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1934 2023 Prosa

Endlich gibt es „Nazi-Führer sehen Dich an“ wieder

Neuauflage von "Nazi-Führer sehen Dich an"
Die Neuauflage von „Nazi-Führer sehen Dich an“ ist im wbg Theiss Verlag erschienen.

Der Titel ist eine Provokation: „Nazi-Führer sehen Dich an!“. Der Inhalt auch, vor allem, weil das Buch 33 führende Nationalsozialisten nüchtern und anhand von Akten und Fakten vorstellt. Im Jahr nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten erscheint im Pariser Exilverlag Editions du Carrefour dieses Buch anonym. Jetzt ist es erstmals neu aufgelegt worden – mit Nennung des Autors: Walter Mehring.

1934 lebt der Berliner Publizist, Schriftsteller, Kabarettautor und ehemalige Dadaist Walter Mehring im Pariser Exil. Mit dem letzten Zug gelang ihm in der Nacht des Reichstagsbrands die Flucht, weil er rechtzeitig vor seiner geplanten Verhaftung gewarnt worden war. Seine damalige Lebensgefährtin, die Schauspielerin Ilse Winter, hatte dort einen Job im Exilverlag von Willi Münzenberg gefunden. Der ehemalige Leiter des kommunistischen Pressekonzerns in Deutschland hatte die Editions du carrefour übernommen und schon 1933 ein weit beachtetes Buch herausgegeben: das „Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitler-Terror.“ Mit „Nazi-Führer sehen Dich an“ setzte er die Aufklärung über die frische Diktatur der Nazis fort. Das Buch erschien wahrscheinlich anonym, weil mit Walter Mehring ein Intellektueller der Autor war, der nicht nur die Diktatur Hitlers, sondern auch die Stalins zutiefst ablehnte. Münzenberg wollte ein Bündnis aller Antifaschisten gegen Hitler, während Stalin zu diesem Zeitpunkt noch alle als Faschisten bezeichnete, die ihm und seiner Kommunistischen Internationale nicht folgten.

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1934

Kurt Tucholsky schreibt seinen letzten Brief an Mehring

An Walter Mehring. Lysekil, nach dem 28.7.1934

Lieber Mehring,

Kurt Tucholsky: Texte und Briefe, Bd. 20

vielen schönen Dank für Ihren werten Schrieb! Ich bin schrecklich neugierig: Haben Sie ein Heim? Wo wohnt das? Sieht man von da den sacré Kör? Haben Sie eine puanderie? Wie ist es überhaupt? Hei!

Des weiteren, lieber W. M. — ein chronischer Katarrh, wie er auf mir sitzt, mag ja das Weltbild stören. Aber jedennoch: so wenig wir von dem, was sich da ereignet, überrascht worden sind, je destoweniger kann ich noch mitmachen. Was die Nichtüberraschung angeht, so sehe ich uns noch beide schweren Schrittes auf der Gare St. Lazare herumstolpern, wir beredeten es alles, und es hatte etwas leicht Komisches: um uns brausten die Leute, und wir hattenes mit dem kl. Weltuntergang. Und wir haben doch recht behalten, ein größerer steht bevor, und so sehr ich gegen die Leute bin, die, wie der gute O. gesagt hat, „eine Villa mit prachtvollem Weltuntergang besitzen“, so klar sehen wir ja wohl, was nun kommen wird, von Rechts und Links. Ich meine, was wir uns da zu erwarten haben. Ich nichts …

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1934 Brief

Max Herrmann-Neiße besucht mit Mehring 1934 Alfred Kerr

An Leni Herrmann

Zürich, Mittwoch, 19. September 1934

Max Herrmann-Neiße: Briefe 2
Max Herrmann-Neiße: Briefe 2

(…) Vor 4 kam Mehring, wir gingen erst noch ins Café Terrasse, wo er eine kurze Verabredung mit dem Regisseur Lindtberg hatte, dann fuhren wir trotz Regens mit der Bahn zach Küsnacht. Da saßen wir mit dem wirklich sehr, sehr »umgänglichen« Kerr (die Frau zeigte sich, gottlob, überhaupt nicht) erst bei einem Clävener im gemütlichen Schänkstübchen und besprachen die Dinge dieser Welt, sehr, sehr pessimistisch, und dann, da es etwas nachließ im Regen, gingen wir durch hübsche Gäßchen, die ich noch nicht kannte, mit schönen alten Häusern, zu einer Art Mole, wo der See nun in der Abendstimmung dieses grauen, bis tief herab mit Wolken verhangenen Zustandes etwas wie auf manchen holländischen Bildern hatte. Gegen 7 brachte Kerr uns noch zur Bahn, ja, bis an die Coupétür, und ich will bestimmt noch mal zu ihm, so lange er noch in Küsnacht ist; in 8 Tagen fährt er ab; denn wer weiß, ob und wann man sich wiedersieht.

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1933 1934 1935 Biografisches

Die geplatzte Hochzeit von Walter Mehring und Ilse Winter in Paris

Gabriel Heim: Ich will keine Blaubeertorte, ich will raus„Schon im Sommer 1933 sind alle Berliner Theater unter neuer Leitung und viele jüdische Schauspieler und Regisseure arbeitslos. Ilse hört Schlimmes, fürchtet sich und beschließt, nach Paris zu fahren, wo sich schon viele Freunde aufhalten, auch Walter Mehríng, der seit Jahren zwischen Berlin und Paris hin und her lebt. Die beiden gefallen einander und ziehen zusammen, in kleine Hotels. llse liebt Abenteuer und ist womöglich auch froh, ihre Mutter auf Distanz zu haben.

