„Schon im Sommer 1933 sind alle Berliner Theater unter neuer Leitung und viele jüdische Schauspieler und Regisseure arbeitslos. Ilse hört Schlimmes, fürchtet sich und beschließt, nach Paris zu fahren, wo sich schon viele Freunde aufhalten, auch Walter Mehríng, der seit Jahren zwischen Berlin und Paris hin und her lebt. Die beiden gefallen einander und ziehen zusammen, in kleine Hotels. llse liebt Abenteuer und ist womöglich auch froh, ihre Mutter auf Distanz zu haben.
Sie macht Gelegenheitsjobs und genießt, zweiundzwanzigjahre jung, das freie Leben. Sie verdient kleines Geld in den Synchronstudios von Joinville, Walter schreibt in den Boulevards. llse verkehrt in der Russischen Kolonie, lernt Ilja Ehrenburg kennen und übernimmt Gelegenheitsarbeiten im kommunistischen Verlag von Willi Münzenberg. (Münzenberg, der Medienzar der KPD, produziert im Pariser Exil die rote Agitationspresse; den Gegen-Angrıff und die Braunbücher, in denen die Verbrechen der Nazis denunziert werden.) Münzenberg ist ein bisschen in Ilse verknallt und geht gern mit ihr Russisches Billard spielen. Er füttert sie vormittags mit Croissants und beschwipst sie nachmittags mit Suze und Pastis. Bei guter Laune führt er Ilschen auch gemeinsam mit Walter zum »Sattessen« aus.
Ilse verbringt aufregende Tage auf dem legendären Schriftstellerkongress in den überfüllten Hallen der Mutualité, lässt sich noch ein Kind » wegmachen«, diesmal von einer Engelmacherin in der Banlieue Marnes la Coquette, und kümmert sich um den »verbrannten Dichter« Arthur Holitscher in seinem Elendsquartier in der Rue de Rennes. (Holitscher stirbt 1941 einsam in einem Männerheim der Heilsarmee in Genf. Die Totenrede hält Franz Musil.)
Noch ein letztes Mal reist Ilse nach Berlin: im Sommer 1934. (…)
In ihrem zweiten Jahr hausen Ilse und Walter in einem kleinen Zimmer unter dem Dach des Hotels Trianon in der Rue de la Harpe, wo auch Jean Genet zeitweise wohnt. Sie beschließen zu heiraten. Im Frühjahr 1935 erscheinen Ilse Winter und Walter Mehring vor dem Standesbeamten des VI. Arrondissements. Marie (Ilse Winters Mutter; A.O.) wird benachrichtigt und erhält eine Reisegenehmigung aus »besonderem Anlass«, um für drei Tage dabei zu sein, wenn ihr einziges Kind das Ja-Wort sprechen wird. Sie kennt Mehring aus Berlin und hat sich »weiß Gott« einen anderen zum Schwiegersohn gewünscht, einen, der Ilse die Flausen aus dem Kopf treiben kann und ein Ziel im Leben hat. Mehring ist für Marie ein brotloser Literat und Hungerkünstler aus dem »verdammten« Theatermilieu, das ihre Tochter auf dem Gewissen hat. Mehrings Mutter, die Sängerin Hedwig Löwenstein, eine strenge alte Dame wilhelminischer Prägung, die ihren Sohn vergöttert und der jede Frau in seiner Nähe suspekt ist, reist gar nicht erst an. In letzter Minute fürchtet sich Ilse vor einem Leben in den kleinen Hotels und einer prekären Zukunft an der Seite von Mehring. Die Boheme am Rand der Armut macht ihr Angst. So sagt sie denn vor dem Standesbeamten auf die Frage, ob sie Monsieur Walter Mehring zum Gatten nehmen möchte, spitz »Non!«, was Walter und Ilse nicht im Geringsten daran hindert, wieder in ihr kleines Hotel zurückzukehren. Das Leben hat ihr die Männer immer vorgesetzt.
ln solcher Ménage lebt Mademoiselle Winter noch ein halbes Jahr, bis sie sich entschließt, im Spätsommer 1935 nach Wien zu Tante Annie, der jüngeren Schwester ihrer Mutter, zu reisen, um wieder am Theater zu arbeiten. Sie nimmt den Nachtzug, den zur selben Zeit auch Ilja Ehrenburg auf dem Weg nach Moskau besteigt.“
(zitiert aus: Gabriel Heim: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus – Eine Mutterliebe in Briefen; Berlin: Quadriga Verlag 2013, S. 57 – 62)

In den ersten Jahren hat Ilse oft Besuch von Freundinnen und alten Kollegen aus Berlin, die am Schauspielhaus gastieren oder auf der Durchreise sind. (…) Zu ihnen gehört Walter Mehring. Er besucht llse immer am späten Nachmittag und bleibt zum Abendessen. Er kann wunderbar berlinern, und nie habe ich seine Geschichten aus der großen Stadt mit den vielen Lichtern und Theatern satt. Ich frage ihn ein Loch in den Bauch nach Nollendorfplatz und Bahnhof Zoo, nach Molle und Bolle. Ich bettele darum, und er rührt mich. Schon als Kind entwickele ich eine Ahnung davon, dass Walter und llse, dass Onkel Hans und Tante „Putz“ und auch Emil und Gustav mit der Hupe und selbst der Ganove Grundeis ihre aufregende Welt, in der sie so viel erleben und in der sie zu Hause sind, verloren hatten. Es musste ganz wunderbar gewesen sein dort (…). So möblieren alle Besucher in Ilses Wohnung ihre Erinnerungen. Ihre Bilder werden mir zu Räumen, zu Straßen, zu einem rasend rieselnden Kaleidoskop Voller Lärm und Neon. Es wird so mächtig, dass ich als kleiner Junge fast jede Nacht von dieser rauschhaften Stadt träume und am Tag gar nicht verstehen kann, warum Ilse und Walter und die vielen anderen nicht dort leben und noch immer dort sind, statt sich am stillen, eintönigen Waldrand über Zürich gemeinsam danach zu sehnen.