Kategorien
1927 Prosa Zeitschriften

Walter Mehring würdigt Rundfunkpionier

* ALFRED BRAUN *
DER FUNKDIRIGENT
VON
WALTER MEHRING
*

Portrait Alfred Braun

An dem langen Gang befanden sich zur Rechten einige mit Klubsesseln ausgestattete Zellen. Zur Linken die abgedichteten Türen des großen Operationssaales, aus dem manchmal ein wirres Geschrei drang. Als ich in die mir zugewiesene Zelle eintrat, lief dort ein langer, blonder Herr auf und ab, der in sichtbarer Erregung Worte wie: Kassiopeja . . . Alpha im Großen Bären . . . und Orionnebel . . . zur Decke schleuderte. Einen Moment unterbrach der Herr seine Suada, sah mich entgeistert an und bemerkte traurig: „Mein Gott! Es ist 7 Uhr 3 Minuten! Um 7 Uhr sollte ich beginnen. Was meinen Sie, ob ich die Sonnenflecke weglasse?“ . . ., um sich gleich danach wieder in die Milchstraße zu verirren.

Dann wurde ein neuer Patient hereingelassen, ein würdiger, alter Herr, der ein Konzeptpapier vorzog und, ohne sich um uns zu kümmern, Paragraphen, Zusatzparagraphen und Entscheidungen über irgendwelche mysteriösen Verbrechen vorlas. Und auch ich hatte ein Buch vorgezogen, aus dem ich krampfhaft deklamierte. Und plötzlich surrte noch ein schwarzer Trichter los und trompetete englische Vokabeln in unsere seltsame Unterhaltung über Verse, Fixsterne und Zivilrecht.

Endlich tat sich die Tür des großen Operationssaales auf; ein stattlicher Herr in weißem Chirurgenkittel entschritt ihr und schleifte mich vor eine kleine Maschine.

*

Ich vergaß zu erwähnen, daß sich diese Szenen im Berliner Funkhaus abspielten; daß der Herr im weißen Kittel der Funkdirigent und Radioregisseur Alfred Braun war, daß die Zelle mit Klubsesseln den Warteraum für die Radioakteure bildete, und daß die beiden anderen Patienten ein Astronom und ein bekannter Strafrechtslehrer waren, die an jenem Abend das Programm der Berliner Funk-Stunde mit mir bestritten.

*

Der Funkdirigent, das ist ein neuer, künstlerischer Beruf. Ein Mittelding zwischen Kapellmeister und Regisseur der phonetischen Filmstreifen, die täglich neu vom frühen Morgen bis Mitternacht fast ununterbrochen abrollen. Als Regisseur fungiert der Funkdirigent beim Sichten und Gliedern eines Programmkunterbunts, das ihm in so beziehungslosem Durcheinander vorliegt wie:

Jazzband, englische Sprachlehre, moderne Lyrik, Ministerreden,
Kochrezepte, klassische Opern, Wetterprognose usw. . . .

Als Kapellmeister dirigiert und „instrumentiert“ er die Theateraufführungen, wenn hemdsärmelige, schwitzende Tragöden
griechisches Heldentum auf Welle 566 mimen.

*

Ich habe Alfred Braun im Kampf mit einem populären Berliner Schauspieler gesehen. Der Schauspieler wollte bei der pathetischsten Stelle seines Vortrages unbedingt in den Aufnahmeapparat hineinkriechen. Und während er mit allen Meistergriffen rang, deklamierte er sehnsüchtig eine melancholische Hafenballade unter Alfred Braun’s Armen hindurch nach der Membrane hin. Denn so eine Membrane ist ein sehr reizbares Wesen. Schreit man sie an, dann kreischt sie beleidigt, daß am anderen Ende die Kopfhörer bersten und die Lautsprecher die Maulsperre kriegen. Will man eine „Großaufnahme im Radio“ erzielen, muß man ihr seine Schmerzen sanft ins Ohr flüstern . . .