Sie macht Gelegenheitsjobs und genießt, zweiundzwanzigjahre jung, das freie Leben. Sie verdient kleines Geld in den Synchronstudios von Joinville, Walter schreibt in den Boulevards. llse verkehrt in der Russischen Kolonie, lernt Ilja Ehrenburg kennen und übernimmt Gelegenheitsarbeiten im kommunistischen Verlag von Willi Münzenberg. (Münzenberg, der Medienzar der KPD, produziert im Pariser Exil die rote Agitationspresse; den Gegen-Angrıff und die Braunbücher, in denen die Verbrechen der Nazis denunziert werden.) Münzenberg ist ein bisschen in Ilse verknallt und geht gern mit ihr Russisches Billard spielen. Er füttert sie vormittags mit Croissants und beschwipst sie nachmittags mit Suze und Pastis. Bei guter Laune führt er Ilschen auch gemeinsam mit Walter zum  »Sattessen« aus.

Ilse verbringt aufregende Tage auf dem legendären Schriftstellerkongress in den überfüllten Hallen der Mutualité, lässt sich noch ein Kind  » wegmachen«, diesmal von einer Engelmacherin in der Banlieue Marnes la Coquette, und kümmert sich um den »verbrannten Dichter« Arthur Holitscher in seinem Elendsquartier in der Rue de Rennes. (Holitscher stirbt 1941 einsam in einem Männerheim der Heilsarmee in Genf. Die Totenrede hält Franz Musil.)

Noch ein letztes Mal reist Ilse nach Berlin: im Sommer 1934. (…)

In ihrem zweiten Jahr hausen Ilse und Walter in einem kleinen Zimmer unter dem Dach des Hotels Trianon in der Rue de la Harpe, wo auch Jean Genet zeitweise wohnt. Sie beschließen zu heiraten. Im Frühjahr 1935 erscheinen Ilse Winter und Walter Mehring vor dem Standesbeamten des VI. Arrondissements. Marie (Ilse Winters Mutter; A.O.) wird benachrichtigt und erhält eine Reisegenehmigung aus »besonderem Anlass«, um für drei Tage dabei zu sein, wenn ihr einziges Kind das Ja-Wort sprechen wird. Sie kennt Mehring aus Berlin und hat sich »weiß Gott« einen anderen zum Schwiegersohn gewünscht, einen, der Ilse die Flausen aus dem Kopf treiben kann und ein Ziel im Leben hat. Mehring ist für Marie ein brotloser Literat und Hungerkünstler aus dem »verdammten« Theatermilieu, das ihre Tochter auf dem Gewissen hat. Mehrings Mutter, die Sängerin Hedwig Löwenstein, eine strenge alte Dame wilhelminischer Prägung, die ihren Sohn vergöttert und der jede Frau in seiner Nähe suspekt ist, reist gar nicht erst an. In letzter Minute fürchtet sich Ilse vor einem Leben in den kleinen Hotels und einer prekären Zukunft an der Seite von Mehring. Die Boheme am Rand der Armut macht ihr Angst. So sagt sie denn vor dem Standesbeamten auf die Frage, ob sie Monsieur Walter Mehring zum Gatten nehmen möchte, spitz »Non!«, was Walter und Ilse nicht im Geringsten daran hindert, wieder in ihr kleines Hotel zurückzukehren. Das Leben hat ihr die Männer immer vorgesetzt.

ln solcher Ménage lebt Mademoiselle Winter noch ein halbes Jahr, bis sie sich entschließt, im Spätsommer 1935 nach Wien zu Tante Annie, der jüngeren Schwester ihrer Mutter, zu reisen, um wieder am Theater zu arbeiten. Sie nimmt den Nachtzug, den zur selben Zeit auch Ilja Ehrenburg auf dem Weg nach Moskau besteigt.“

(zitiert aus: Gabriel Heim: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus – Eine Mutterliebe in Briefen; Berlin: Quadriga Verlag 2013, S. 57 – 62)

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1934 Zeitschriften

Österreich debattiert 1934 über „richtige“ Literatur

GEGEN DEN LITERARISCHEN AUSTROMARXISMUS.

Nach der sieghaften Niederkämpfung des militärischen und politischen, muß nunmehr auch die Ueberwindung des intellektuellen Austromarxismus erfolgen, der, zwar nicht aus eigenem, nicht kraft seiner selbst, sondern ausschließlich vermöge der ihn tragenden politischen Macht eine ihm nie gebührende Geistesherrschaft erlangt hat, die, da sie nicht aus dem Geiste, sondern aus der Macht geboren war, inquisitorisch jede Geistesfreiheit bekämpfte. So hat die austromarxistisch-intellektuelle Despotie als nahezu omnipotente Beherrscherin von Rundfunk, Theater und Buchhandel über der östereichisch-schöngeistigen Literatur eine Cliquenherrschaft aufgerichtet, deren fabelhaft funktionierender Vergötterungs-, Auszisch- und Totschweigeapparat fünfzehn Jahre hindurch zwar nicht über Wert und Wesen, jedoch über Wohl und Wehe von österreichischer Dichtung und österreichischem Dichter entschieden hat. Und wie sie entschied: das Urteil dieser Snobschreiberlinge, Hornbrillengiganten und Goldfüllfederbolschewiken galt dem vom austromarxistischen Kulturorganisationsapparat erfaßten Großteil des literarisch aufgeschlossenen österreichischen Publikums als autoritär.

