lebens, der einen immerzu plagt, hinschmeißt. Und auch die scheinbare Herzlosigkeit und Grausamkeit in solchen Versen ist kein Gefühls- und Gewissensmangel, eher der Überfluß an Gefühl und Gewissen, der sich mit der faktischen Herzlosigkeit der Mitbürgerschaft zu deren Ungunsten ausgleicht. Da gibt es »Abzählreime«, die in ihrer scheinbaren Zufälligkeit eine Weltanschauung enthalten, nämlich die tiefe Überzeugtheit vom irrsinnigen, hoffnungslosen Nebbichtum unsrer ganzen Erdenexistenz, und die Ratschläge zu neuen Kinderspielen sind ganz rebellisch, zielen auf Attentat, Unruhe, Verwirrung ab, geben glänzend unehrerbietige, blasphemische Maximen und sind schließlich
alle» Nur für Kinder, die keinen Schiß haben «.

Der spezifische Kabarettdichter, dessen besonderes Talent es ist, die fürs Brettl notwendige Originalität, Vielfalt, Tempobeschwingtheit und scharfe Pointierung zu haben, der eine neue Art Chanson, eine ganz dem Rhythmus der Zeit und dem Rhythmus heutigen Kabaretts entsprechende Coupletkunst begründete, ist Walter Mehring. Was ihn vor allem zu seinem Metier befähigt, ist diese rhythmische Feinfühligkeit, die Treffsicherheit, den richtigen Vortragsschwung jedem einzelnen Couplet gleich mitzugeben, daß schon im Takt die Situation sich ausdrückt und Melodik und Stimmung sich vollkommen decken. Dabei ergibt sich für die verschiedenen Gelegenheiten eine dementsprechende Abwechslung: eine Erinnerung an den Tonfall Bruantscher Schreckenslieder, die alte Kehrreimweise, eine Simultanität, die von der »Fortgeschrittnen Lyrik« manches nutzte, und schließlich das originellste Produkt eines freien Rhythmusses der Couplettechnik. Es muß noch einmal konstatiert werden, daß der nun so oft dünner nachgemachte Vortragselan, der die rasende Mechanik des Großstadtbetriebes exakt ausdruckt und so etwas wie einen Expressionismus der Brettldichtung, eine im Automobiltempo losgelassene, gebremste und Kurven nehmende Momentaufnahme darstellt, zuerst und am intensivsten moussierte in solchen Mehringoriginalen wie Achtung Gleisdreieck, Sensation, Salto mortale.

Sein neuester Band Europäische Nächte (Elena Gottschalk Verlag, Berlin) ist sehr geschickt eingekleidet als eine »Revue in drei Akten und zwanzig Bildern«. Die drei Akte »Quer durch Mauern«, »Ländliche Romanze«, »Nun ade, du mein lieb Heimatland« gliedern die Sache in Berlinisches, Ländliches und Internationales, wobei für Ankurblung, Atemholen, Steigerung und radikal brüsken Ausklang, wie für die richtige kabarettistische Vielfalt von sentimentalem, Aggressivem, Zärtlichem und Barschem, Schwärmerei und Abfuhr glänzend gesorgt ist. Das Ganze ist geradezu ein vorbildlicher Grundriß für ein ideales Kabarettprogramm. Und es ist auch gewissermaßen ein historisches Kabarettbuch, denn es enthält alle die Schlager, die – von Werner Richard Heymann, Friedrich Hollaender, Mischa Spoliansky komponiert – ihren Platz haben im Repertoire wesentlicher deutscher Kabarettküristler. Es enthält auch die beiden besten kabarettgemäßen Persiflagen, die ich aus den Programmen der letzten Kabarettjahre kenne: die Oberammergau-Parodie und den Russischen Holzschnitt. Auch in diesem Bande erweist sich, daß Mehring viele Register beherrscht, von einer außerordentlichen Wandlungsfähigkeit und Mannigfaltigkeit ist. Da gibt es so pompöse Monatrestücke wie die Arie der großen Hure Presse, Blocksberg, Bravournummern wie Dressur, Der Rattenfänger von Hameln, Amerikanisches Riesenspielzeug, Balladen wie die vom »Abenteurer«,vom »Highwayman«, von den »roten Schuhen« verschlagne Romanzen wie Mein Herz, unscheinbare, sanfte, dennoch mit geheimer Schadenfreude geladne Liedchen wie Die kleine Stadt, Bergerette. Dann wuchtige, Stimmung der Großstadt in unendlicher Schwermut gestaltende Dichtung Wenn wir Stadtbahn fahren, radikale Attacke: Die Maschinen, wundervoll Ironisches wie Ziehende Schafherde, bestes Tingeltangel: The man in the moon, robustes Chanson von den »Gardekürassieren «unbürgerliche, vagabundenfrohe Justamentsstrophen: Die Vier auf der Walze und Choral für Seemannsleute (übrigens tadellos das Couplet aus dem Monologischen ins Vielstimmige führend), und schließlich eine überlegene Rücksichtslosigkeit in dem herrlichen Monolog Der Angeklagte hat das letzte Wort. Mit dem Gruß »Doch nie stirbt mein Gelächter« stößt das Abenteurerschiff vom belämmerten
Heimatsufer ab, und fast schon unter Palmen stellt ein sehr, sehr über Europa schwebender Epilog den »Tiefen Grund « fest, warum bei uns zulande der mörderische Kuddelmuddel herrscht. Kein sogenanntes »ernsthaftes« Gedichtbuch der letzten Zeit hatte mich so restlos in seinem Bann wie dieses in jeder Hinsicht freie, und daß es sein Verfasser mit einem phantastischen Umschlagsbild und hübsch unpedantischen, nach Lust und Laune hingesetzten Textzeichnungen versah, schuf ihm vollends die rechte tändelfrohe, gottlob unseriöse und unbedingte Kabarettatmosphäre.

