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Herbert Lackner schildert Mehrings Flucht aus Frankreich

Herbert Lackner: Die Flucht der Dichter und DenkerDie Fluchthilfe des American Rescue Committee rettete Walter Mehring das Leben. Varian Fry engagierte sich als Fluchthelfer. Dabei scheute er sich nicht, auch illegale Methoden zu wählen, wenn nur das Leben von Künstlern, Wissenschaftlern, Politikern gerettet werden konnte. Die Vertreibung der deutschen, der österreichischen, der tschechischen, französischen, belgischen, polnischen usw. Intelligenz aus Europa ist das Thema des aktuellen Buchs des  langjährigen Chefredakteurs des österreichischen Politik-Magazins „Profil“, Herbert Lackner. „Die Flucht der Dichter und Denker“ enthält alles, was auch heute wieder im Zusammenhang mit Asyl und Flucht diskutiert wird.

Lackner ist Journalist durch und durch. Er ist kein Wissenschaftler, dem es auf Vollständigkeit ankommt. Vielmehr destilliert er aus den vielen, den tausendfachen Fluchtgeschichten von Schriftstellern, Wissenschaftlern, Gewerkschaftern, Künstlern, Politikern und ganz normalen Menschen, die wegen ihrer Überzeugungen oder auch nur wegen ihrer Herkunft vor der sicheren Haft und Vernichtung flüchteten. Deshalb konzentriert er sich vor allem auf die Geschichte der Rettung durch Varian Fry und das American Rescue Committee. Dieses wurde von Thomas Mann initiiert, nachdem er ein verzweifeltes Telegramm von Hertha Pauli, Ernst Weiß und Walter Mehring erhalten hatte.

Walter Mehrings Rolle schildert er in dem Band so: „In einem Viehwaggon verlassen jetzt auch Walter Mehring und Hertha Pauli die Stadt. Der Satiriker Mehring, 44, ist ein besonderes Feindbild der Nazis. Joseph Goebbels persönlich hatte schon 1929 in der NS-Zeitschrift „Angriff“ unter dem Titel „An den Galgen!“ einen langen Hetzartikel gegen den verhassten Autor verfasst. Mehring war neben Kurt Tucholsky einer der Gründer des politisch-literarischen Kabaretts in Berlin gewesen, das hingebungsvoll über die aufsteigenden Nazis spöttelte.

Ein Jahr vor dieser Flucht aus der Stadt saß Mehring eben in seiner Dachkammer im Pariser „Hotels de l’Univers“ ‚ als Hertha Pauli ins Zimmer gestürzt kam und ihm erzählte, ihr gemeinsamer Freund Ödön von Horvath sei eben von einem Ast erschlagen worden.

In sein Schreibheft trug Mehring daraufhin ein:
„Doch Horváth, den ein Baum erschlag,
Damit solch Kleinod im Exil
Den Säuen nicht zum Fraße fiel,
Starb ganz er selbst: ein Satyr—Spuk. “
(…)

Wenige Tage vor der überstürzten Flucht aus Paris haben Hertha Pauli, Walter Mehring sowie der den Tod einer weiteren Flucht vorziehende und daher mit einer Überdosis Morphium aus dem Leben geschiedene Ernst Weiß noch ein verzweifeltes Telegramm mit der dringenden Bitte um Hilfe an Thomas Mann in New York abgesetzt. Mann ist der große Dichterfürst dieser Zeit, der ‚Praeceptor Germaniae“, wie er sich selbst gerne nennt. Von ihm erhoffen sich die verzweifelten Flüchtlinge Hilfe — auch wenn sie sich nicht vorstellen können, worin diese bestehen könnte.

Dennoch sollte diese Depesche in den folgenden Wochen eine entscheidende Rolle spielen und tausenden Menschen das Leben retten. Aber Hertha Pauli und Walter Mehring wissen an diesem dramatischen Juni-Tag des Jahres 1940, an dem sie Paris verlassen, nicht einmal, ob ihr Telegramm Thomas Mann erreicht hat.“ (S. 76 f.).

Thomas Mann aktivierte Eleanore Rossevelt, die Frau des US-Präsidenten und viele andere, die Geld spendeten und halfen Visa zu beschaffen. Lackner erzählt auch dies in kurzen, prägnanten Sätzen, die auch Leser ohne große Vorkenntnisse sofort verstehen: „Thomas Mann hat das verzweifelte Telegramm erhalten, das ihm die Autoren Walter Mehring, Hertha Pauli und Ernst Weiss am 10. Juni 1940, kurz vor dem Einmarsch der Deutschen in Paris, geschickt haben und in dem sie den damals wohl berühmtesten Schriftsteller deutscher Sprache um Hilfe bitten.