Zwar müssen wir loyalerweise zugestehen, daß der literarische Austromarxismus immerhin ein höheres Niveau pflegte, als etwa der Marxismus anderer Länder. Das jedoch ist keineswegs sein, des österreichischen Marxismus, Verdienst, sondern es dürfte mit der wesenhaft antinaturalistischen Anlage des österreichischen Menschen zusammenhängen, der, soferne er der Kunst zuneigt, einem plumpen Naturalismus – zum Klassenkampfe reizender Elendsschilderer oder sich als „Dichter“ gebenden Pansexualisten – keinerlei literarischen Geschmack abzugewinnen vermag. Hingegen ist seiner unmaterialistischen, leichten, sensiblen Art leider sehr der grazile, spielerische „wertfreie“ Aesthetizismus zugängig, der ja auch außer in dem Paris des l’art pour l’art, noch in dem Wien der Beer-Hofmann und Schnitzler seine Triumphe feiern konnte. Dieser Eigenheit der österreichischen Volkspsyche war sich der literarische Austromarxismus sehr bewußt und hat die ausgesprochen proletarische Literatur eigentlich weniger gepflegt, und wo er sie gepflegt hat, dort minder als Kunst, denn als platte Tendenzangelegenheit, als Agitation. So galten dem österreichischen Schöngeist marxistischer Provenienz auch die Becher, Barthel, Toller, Hasenclever, die Ehrenstein, Brecht, Kästner und Mehring keineswegs als Dichter, sondern als das, was sie waren, als marxistische Agitatoren; Dichter hingegen schienen ihnen, die den ästhetizistischen, dekadenten Wiener Impressionismus repräsentierenden Stefan Zweig, Felix Saltem und Ernst Lothar zu sein. Das zu betonen, ist sehr wichtig, denn der literarische Austromarxismus scheint, zumal er nie im tiefsten Schmutz der ausgesprochen proletarischen Kunst gewühlt hat, sich auch in einem neuen Oesterreich noch für existenzberechtigt halten. Doch: hätte es Oesterreich, die neben dem Flandern der Felix Timmermanns, Antoon Tlhiery, Stijn Sreuvels, Gert Walschap und Ernest Claas literarisch fruchtbarste Landschaft des Nachkriegseuropa, nötig, Macher und Routiniers zu fördern, wo es eine stattliche Zahl wesenhafter Dichter besitzt: Karl Kraus, Richard Schaukal, August Leifhelm, Heinrich Waggerl, Guido Zernatto, Max Mel, Julius Zerzer, J. G. Oberkofler, Georg Rendl und Rudolf List, Enrika v. Handel-Mazetti, Paula Grogger, Dolores Vieser, Erna Blaas und Veronika Rubatscher. Wie es auch sei: in einem christlichen Ständestaat Oesterreich darf für den ästhetizistischen Relativismus kein Raum sein.

Doch denken wir, die wir den Geistesterror der Gleichschaltung ablehnen, keineswegs daran, Bücher, die dem Großteil des literarischen Oesterreich noch für wertvoll gelten, zu verbrennen, wir wollen vielmehr dem Guten oder zumindest für gut Geltenden das Bessere gegenüberstellen: der Formalschönheit des ästhetizistischen Wiener  Impressionismus die Wesensschönheit gott- und volkverbundener Dichtung. Diese muß mehr und mehr durch Radio, Theater und Buchhandel gepflegt und verbreitet werden, und sie wird kraft ihrer selbst, vermöge ihrer Wesenheit über den Asphalt siegen. Indes genügte es keineswegs, nur die gesunde volkhafte österreichische Dichtung zu fördern, nein, wir müssen vielmehr unserer Verpflichtung für die gesamte Nationalliteratur, die heute größer ist denn je, Ausdruck verleihen und aus dieser Pflicht jene reichsdeutsche Literatur vornehmlich pflegen, die, da sie im Dienste der rechten Rangordnung der Werte steht, in einem Deutschland des Blutmythos nicht die ihr eigentlich zukommende Stellung einnimmt. Wir denken hier besonders an die Werke der Theodor Häcker, Ernst Thrasolt, Leo Weismantel, Franz Johannes Weinrich und Gottfried Hasenkamp.

W. Faber.

(Faber, N.: Gegen den literarischen Austromarxismus; in: Der Christliche Ständestaat nr. 13/1. Jg. vom Februar 1934; S. 23)

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1934 Brief Kabarett

Walter Mehring stellt Erika Mann eine Rechnung

25.8.1934

Teuerste E.M. Ausrufungszeichen

Aus Ihren werten Mustern hab ich mir das tapfere Schneiderlein ausgesucht und sende ich Ihnen selbes gleich zur Anprobe.
Mit dem Schneiderlein ist natürlich ….. gemeint, was ich energisch ableugne, weil es ganz unpolitisch ist.
Ich habs meiner (sehr häßlichen) Nervenverfassung direkt abgeboxt. Würden Sie mir das Eintreffen des tapferen, leicht monomanen Schneiderleins melden?
Und herrlich wärs, Sie dächten mal an mich aus den Geleisen Geratenen. Hier ist nämlich natürlich garnichts mehr zu wollen.
Wissen Sie nicht was in Zürich?
Und schönste Grüße an Ihren ganzen Thespiskarren
von Ihrem WM.

