„Kaum waren einige gerettet, drängten sich andere. In den Straßen Marseilles sah man immer mehr der unheimlichen Gestalten in langen grauen Mänteln und hohen schwarzen Stiefeln. Nur flüsternd gab der eine dem anderen die Kunde von dem unbekannten Amerikaner und seinem anonymen Komitee. Manchmal trafen die ersehnten Visen ein – für Tote. Für Ernst Weiß, für Walter Hasenclever. „Kann man uns vielleicht an ihre Stelle setzen?“ fragten Walter Mehring und Leonhard Frank. Nein – auch dazu benötigte man eine Genehmigung. Carl Einstein, der Poet und Theoretiker der Negerplastik, erhängte sich in Marseille, als man ihn von der Grenze zurückgeschickt hatte. In der „Bar Mistral“ saßen Mehring und Frank und rätselten über ein Telegramm von Hermann Kesten aus New York: „Das amerikanische Visum? […] Die Antwort? Von Thomas Mann? Nicht direkt. […] Der Satz, über den die Dichter grübelten, lautete: ‚Rescue visa following, by messenger maybe.‘ […] Frank starrte auf das Blatt. Messenger heißt Bote, das weiß ich schon. Was aber heißt maybe?’ Walter sprang ungeduldig auf und begann wie in einem Käfig auf und ab zu gehen. ‚Das habe ich Ihnen doch schon gesagt‘, rief er, ‚maybe heißt: kann sein – vielleicht.’ Frank folgte ihm mit seinem durchbohrenden Blick: ‚Vielleicht, jaja – mehr ja oder mehr nein?’ Mit einem Ruck blieb Mehring vor ihm stehen und erwiderte scharf: .Vielleicht’. Und Frank wiederholte hartnäckig: ‚Mehr ja oder mehr nein? Was heißt maybe?‘“
Der Messenger, der Glücksbote, hieß Varian Fry. Er hatte Listen in der Tasche, darauf standen Namen von Leuten, die er gar nicht kannte – „Hans Natonek, a Czech humorist“ oder „Ernst Weiß, a Czech novelist“ oder der Bildhauer Jacques Lipschitz. Nur scheinbar unberührt sagte er, als er vom Tode Ernst Weiß’ hörte, „nun habe ich auf meiner Liste einen Platz für jemand anders frei“. Das Beschaffen von Visen und Pässen und Bürgschaften und Schiffspassagen war so schwierig, wie das Geld aus New York ins Land zu bekommen, von dem er ja nicht offiziell ausweisen konnte, wo es blieb. Die schwarzen Geldgeschäfte sind so abenteuerlich wie die von einem Wiener Zeichner originalgetreu imitierten Stempel oder die am Hafen gekauften chinesischen Einreise-Visa, die in Übersetzung lauteten: „Der Inhaber dieses Passes darf unter keinen Umständen nach China einreisen.“ Hertha Pauli, der Walter Mehring später seinen Gedichtzyklus „Briefe aus der Mitternacht“ widmete, erzählt von ihrer Erleichterung, wie der junge Mann in Hemdsärmeln mit dem aufgesetzten Pokerface sie in fließendem, akzentfreien Französisch begrüßte: „,Miss Pauli’, sagte er trocken, ‚well – Sie stehen auf meiner Liste.‘ Es schien ihn nicht zu wundern, und sein Gesicht blieb unbewegt. Ein Buster-Keaton-Face nannte ich solche Gesichter. Erst viel später lernte ich, durch solche Masken zu sehen.““ Der gesamte Text steht hier online…
(Fritz J. Raddatz: Der Engel von Marseille; in: Die Zeit vom 5. März 1993)