Von Marcellus Schiffer, der heut am eifrigsten die Kabaretts mit Texten beliefert, eine direkt routinierte Begabung für das nicht gerade tiefe, unterirdisch gefährliche, doch aber geschmackvolle, von einem wirklich witzigen Intellekt zeugende Chanson hat, existiert leider noch keine Buchpublikation. Erich Weinert, einst Mitglied des Leipziger Kabaretts »Die Retorte«, das eine künstlerisch selbständige, ein eignes Gesicht wahrende
Institution war, heut in Berlin beliebt, schrieb Couplets, Verssatiren, gereimte Plaudereien, deren gemeinsames Merkmal ist, daß sie ganz leicht aus dem Ärmel geschüttelt wirken und an gangbaren Pointen reich sind. Es gibt zum Beispiel von ihm eine der köstlichsten Parodien auf Dirnenchansons und eine gute Persiflierung der »neuen Deutschen Nationalhymne«, nämlich – des Bananenlieds. Seine besten Sachen stehen aber leider noch nicht in dem Bändchen Der Gottesgnadenhecht und andre Abfälle (Elena Gottschalk Verlag, Berlin), obwohl darin auch schon so ehrfurchtslos aggressives Geschütz wie das Titelgedicht, so brauchbare Verhohnepieplungen wie Der Akadem, so bittre Mahnung wie republikanischer Abend enthalten sind.

Eine Sache für sich ist Hans Reimann, eine ganz persönliche Sondernummer, eine Art sächsischer Otto Reutter von fortschrittlicherer Geistigkeit, jedenfalls natürliche Originalität, ein Kerl von eignem Wuchs und Gesicht. Seine neueste Publikation Mein. Kabarettbuch (mit Zeichnungen von Paul Simmel bei Steegemann, Hannover, erschienen), parodiert in seinen besten Partien gutpointiert kulturelles und literarisches Talmi.
Reimann konzentriert da ergötzlich Schiller, schafft die Sächsische Nationalhymne, revidiert die Schöpfungsgeschichte, besingt den Untergang des Abendlandes gebührend, stellt in einer Hymne Rabindra und Fern Andra als Lieblinge des Volks auf den Sockel des gemeinsamen Denkmals (Pose: Schiller-Goethe auf dem ‚Weimarer Denkmal), knöpft sich gelassen und kundig Caesar Flaischlen, Bonsels und Jungnickel vor.

Max Herrmann-Neiße: Neue deutsche Kabarettdichtung; in: Die neue Bücherschau, 3. Foöge, Heft 1, 1925.

Kategorien
1933 2011 Lyrik Zeitschriften

Die Sage vom großen Krebs

Sandra Hüller rezitiert Walter Mehrings „Sage vom großen Krebs“.

Der Text ist am 27. Februar 1933 in der Weltbühne erschienen, am Vorabend des Reichtsgasbrands. Diese Nummer 9 des 29. Jahrgangs war die vorletzte. Das Heft wurde noch von Carl von Ossietzky redigiert bevor er verhaftet wurde.