Und nun gehen Sie bitte mal raus und schicken Sie mir die Frau Derektern rein!

 Geehrte Dame,
 erlaube mir anbei eine Figur nach Maß nebst quittierter
 Rechnung zu senden:
 Eine Figur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  0,75 Rappen
 19 Reime à 50 Francs . . . . . . . . . . . . . . . . . 950 Francs
 Stundenlohn (Stunde 1 Franc)                   7 Francs 80 Rappen
 Zugaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Franc 15 Rappen
 _________________________________________________________________
                                              959 Francs 70 Rappen
Selbige Summe (Ausnahmepreis) bitte ich, mir höflichst anläßlich 
meiner baldigen Geschäftsreise nach der Schweiz auf mein Schweizer
Bankkonto überweisen zu wollen!
Hochachtungsvoll                                     Mehring & Co.

So Sie dürfen wieder eintreten! Ich hab bloß Ihrer Prinzipalin die Rechnung präsentiert; ne, ganz bescheiden, weils doch für Sie ist! Sind doch ’ne alte Kundin von mir! Schärfen Sie ihr doch bitte noch mal ein, daß sie mir die paar Pfennige in der Schweiz auszahle, wohinnen ich komme!                Derselbigte

Kleine Gebrauchsanweisung: man kann selbiges Chanson leicht und einfach szenisch gestalten, indem daß man die übliche Schneiderpuppe aufstellt, sich außerdem einer großen Schere und einer Nadel bedient, auch eines Lappens, um nach den Fliegen zu schlagen.
Man trage das Chanson unpathetisch vor und etwas keifend, dergestalt, daß der Diktatorfimmel des Schneiderleins lächerlich wirke.
In der ersten Strophe wird genäht – Refrain Anfang parlando; der Schluß wieder gesungen.
Zweite Strophe wird anprobiert – Spiel mit der Schneiderbüste und dem daran hängenden Rock – bei: Oh es kneift Sie im Schritt wird das Schneiderlein wieder ängstlich und devot…
(Sieben Fliegen) wütend gesummt…
Es waren ihrer sieben – das war nicht übertrieben: zum Publikum als Einwand auf jeglichen Protest…
In der dritten Strophe hantiert das Schneiderlein zuschneidend wild mit der Schere Refrain: erste beide Zeilen ganz parlando, sehr einfach konstatierend gesprochen (bloß nich pathetisch!).
Zu den letzten zwei Zeilen: die Schere mit der Rechten aus der linken Hand ziehen wie ein Schwert aus der Scheide und die Schere dann zum Schluß hochhalten wie ein Schwert!

Erika Mann: Briefe und Antworten(Dieser Brief Walter Mehrings ist erschienen in: Mann, Erika: Briefe und Antworten; Hg. v.: Prestel, Anna Zanco; München: Edition Spangenberg 1984; Bd. 1, S. 52 ff. 
Das Chanson, um das es in dem Brief geht ist „Die Vogelscheuche“.)

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1934 Lieder Lyrik Rezensionen Zeitschriften

„Die Neue Weltbühne“ lobt „Und Euch zum Trotz“

Chansons zum Trotz

Und Euch zum Trotz
Und Euch zum Trotz

Vergriffen. Bescblagnahmt. Verboten. Verbrannt. Diese vier Worte kennzeichnen das Schicksal der Lieder, Gedichte und Balladen Walter Mehrings. Es ist deshalb zu begrüssen, dass der Verlag des Europäischen Merkur in Paris mit der vorliegenden Auslese aus dem Mehringschen Schaffen den „guten Liedern eines bösen Spotts“ die Möglichkeit gewährt, sich den fascistischen Gewalten zum Trotz zu erhalten.

Mehring verabscheut das Regime, das zum Krieg treibt, auf Exerzierplätzen seinen Volksgenossen das Denken ausdrillt und Millionen Menschen mit dem Rassenquark das gesellschaftliche Empfinden verdirbt. Mehring richtet seine wirkungsvollen Spottgeschütze auf die teutonischen Phänomene, legt aber nicht die klassenmässigen Wurzeln dieser Erscheinungen frei. Mehring ist gewiss Antifascist, aber nur im weiteren Sinn des Wortes, da ihm die festumrissene politische Position fehlt. Hierin unterscheidet er sich wesentlich von Bert Brecht, der sich als Weggenosse des Proletariats in seiner politischen Lyrik zu einer bemerkenswerten weltanschaulichen Klarheit und gesellschaftlichen Einsicht entwickelt hat und dank dem erreichten ideologischen
Reifegrad mit seinen Versen tiefere politische Wirkungen erzielt. Aber der bessere Musikant ist doch wohl Walter Mehring. Die Sicherheit seines Sprachgefühls, die Originalität seiner Rhythmen und Bilder und eine starke Erlebnisfähigkeit bewahren ihn vor der Gefahr des Nachempfindens, der bewussten oder unbewussten Entlehnung.