Mann lebt seit 1938 in Princeton, der Universitätsstadt in der Nähe von New York City. Auch seine Frau Katja und seine Kinder Klaus und Erika sind hier. Erika Mann hält in New York Kontakte zur BBC und zum „Office of War Information“. Sie tourt mit ihrem Bruder Klaus durch die USA, um in Vorträgen vor dem NS-Regime zu warnen. Gemeinsam gaben die beiden 1939 das Buch „Escape to Life“ heraus, in dem die künstlerischen, wissenschaftlichen und politischen Repräsentanten der deutschen Emigration porträtiert wurden.“ (S. 96)

Immer wieder bezieht sich Lackner auf das Telegramm, das Hertha Pauli, Ernst Weiß und Walter Mehring noch aus Paris an Thomas Mann geschickt hatten: „Das Telegramm, in dem seine drei Schriftstellerkollegen um Hilfe flehen, lässt Thomas Mann handeln: Für den 25. Juni bittet er rund 200 mögliche Unterstützer — Journalisten, Geschäftsleute, Künstler, Universitätsprofessoren – zu einem Lunch ins New Yorker „Hotel Commodore“, um zu besprechen, was zur Rettung der europäischen Geistesgrößen unternommen werden könnte.

Den Ehrenschutz übernimmt Eleanor Roosevelt, die Frau des Präsidenten. Sie ist mit ihrem Mann in der Frage der europäischen Flüchtlinge keineswegs einer Meinung: Anders als Franklin D. Roosevelt, ist Eleanor für weit großzügigere Einwanderungsquoten. Der Präsident hat in drei Monaten Wahlen zu schlagen, eine weniger restriktive Flüchtlingspolitik passte Roosevelt, wiewohl ein mutiger Sozialreformer, ganz und gar nicht ins Programm. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs waren sowohl die Bevölkerung wie auch der US-Kongress mehrheitlich isolationistisch. Nach dem deutschen Einmarsch in den Niederlanden, Belgien und Frankreich erklärte Roosevelt öffentlich, die USA seien mit dem nun ebenfalls gefährdeten Großbritannien solidarisch, an einem militärischen Konflikt würden sie sich aber nicht beteiligen. Diese Position wie auch die Ablehnung von höheren Flüchtlingsquoten fanden in allen Meinungsumfragen deutliche Zustimmung.“ (S. 97)

Varian Fry ist dann nach Marseille gegangen, um eine den verfolgten bei der Flucht zu helfen. Er besorgte gefälschte Papier, half beim illegalen Grenzübertritt von Frankreich nach Spanien und schmierte Polizisten. Dieses Handeln ist für Lackner zentral. Mit der Schilderung der Geschichte will er dem Leser verdeutlichen, dass die aktuelle Diskussion über Flucht, Asyl oder Schlepper bei weitem nicht so leicht ist, wie sie oft dargestellt wird. In einer Situation, in der viele Länder ihre Grenzen dicht gemacht hatten, war die aktive Fluchthilfe lebensrettend.  Die Namen und vor allem die verzweifelten Geschichten der von Hitlers Schergen verfolgten Menschen rücken genau das in diesem Buch ins Licht. Wie groß die Verzweiflung war, schildert er in solchen Passagen:

„Auch der Satiriker Walter Mehring, der vor der Flucht aus Paris mit seiner Schriftstellerkollegin Hertha Pauliu dieses verzweifelte Bitttelegramm an Thomas Mann abgeschickt hat, sitzt in der Hafenstadt. Seinen Kampf um Papiere beschreibt Mehring später so: „In den Korridorlabyrinthen der Bürokratie brannten im Trüblicht flackernde Glühbirnen, gerade hell genug, um die Geprüften die Aussichtslosigkeit ihrer Situation erkennen zu lassen.“

Alfred Döblin ist mit seiner Frau und seinem jüngsten Sohn ebenfalls in Marseille gelandet. Er macht sich sofort auf den Weg zum amerikanischen Konsulat, das von hunderten Petenten ist. Döblin später in seinem Erinnerungsbuch „Schicksalsreise“ über die Stimmung der vor dem Amt Wartenden: „Merkwürdig, wie die Unruhe und die Angst in jedem die Vermutung steigerte, die Nazis hätten es gerade auf ihn abgesehen. Und jeder suchte heraus, was er da und dort Verdächtiges oder Gefährliches geschrieben oder gesagt hat. Man hielt sich und anderen sein vermeintliches Schuldenregister vor und gab sich verloren. Noch etwas anderes: Zwischen uns Exilierten besteht keine Solidarität. Wir haben schon vorher sehr privat unser Privatleben geführt; jetzt dichteten wir uns noch besonders ab. Man sah den anderen auf dem Konsulat und nickte ,Aha, du bist auch hier‘ und keiner verriet, was er vorhatte und auf wen er rechnete.“

Vor dem spanischen Konsulat beträgt die Wartezeit drei Tage und drei Nächte. Oft kommt es zu wilden Auseinandersetzungen zwischen den lauernden Flüchtlingen, weil sich die Partner in der Schlange abwechseln, um ein wenig Schlaf zu bekommen.“ (S. 106)

