In seiner Biografie „Der Orientatlist – Auf den Spuren von Essad Bey“ schildert der Amerikaner Tom Reiss, wie sich der „Anschluss“ Österreichs auf den in Wien lebenden Walter Mehring auswirkte. Reiss beschreibte zudem, wie Mehring mit Hertha Pauli, der damaligen Agentin Essad Beys, nach Frankreich und weiter in die USA floh:
„In seinem Buch Die verlorene Bibliothek schrieb Levs Freund Walter Mehring, dass Wien und die gesamte Doppeladlermonarchie in der Gefahr schwebten, von einer Lawine verschüttet zu werden. In dem Buch erfindet er eine imaginäre Bibliothek, die seines Vaters, die all die Werke jener Kultur birgt, die von den Nationalsozialisten und ihrer totalitären Revolution zerstört wurden:
Vor dem eiszapfigen Felsenriff des Stephansdomes, aus dem Totenglockengeläut und Johann Sebastian Bachs Orgeltoccata und Fuge das »Sterbende Wien« zur Mitternachtsmesse riefen, auf dem Weihnachts-Tändelmarkt unter Marzipanengeln und Hampelmännchen brüllten jugendlich verwahrloste und verhetzte Buben antikapitalistische, antiklerikale, antisemitische Nachdrucke der Schmutz- und Schandscharteken aus, die ich einst in deinem »Giftschrank« heimlich durchschmökert hatte.
»Morgen«, hörte ich einen Burschen sagen, »morgen hängen wir sie alle auf: die Schwarzen und die Roten und die Herren Juden; und die, wo die vielen Bücher haben, zuerst …!«(->)
Wenn Levs Agentin Hertha Pauli an den »Anschluss« zurückdachte, so geschah das immer auch unter dem Aspekt ihre Gewerbes. In der Woche, in der Hitler nach Österreich einmarschierte, war auch Blanche Knopf nach Wien gekommen, um nach neuen Autoren und neuen Büchern Ausschau zu halten. Man hatte ihr den jüngsten Roman von Kurban Said angeboten, Ali und Nino, doch sie hatte ihn nicht eingekauft, vielleicht ja wegen der plötzlich so verstörenden Umstände. Hertha Pauli erinnerte sich an Freitag, den 11. März 1938, den Tag, bevor der Führer die formale Annexion Österreichs verkündete. »Vom Hotel Bristol aus, das an Wiens großer Prachtstraße, dem Ring, liegt, braucht man normalerweise zehn Minuten, um zum Café Herrenhof zu gelangen. Nicht so an jenem elften März. >Wenn der Ring blockiert ist, herrscht Revolution<, heißt es seit 1918 in Wien. Diesmal hatte die Polizei ihre Absperrungen errichtet, weil junge [Nazis] rund um die Oper aufmarschiert waren und >Heil Hitler!< brüllten … Es gelang mir, mich in einen Hauseingang zu drücken, ich fand einen zweiten Ausgang und tauchte auf der dem Herrenhof gegenüberliegenden Straßenseite wieder auf.«
Mehring traf Pauli in Paris, wo sie beide so lange blieben, bis sie durch die Invasion der Deutschen in Frankreich auch dort wieder in der Falle saßen. Daraufhin flohen sie nach Süden, und Pauli machte Mehring, mit dem sie inzwischen eine Liebesbeziehung verband, mit Varian Fry bekannt, jenem jungen Mann, der kurze Zeit zuvor erst die renommierte Hotchkiss School absolviert hatte, und der nun für Europas Intellektuelle und Künstler auf der Flucht die einzige Hoffnung darstelle. Fry war im Sommer 1940 in Marseille eingetroffen und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, in einem tollkühnen Alleingang Europas Intellektuelle und Künstler, die sich auf der Flucht befanden, mit allen nur erdenklichen Mitteln in Sicherheit zu bringen. Einen offiziellen Auftrag besaß er nicht, lediglich knapp 3000 Dollar und eine Liste mit den Namen von zweihundert der größten europäischen Intellektuellen und Künstler, die er sich mit Klebestreifen ans Bein geheftet hatte. Das Geld und die Liste stammten von einer Gruppe besorgter Bürger aus New Jersey, die sich nach dem Fall Frankreichs zusammengefunden hatten und sich das Emergency Rescue Committee nannten. Später berichtete Pauli, wie sie im Hotel »Splendide« zum ersten Mal jenen Mann aufsuchte, den jeder in Marseille nur »den Amerikaner« nannte: »Gut, Miss Pauli«, hatte Fry gesagt, »Ihre Namen stehen hier auf meiner Liste … Bringen Sie Mehring morgen mit. Au revoir.«
Fragte man Mehring später, wie er den Nazis entkommen sei, pflegte er zu antworten: »Ich ging nach links, wenn alle anderen nach rechts gingen, und lief dann einfach weiter.« Er hat übrigens Fry die größten Schwierigkeiten bereitet. Der hatte für Mehring gefälschte Papiere organisiert, doch Levs alter Freund war beim Umsteigen auf einem Bahnhof nahe der spanischen Grenze verhaftet worden. Daraufhin behauptete Fry, Eleanor Roosevelt persönlich habe ein Interesse an der Sicherheit Mehrings, und schaffte es auf diese Weise tatsächlich, den jüdischen Kabarettisten aus einem Konzentrationslager und aus den Fängen der Vichybehörden zu befreien. Schließlich gelangte Mehring bis nach Hollywood, wo er Levs und Erikas früheren Mitbewohnern aus Wien, Jay und Binks, begegnete, die sich gewiss seiner annahmen. Jay nutzte seine Wiener Beziehungen für eine erfolgreiche Hollywoodkarriere und war gerne bereit, Mitgliedern aus der alten Truppe zu helfen.