Mehring ist ein rebellischer Bohemien, der fast triebhaft und mit einer gelegentlich ins Morbide fiebernden Feinnervigkeit auf die Stimmung des politischen Augenblicks reagiert. Mitunter vernachlässigt er die Pflege der geistigen Substanz und schwelgt stattdessen in den Reizen der Farbe, des Klanges und der Atmosphäre. Um einen Eindruck von der schöpferischen Eigenart des Dichters zu vermitteln, seien die nachfolgenden Strophen zweier politischer Gedichte zitiert, die zu den stärksten des Buches „Und Euch zum Trotz“ gehören. Der Titel des ersten Gedichtes lautet: „Ein Leichenwagen fährt vorüber“ (1931).

Durch die tagelose Früh
Hüpft der Sarg in leisem Spotte
Weise nickt der Gaul im Trotte:
Hotte, hotte,
Hotte hüh!
Schaust Du, Kutscher, ob die Fuhre
Heimlich von der Karre stieg?
Reckt sich eine Hand zum Schwure?
Keine Not!
Tot ist tot
…………….Du Deutsche Republik!

Träne rinne! Regen sprüh!
Ringelreihen tanzt die flotte
Opportune Würmerrotte
Hotte, hotte, hotte, hotte.
Hotte, hotte,
Hotte hüh!
Würmer nur, nicht Barrikaden
Feiern heute ihren Sieg.
Nicht Proleten – fette Maden
Halten Schmaus
Aus ist aus
……………..Du Deutsche Republik!

Dem „Arier-Zoo“ ist die folgende Strophe entnommen, in der Mehring in herzerfrischender Weise die beizende Lauge seines überlegenen Spottes über den Rassenfanatismus und die chauvinistisch aufgepulverte deutsche Spiesserseele im Dritten Reich ausschüttet:

Deutsches Tier – Gewürm – Geziefer
Stosst den Fremdling aus dem Pelz.
Wetzt den Stachel – bleckt den Kiefer,
Dass nicht mehr ein schiecher, schiefer
Jud in deutschem Schlamm sich wälzt!
Hämmert in den erznen Sockel:
Deutsches Rindvieh – deutsche Treu
Rache dem Franzosengockel
Russenbären – Britenleu!
Herr! Von fremder Viecherei:
Säbelbeinig – überseeisch
Krummgeschnäbelt und hebräisch, mach
Das dritte Tierreich frei!

Widerspruch aber wird Mehrings, „Emigrantenchoral“ bei all jenen geflüchteten Deutschen finden, deren geistige Lebensgrundlage in der Fremde die mit gutem Grund bewusst gepflegte Verbundenheit mit der Heimat ist. Die nicht Deutschland verlassen haben, um, wie es ihnen der Mehringsche Zuruf einschärft, jenseits der Grenzen zu Haus zu sein, sich dort ein Nest zu bauen und schliesslich das zu vergessen, was man ihnen aberkannt und gestohlen hat. Sondern die in kämpferischer Absicht das Unrecht in Erinnerung behalten, das man ihnen zugefügt hat, und die die Scheusslichkeiten weder vergessen wollen noch können, die ein barbarisches Regime verübt.

Die politische Entwicklung Mehrings ist gewiss noch nicht abgeschlossen. Der katastrophenumwitterte geschichtliche Prozess und die schon gewonnene nahe Beziehung des Autors zum Proletariat, die in einigen Versen überzeugend zum Ausdruck kommt,
werden ihn zu Erkenntnissen verpflichten, die seiner künftigen politischen Lyrik gewiss nicht zum Schaden gereichen dürften. Im Gegenteil: sie werden seiner politischen Lyrik jenen wirkungsmässigen Tiefgang, jene Reichweite, jene Wesentlichkeit und jene Klarheit ermöglichen, die im Sinne eines Kampfes gegen die fascistischen Mächte notwendig sind.

(Türk, Werner: Chansons zum Trotz; in: Die Neue Weltbühne Nr. 43/30. Jg. vom 25. Oktober 1934; S. 1355ff)

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1934 Lyrik

Mehring im niederländischen Exil-Band „Brandende Woorden“

Brandende Woorden uit DuitschlandGedichte von Erich Kästner, Walter Mehring, Ernst Toller, Erich Arendt, Max Ophüls, Alfred Kerr, Emil Ginkel, Kurt Tucholsky, Johannes R. Becher, Erich Weinert, Erhard Winzer und Oskar Maria Graf sind in dieser Anthologie deutscher Exildichtung aus den Niederlanden versammelt. Auf 47 Seiten Martien Beversluis eine einigermaßen repräsentative Auswahl nicht nur zusammengestellt, sondern auch übersetzt. „Brandende Woorden uit Duitschland“ heißt der Band – Verbrannte Worte aus Deutschland.

Beversluis (1894 – 1966) stammte aus einer Pfarrersfamilie. Er dichtete und engagierte sich für die sozialistische Sache. In dieser Phase entstand auch dieser Band bei den Buchfreunden Solidarität (Boekenvrienden „Solidariteit“) in Hilversum. Aber sein linkes Engagement blieb temporär. Später mutierte er zum Nationalsozialisten, für deren Partei niederländische Partei er sogar Bürgermeister einer Kleinstadt wurde. Seine eigene Dichtung schreckte in den 1940er Jahren, den Jahren der deutschen Besatzung auch nicht vor antisemitischer Hetze zurück.