Angesichts solcher Situationen hat sich Varian Fry nicht mit Abwarten begnügt. Er begann ein Netz bis in die Unterwelt zu spinnen, um den vor der Inhaftierung und dem Konzentrationslager fliehenden Menschen helfen zu können. Da wurden Pässe gefälscht. Da wurden Beamte bestochen. Da wurden Unterschriften und Visa gefertigt. Auch das schildert Lackner alles sehr anschaulich – unter anderem am Beispiel von Hertha Pauli und Walter Mehring:

Und auch Hertha Pauli kann mit einem von Spiras Pässen entkommen. Sie holt ihn bei Varian Fry im „Hotel Splendide“ ab und beschreibt das Zusammentreffen so: „Ein junger Mann in Hemdsärmeln, der vor einem leeren Tisch saß, studierte ein Blatt Papier in seiner Hand, statt mich zu beachten. Ich wartete verlegen und fragte mich, ob ich wohl am rechten Ort sei. Da hob der junge Mann wie zerstreut den Kopf und warf mir durch seine Hornbrille einen flüchtigen Blick zu ‚Miss Pauli’, sagte er trocken, ‚well — Sie stehen auf meiner Liste‘“.

Walter Mehring, der mit ihr gemeinsam das Telegramm an Thomas Mann verfasst hatte, das die geheime Rettungsaktion erst in Gang brachte, muss in Marseille bleiben. Seine Papiere sind noch nicht komplett. Er entkommt erst ein halbes Jahr später in höchster Not.

Bil Spira selbst gelingt die Flucht nicht mehr. Im Frühjahr 1941 wird er von einem Spitzel verraten, die Franzosen internieren ihn in einem Lager und liefern ihn im August 1942 an die Gestapo aus. Nach einem schrecklichen Leidensweg durch die Konzentrationslager Auschwitz, Buchenwald und Theresienstadt befreit ihn die Rote Armee am letzten Tag des Zweiten Weltkriegs, dem 8. Mai 1945. Spira wiegt nur noch 35 Kilogramm.

Er will nicht mehr zurück nach Wien, das er sieben Jahre zuvor als vermeintlich „Freier“ verlassen hat, und geht nach Frankreich,  um seine Frau und seinen vierjährigen Sohn zu suchen, den er noch nie gesehen hat.

Bis zu seinem Tod im Jahr 1999 lebt Bil Spira mit seiner Familie als Karikaturist in Paris.“ (S. 118 f.)

Vielleicht mag das dem einen oder anderen Leser zu direkt sein. Aber das schmälert weder das Buch noch das Anliegen. Denn die Geschichten von der Flucht Walter Mehrings, Lion Feuchtwangers, Walter Benjamins, Heinrich Manns oder auch weniger berühmter Gewerkschafter sind alle für sich erzählenswert. Dass Lackner sie einem neuen Leserkreis zugänglich macht ist aller Ehren wert. Da er sie auch noch gut erzählt, macht das Buch besonders empfehlenswert. Denn Lackner schildert auch, dass jeder Platz genutzt wurde, um Menschen aus Marseille in die Freiheit zu schaffen. Selbst wenn sie nur frei wurden, weil sich andere weigerten. Wie im Fall von Walter Mehring:

Am 4. Februar 1941 soll die „SS Wyoming“, auf der Breitscheid und Hilferding gebucht sind, mit Ziel Martinique auslaufen. Allerdings gibt es keine Kabinen für sie, sondern nur Plätze in einem Schlafsaal im Laderaum. Hilferding und seine Frau sagen zu. Die Breitscheids wollen nicht mitkommen: Die kränkelnde Frau Breitscheids fiirchtet, die strapaziöse Reise nicht zu überstehen.

Keiner der beiden Politiker kommt davon. Noch bevor die „SS Wyoming“ ablegen kann, werden ihre Ausreisevisa widerrufen, Breitscheid und Hilferding werden festgenommen und kurz darauf in Vichy der Gestapo übergeben. Hilferding wird ins Pariser Santé-Gefängnis gebracht und dort gefoltert. Man findet ihn zwei Tage später tot in seiner Zelle. Er hatte sich erhängt.

Das Ehepaar Breitscheid wird ins Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert und von dort gegen Kriegsende ins KZ Buchenwald, das sie nicht überleben.

Ihre Koje auf der „SS Wyoming“ bekommt übrigens Walter Mehring, der schon nicht mehr an seine Rettung geglaubt hatte.

Das Auslaufen der „SS Wyoming“ wird nur möglich, weil das Regime für einige Wochen die Ausreisebestimmungen lockert.“ (S. 155 f.)

Ein gutes Buch. Ein wichtiges Buch. Denn diese Geschichten, diese Schicksale dürfen nicht in Vergessenheit geraten.

Herbert Lackner: Die Flucht der Dichter und Denker – Wie Europas Künstler und Wissenschaftler den Nazis entkamen. Ueberreuter: 22, 95 Euro.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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