Bei dem Ringkampf siegte wie immer Alfred Braun. Am Schluß
seiner Deklamation befand sich der stürmische Schauspieler zirka
zehn Seemeilen vom Aufnahmeapparat entfernt. Ein Funkdirigent muß also auch manchmal Ringkämpferqualitäten haben.

*

Der Funkdirigent hört überhaupt nicht was hineinschallt, sondern wie es herausschallt. Während er körperlich seine Radioopfer vor der Membrane hin- und herstößt, nimmt er seelisch die Partei der Hörer. Der Vortragende, der direkten Kontakt mit seinem Publikum hat, kann seinen Vortrag regulieren, je nachdem seine Hörer und Zuschauer klatschen oder auf Hausschlüsseln musizieren. Die Leistung des Filmschauspielers kann vom Regisseur durch Schnitte korrigiert werden. Nur der Radiokünstler hat nicht den geringsten Maßstab. Er telephoniert seine Leiden und Freuden – gereimt und Prosa – oder ihm gänzlich unbekannten Leuten, ohne daß er ahnt, ob die Verbindung
überhaupt noch besteht. Er tobt sich vor einer Attrappe aus, und man hat ihm eingeredet, daß man ihn bis nach Australien vernimmt, aber er hat allmählich das Empfinden, daß ihm höchstens ein gelangweiltes Fluıßpferd am zweiten Nilkatarakt zuhört. Deswegen ist seine einzige Stütze der Funkdirigent, ein Alfred Braun, der seinen Vortrag dirigiert wie ein Orchester und ihn durch freundliche Gebärden ermahnt, wenn er Unsinn verzapft. Vielleicht wird man einmal eine Membrane erfinden, die bei schlechten Leistungen automatisch zischt und bei guten Witzen elektrisch kichert.

*

Es ist nicht angenehm, gerade im Augenblick, wo man sich vor dem Apparat dramatisch gebärdet, von der rohen Männerfaust des Funkregisseurs zurückgerissen zu werden. Es ist noch unangenehmer, wenn einem die eigene Produktion oft lammfromm zugestutzt wird. Und ich gestehe, daß ich dem Alfred Braun erst innerlich fluchte. Aber das Radioprogramm hat viel kompliziertere Schwierigkeiten zu überwinden als alle sonstigen Darbietungen. Es wendet sich nicht nur  an das übliche Publikum, sondern dient ja – und vielleicht gerade in seinem edelsten Sinne – dem Zweck: Unterhaltung und Zeitvertreib in Krankenhäuser und Spitäler zu bringen. Ich habe mit Alfred Braun oft darüber gesprochen; immer betonte er sein Bestreben, moderne Kunst im Radio zu fördern, und daß er diesem Bestreben nachkam, kann er durch sein Programm beweisen. Er hat das Bewußtsein, eine Kunstgattung in Bevölkerungsschichten zu propagieren, die bisher dafür unzugänglich waren.

*

Aber der Funkdirigent hat nicht nur mit der Sensibilität der Membrane, sondern auch mit der Empfindlichkeit der Hörer zu rechnen; jener Hörer unter den Kranken und Alten, deren einzige Freude und Verbindung mit der Außenwelt das Radio ist. Empfindlicher aber als Membrane und Publikum sind wahrscheinlich die Sprecher, die mit einem nutzlosen Aufwand an Gebärden und Grimassen einem Metallreifen und einem Kästchen Beifall zu entlocken trachten. Die vornehmste Fähigkeit also, die man von einem Funkregisseur zu verlangen hat, und die sich bei Alfred Braun ausgeprägt findet, ist künstlerisches Feingefühl und menschlicher Takt.

(Walter Mehring: Alfred Braun. Der Funkdirigent; in: Karl Wilczynski (Hg.): Funkköpfe – 46 literarische Portraits; Berlin: Verlag Funk-Dienst 1927; S. 24ff.)

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.