Doch im Jahr 1934 war das noch nicht absehbar. Beversluis arbeitete damals beim Arbeiter Rundfunk Verein (VARA). Hier lernte er Heinhz Kohn kennen, dem er bei seinem Verlagsprojekt Boekenvrienden „Solidariteit“ unterstützte. Els Andringa führt in seinem Buch über das Geflecht der deutschen und niederländischen Verflechtungen des Exils allerdings aus, dass Beversluis trotz seines späteren Antisemitismus keinen seiner Bekannten aus seiner sozialistischen Phase verraten haben soll.

Ein gutes dreiviertel Jahr nach der Bücherverbrennung in Berlin war das kleine Buchprojekt durchaus wichtig. Es zeugte tatsächlich von Sildarität. Und es versuchte Interesse für die verbannten Autoren und ihre verbrannten Texte zu wecken.

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1934 Biografisches

Johannes R. Becher berichtet von seinem Paris-Aufenthalt im Exil

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten flohen viele Politiker, Intelektuelle, Künstler ins Exil. Unter ihnen waren viele Kommunisten, Sozialdemokraten und viele politisch unabhängige, aber in klarer Opposition zu den Nazis befindliche Menschen wie Walter Mehring. Der Schriftsteller und Kommunist Johannes R. Becher will wie viele andere zunächsteine Einheitsfront von Kommunisten und Sozialdemokraten mitschmieden. Von der Komintern in Moskau erhält er den Auftrag, eine literarische Einheitsfront zu formen. Dafür reist er viel und hält sich sehr lange in Paris auf. Im folgenden Textauszug erinnert sich Johannes R. Becher daran. Der Text zeigt auch, was der Komintern und den Kommunisten 1935/1935 wichtig war. Unter anderem berichtet Becher auch, dass er sich mit Walter Mehring getroffen hat. Der Text zeigt exemplarisch wie eingeschränkt die Offenheit der Kommunisten für Andersdenkende war. (A.O.)

Besonders in Paris macht es sich bemerkbar, daß meine Reise gerade in die Monate fiel, wo besonders die prominenten Schriftsteller verreist waren. Auch von unseren Genossen waren im Anfang nur wenige in Paris anwesend, so daß ich längere Zeit mit Warten verbringen mußte.

Viele von den Genossen (Seghers, Schönstedt, Toni, Kantorowicz etc.) sind meistens mit einigen Funktionen belastet, so daß ihr Einsatz für den Bund und für den Schutzverband Deutscher Schriftsteller verhältnismäßig gering ist. Die meisten Genossen waren an der Herstellung des „Braunbuchs” beteiligt und somit die letzten Monate besonders stark in Anspruch genommen. Sowohl in der Arbeit des Bundes wie in der Arbeit des Schutzverbandes war während der Sommermonate eine vollkommene Pause eingetreten. Die Stärke der Mitglieder des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller betrug ca. 30 Genossen, die des Schutzverbancles ungefähr 150 Kollegen. Nach einer kurzen Vorbesprechung mit der Fraktionsleitung beschlossen wir, eine mehrtägige Konferenz über die wichtigsten Fragen abzuhalten. In dieser Konferenz wurden die wichtigsten praktischen, ideologischen und organisatorischen Fragen durchgesprochen. Es zeigte sich eine ziemlich bedeutende Ungleichheit in der Entwicklung der verschiedenen Genossen. Genossen, die in Deutschland keine Beziehung zum Bunde hatten, sind heute im Bunde und müssen innerhalb der kurzen Zeit und dazu in der Emigration, losgelöst von der direkten Beziehung zur Arbeiterbewegung, all die literarisch-theoretischen Erkenntnisse nachholen, die die Organisierten, das heißt andere Genossen, innerhalb von vielen Iahren sich errungen hatten. Wir beschlossen daher, sofort zwei Arbeitsgemeinschaften einzurichten, und zwar eine über literaturtheoretische Probleme, in der ganz besonders auch die Geschichte des Bundes und seiner literaturtheoretischen Entwicklung, insbesondere die Frage des Trotzkismus in der Literatur, systematisch behandelt werden soll. In der zweiten Arbeitsgemeinschaft, unter der Leitung des Genossen Weinert, sollen besonders die neuen Formen praktiziert Werden. In einer Besprechung ınit dem Vertreter der deutschen Partei äußerte auch dieser den Wunsch, daß die Ortsgruppe Paris gerade in dieser Richtung der deutschen Partei behilflich sein sollte.

(…)

Unsere Genossen belieferten in Paris insbesondere auch zwei Zeitschriften: „Die Aktion” und die „Blauen Hefte“. Die Mitarbeiten an der „Aktion“ werden in letzter Zeit eingestellt, nachdem sie ganz offen französisch-imperialistische Interessen vertritt, und die Mitarbeiten an den „Blauen Heften” erscheinen ebenfalls zweifelhaft, um so mehr, als ihr Redakteur ein gewisser Ullmann – Pseudonym für Lherman – ist, ein sowohl in Deutschland wie in Österreich wegen Betrugs vorbestraftes Subjekt, und da auch hier die Gefahr besteht, daß die Geldquellen aus der französischen Regierung nahestehenden Kreisen stammen. Im übrigen stellen die „Blauen Hefte” ein buntes Mischmasch klar von parteifeindlichen Beiträgen und Beiträgen unserer eigenen Schriftsteller, von zionistischen Apologien usw. usw. – Wie tief teilweise das theoretische Niveau unserer in Paris lebenden Schriftsteller steht, zeigt ein Beitrag von Kantorowicz in der früheren „Aktion”, wo er von dem „freien und glücklichen Land, das Frankreich ist“, spricht und vorschlägt, die deutschen Emigranten sollten von Französischen Familien eingeladen werden, um auf diese Weise die beiden besten Vertreter der deutschen und französischen Kultur miteinander zu verschmelzen. Die theoretische Unklarheit kommt ebenfalls in dem Kulturteil des „Braunbuchs” zum Ausdruck, wo ziemlich unterschiedslos alle verbrannten und verbannten Schriftsteller behandelt werden.

