Walter Mehring
(zu Gast beim letzten Schriftstellertreffen in
Heidelberg bevor wir in die Gewerkschaft
Druck und Papier eintraten)
Da ist nichts wieder gut zu machen
keine Novemberstunde
mittags um vier
holt ein was wir vierzig Jahre versäumten
ungeübt
eine Legende zu empfangen
rissen wir ihr die Flügel heraus
TRAUERMANTEL
niedergelassen
augenblicklang
dunkel wie das Hotelnebenzimmer
gegenüber Heiligen Geist
eine Kerze wenigstens
nahm ich von der Kollegentafel
schob sie
wo seine Papiere raschelten
eine handvoll
Jahrhundertasche
keiner dem die Gegenwart glänzt
wurde erhellt:
Mühsam
Klabund
Hasenclever
als Heinrich Mann . . .
viele hörten nur eine Zikade
durch den Autolärm vor den Fenstern
auch das Mikrofon änderte nichts
. . . Expressionismus
Dada war so . . .
während ich
geblendet vom Blitz
unter anderen Donnern mich duckte
Toller
Ossietzky ach wissen Sie
aber dann war da ein KZ
das Tb-KZ bei Marseille
dort traf ich Ernst Busch er brachte mir
in einer Büchse Nahrung
»dünn« sagte einer
»gebt doch dem alten
Mann eine Suppe und laßt ihn gehn«
ein anderer
fragen Sie ruhig ich bin Fragen gewohnt
von der Gestapo
und so
Memoiren?
Rousseau
der heilige Augustin
wirkliche Memoiren das sind
Don Quichote
Cervantes sagte
Sancho Pansa bin eigentlich ich
oder Proust
das sind Memoiren
Memoiren schreibe ich nicht
wenn ich Memoiren schreibe
komme ich jedenfalls nicht darin vor
zwischen Schall und Rauch
im Sturm
auf der Weltbühne
kommt einer noch einmal so weit her
ein bißchen bös
spitzfindig
zart
doch hielt er sogar gegen den Wind
durchtränkt vom verbrauchten Adjektiv
bitter
wollte lächeln
die Kerze flackerte
ich hatte nicht den Mut zu schrein
hier steht ein Mann
der bringt noch einmal
alle mit die wir geschlachtet haben
mit seinen Augen hat er sie gesehn
mit seinen Ohren gehört
seine Hand hat einmal ihre Hand gehalten
denn ich wußte
was er mit uns treibt
setzt voraus wir wären bereit
freiwillig in einen Spiegel zu blicken
der uns als Gorgo zurückwirft
spät
erst nachdem er gegangen war
nachts
als die Kinder von Heidelberg
je nach dem Stoff ihrer Wahl aggressiv
oder apathisch
trunken herumliefen
in der Allerheiligenkälte
kam mir die Erinnerung:
er hatte an den Türen gerüttelt
als ich jung genug war
ihn hereinzulassen:
Hier steht ein Mann und singt sein Lied
zum Trotz – am Rand der Zeit . . .
Margarete Hannsmann: Fersehabsage – Gedichte; Düssendorf: Claassen 1974; S. 54 ff.
Dieses Gedicht über eine Begegnung Walter Mehrings mit deutschen Schriftstellern in den 1970er Jahren ist eine beeindruckende literarische Selbstbezichtigung von Margarete Hannsmann. Es zeigt zum einen die von Walter Mehring immer wieder beschriebene Haltung, dass er als Überlebender keine Beachtung im Nachkriegs-Deutschland finden konnte. Es bringt zum Ausdruck, wie er buchstäblich mit einer Suppe abgespeist werden soll, weil man die Erinnerung nicht will. Zum anderen ist der Text aber auch Ausdruck dafür, dass gerade in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre die Aufarbeitung der Vergangenheit mit der Selbsterkenntnis des eigenen Versagens einhergehen musste. Margarete Hannsmann schreibt ja, dass auch sie – obwohl erst 1921 geboren – hätte den Verfolgten des Nationalsozialismus die Türen öffnen können. (A.O.)