Im selben Monat, nur etwas später, schrieb Lev wieder an Baron Umar, der sich in Griechenland aufhielt. »Mimi Piekarski ist in London, wo sie zur großen Verwunderung aller, die sie kannten, ihren Lebensunterhalt selbst verdient«, scherzte er, informierte Umar aber gleichzeitig über ein Programm, von dem ihm eine Dame erzählt habe. Dabei ging es darum, dass irgendein Komitee … für Österreicher [englische Visa] beschaffe und ihnen einen einjährigen Aufenthalt auf englischen Schlössern ermögliche. Leider habe sie ihm nicht helfen können, da er kein Österreicher sei. Aber er riet Baron Umar, sich danach zu erkundigen. Niedergeschlagen verfolgte Lev das Schicksal seiner Freunde, dieser Welt von Literaturagenten, Verlegern und Schriftstellern, die er mit seinen Erzählungen und Abenteuern im Herrenhof unterhalten hatte, und die nun »in alle Winde verstreut waren … Ich weiß nicht, wann und ob ich sie je Wiedersehen werde«. Seine Wiener Verleger waren auch fort. Lucy Tal war gleich einen Tag nach dem Anschluss mit dem Zug nach Westen geflüchtet und so den Gestapoleuten zuvorgekommen (ihren Verlag ließ sie in den Händen von Dr. Ibach zurück). Rolf Passer, der Allah ist groß sowie Levs Schahbiographie herausgebracht hatte, floh über Prag nach London (und überließ seinen Verlag Frau Mögle). »Zweig und Werfel sind in London«, schrieb Lev an Umar, »Mehring, Pauli, Passer … in Paris.« Er fragte Umar, ob er etwas über einen Mann namens Alex Sacher-Masoch wisse, den Sohn jenes Mannes, nach dem der Begriff »Masochismus« geprägt worden war, und ob er etwas von ihm und seiner Frau gehört habe. Ob er wisse, was aus den beiden geworden sei?
Täglich sprangen Juden aus den Fenstern von Hochhäusern wie jenem, in dem Lev und Erika gewohnt hatten. Schlimmer, als er es sich je ausgemalt hätte, wurde Bettauers Roman Wahrheit, und noch viel brutaler. Wien wurde die Stadt ohne Juden.
Ein alter Jude aber blieb dort. Abraham Nussimbaum war es nicht möglich gewesen, aus Wien herauszukommen. Elfriede versprach, bei ihm in der Wohnung zu bleiben, als sie erfuhr, dass die Gestapo Razzien plante. Mit ihrem Status als Arierin und mit ihrem Adelstitel wollte sie versuchen, ihn so gut wie möglich zu beschützen. Lev selber scheint Wien zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen zu haben, unklar bleibt allerdings, warum er seinen Vater zurückließ. Irgendwann im Frühjahr 1938 tauchte er jedenfalls in Italien auf, und zwar unter noch merkwürdigeren Umständen als sonst.“
Tom Reiss: Der Orientalist – Auf den Spuren von Essad Bey; Berlin: Osburg Verlag 2008, S. 390 ff.
Eine Antwort auf „Tom Reiss schildert Mehrings Flucht und Exil“
Vielen Dank.
Über Fry gibt es verlässlichere Informationen in:
Fry, Varian: Auslieferung auf Verlangen. Die Rettung deutscher Emigranten in Marseille 1940/41 [Surrender on Demand, 1945]. Hrsg. und mit einem Anhang versehen von Wolfgang D. Elfe und Jan Hans. München 1985.
Ohne zu zögern. Varian Fry: Berlin – Marseille – New York. Ausstellung […] anlässlich des 100. Geburtstages von Varian Fry. Hrsg. von: Aktives Museum, Faschismus und Widerstand in Berlin. Berlin 2007.
Michael