Durch meine vorzeitige Abreise von Paris konnte ich leider den Zeitschriftenplan nicht mehr verwirklichen. Zu gleicher Zeit besprachen die Parteivertreter mit mir den Plan einer großen repräsentativen Tageszeitung, an der die Schriftsteller mit größter Intensität mitarbeiten könnten. Ich wies ihnen gegenüber hin auf die Notwendigkeit eines Feuilletons, was prinzipiell zugesagt wurde. In den Gesprächen mit dem Genossen Biha entwickelte dieser den Plan einer besonders für Deutschland bestimmten Kulturzeitschrift, so daß auch hier eine Möglichkeit fiir das Eingreifen der Schriftsteller vorhanden ist. Ganz besonders wichtig war in der Konferenz die eingehende Aussprache darüber, wieweit die in der Emigration lebenden Schriftsteller der deutschen Arbeiterbewegung zu Hilfe kommen könnten. Es wurde von mehreren Seiten betont, daß in Deutschland eine starke Stimmung gegen die emigrierten Schriftsteller vorhanden sei und daß man diese Stimmung auch dadurch liquidieren müsse, daß man von außen her Arbeiten für Deutschland liefere. Eine Anzahl solcher Projekte, illegale Kleinbüchlein usw., in der Emigration herzustellen, wurde besprochen und sollte in der Arbeitsgemeinschaft des Genossen Weinert systematisch weitergeführt werden. (…)  Besonders Genosse Kantorowicz möchte diese Zeit benutzen, um seine mangelnden theoretischen Fähigkeiten aufzufüllen. Mit Plivier und Walter Mehring hatten Genosse Kisch und ich längere Aussprachen, deren Ergebnis befriedigend war. Beide erklärten, sowohl an den „Neuen Deutschen Blättern” wie auch an der IL mitarbeiten zu wollen und andere Schriftsteller in weitestem Maße dafür zu interessieren. Plivier gab mir für die IL einen größeren Beitrag mit (…).

Ich sprach ferner noch mit einigen linksbürgerlichen Schriftstellern. Bei ihnen allen fand ich zwar eine Bereitschaft, mit uns zu arbeiten, aber gleichzeitig auch eine gewisse Furcht, in der Emigration hervorzutreten, aus Angst, ausgewiesen zu werden, oder aber, weil sie noch bestimmte Verbindungen mit Deutschland nicht preisgeben möchten.

(…)

Was die Emigrationsstimmung der Pariser Gruppe betrifft, so muß zunächst festgestellt werden, daß die Leitung der Parteifraktion außerordentlich schwach ist, daß man, wie mir mitgeteilt wurde, in der Parteifraktion darüber diskutiert: war der Volksentscheid richtig oder nicht, und daß verschiedene Fragen unserer Genossen unbeantwortet blieben. Wenn man bedenkt, daß die einzige in breiter Öffentlichkeit geführte Polemik gegen den Trotzkismus im „Gegen-Angriff” vom Genossen Frei gegen Schlamm geführt wurde, so muß man feststellen, daß diese Arbeit der Polemik absolut ungenügend war. Überhaupt macht sich die Tendenz, wie ich auch später in Prag feststellte, bemerkbar, daß die große Emigrationspanik sich sublimiert und jetzt in der Form trotzkistischer Fragestellung usw. auftritt, so daß man zunächst, wenn man noch die grobe Emigrationspanik in Erinnerung hat, sehr leicht geneigt ist anzunehmen, die Emigrationsstimmung sei völlig überwunden.“

(Johannes R. Becher: Publizistik I – 1912 – 1938; Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1977 (i. e.: Johannes R. Becher: Gesammelte Werke, Bd. 15); s. 393 ff.

 

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Walter Mehrings Bibliothek im Wiener Hotel Fürstenhof

Hotel Fürstenhof in Wien
Hotel Fürstenhof in Wien

Vom Westbahnhof sind es nur einige Meter bis zum Hotel Fürstenhof. Es liegt am Neubaugürtel 4. Als Walter Mehring im September 1934 aus Paris kommend mit dem Zug in die österreichische Hauptstadt einfuhr, hat er als erste Unterkunft eine naheliegende Adresse gewählt. Aber offenbar hat es ihm in dem von Inhaber Julo Formanek in einem schönen Jugendstilhaus geführtem Hotel so gut gefallen, dass er dort blieb. Und das für immerhin dreineinhalb Jahre.

Vielleicht waren es anfangs auch ganz praktische Überlegungen, die ihn in den Fürstenhof führten. Dank der Nähe zum Bahnhof war der Weg für den Transport seiner Bibliothek nicht weit. Denn nach Wien wurde ihm die Bibliothek seines Vaters, die „Verlorene Bibliothek“, aus Berlin nachgeschickt – „ins Exil gerettet dank der Komplizität der Berliner Tschechoslowakischen Gesandtschaft, dank der Kollegialität ihres Attachés, des Lvrikers Camill Hoffmann (aus der Prager Dichterrunde der Werfel, Mevrink, Kafka, Capek, die alle etwas kabbalistisch angehaucht waren), – ihn aber hat man später in einem Brandofen vernichtet.“ (Walter Mehring: Die verlorene Bibliothek, Düsseldorf: Claassen Verlag, S. 17)

Nachdem Mehring in der Nacht des Reichstagsbrandes von Berlin nach Paris floh, war die Ankunft in Wien mehr als eineinhalb Jahre später wieder eine Rückkehr in den deutschen Sprachraum. Das Hotel Fürstenhof war auch deshalb mehr als ein Aufenthaltsort: „Gewohnt habe ich zum letzten Male wohl in Wien, bevor es stürzte. Denn dort hatte ich noch alle Bücher um mich, aus meines Vaters Bibliothek, und konnte mich zu Hause fühlen.“ (ebda.) Einen gewissen Anteil hat wohl auch der Fürstenhof daran gehabt. Das Leben im Hotel war für Mehring nichts ungewöhnliches, den größten Teil seines Lebens hat er so gelebt. Im Fürstenhof hat er nicht nur in einem Zimmer gehaust. Er hatte quasi Familienanschluss, denn es war damals üblicher, in Hotels zu leben. Pensionen und Hotels, in denen die Gäste richtig lebten, beschreibt zum Beispiel auch Joseph Roth in seinem Roman „Kapuzinergruft“.

Das Einwohnermeldeamt der Stadt Wien (Auskunft vom 23. Januar 2013) vermerkt fünf Meldeperioden Walter Mehrings im Fürstenhof. Vom 26. September 1934 bis zum 3. Januar 1935 währte der erste Aufenthalt. Vom 21. Februar bis zum 26. Mai 1936 war er wieder im Fürstenhof gemeldet. Ab dem 26. August desselben Jahres folgte bis zum 13. August 1937 , die nur vom 14. Januar bis zum 15. Februar 1937 unterbrochen wurde, die dritte Periode. Ein viertel Jahr später war er in Wien zurück. Vom 19.November 1937 bis zur Flucht aus dem nun nationalsozialistischen Wien am 11. März 1938 folgte der letzte Aufenthalt in dem Hotel gegenüber vom Westbahnhof. Die Zwischenzeiträume hat Walter Mehring in Paris verbracht. Das zumindest hat er bei den Wiener Meldebehörden angegeben.

Wien aber blieb der Ort, indem er Hertha Pauli kennen- und lieben lernte. Und die Stadt, in der Walter Mehring in der Bibliothek seines Vaters lebte. Drei der vier Wände seines Zimmers im Hotel Fürstenhof waren nach eigener Darstellung voller Bücherregale. Die Bücher gaben ihm Zuflucht. Und die Erinnerung an das Auspacken uns Lesen der Bücher in Wien ist der Ausgangspunkt für seinen autobiografischen Band „Die verlorene Bibliothek – Autobiografie einer Kultur“: „Ausgeleert, Kiste um Kiste – Pandorabüchse des NachDenkers Epimetheus (mit einem trüben Bodensatz Hoffnung) – spukte ihr Inhalt auf den abgeschrubbten Dielen, dem ungemachten Hotelbett, dem rußigen Fensterbrett in der Lesegruft meines Wiener Voruntersuchungsexils.“ (ebda, S. 189)

Und der Moment der Wiederbegegnung mit diesen Büchern bleibt ihm so in Erinnerung: „Den ganzen ersten Tag über, vom Morgengrauen an, seit ein paar verdrossene Transportarbeiter Kiste auf Kiste abgeladen hatten, die sie wahrscheinlich in ihrer Wiener notleidenden Einbildung mit materiellen Genuß- und Luxusartikeln angefüllt glaubten, las ich mich sinnlos voll . . . Man kann dem Lesen so gesundheitsschädlich verfallen wie jedem anderen Rauschmittel, besonders als Europäer, der ja durch lange erbliche Belastung im gleichen Prozentsatz alkohol- wie büchersüchtig ist. Man greift zum Buche wie zum Glase, um sich über die deprimierende Nüchternheit der Zeitungssensationen – hinwegzutrinken, um den widerlichen Nachgeschmack der Medizinen, die man uns in den Spitälern der Zwangs-Heil- versuche eingibt, herunter zu spülen. Und nichts hilft so wie ein süffiges Getränk -, wie Genuß von abgelagertem Pathos, vorzüglich in Versen konzentriert, um sich gleich edler und erhabener zu fühlen. Doch hält man sich nicht lange an die guten, erlesenen Jahrgänge. Und beim Lesen wie beim Trinken steigert man allzu rasch den Spiritusgehalt, man  sucht nach Selbstbekräftigung und zugleich nach genereller Absolution. Abnorme Gelüste, deren man sich wie eines versteckten Geburtsfehlers, wie einer krankhaften Veranlagung geschämt hatte, findet man bei erhabensten Genies im Schaffensrausche ausgeplaudert.“ (ebda. 24)