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1927 Prosa Rezensionen Zeitschriften

Essad Bey feiert Algier oder die 13 Oasenwunder

WALTER MEHRING
ALGIER ODER DIE 13 OASENWUNDER
(Verlag „Die Sclımiede“, Berlin)

Algier oder Die 13 Oasenwunder (1925)Es gibt Bücher, die man in einer Nacht, ohne sie aus der Hand zu legen, ausliest und dann irgendeiner Freundin schenkt. Es gibt auch solche, deren Weisheit man in langen Wochen in sich einsaugt, und die man dann im Bücherschrank versteckt , damit sie kein fremdes Auge sieht. Es gibt aber auch Bücher, die man in einer Nacht auslesen möchte,  und die man doch nicht ausliest, weil man sie auch morgen und übermorgen und noch nach drei Tagen lesen will, und die man nie einer Freundin schenken würde.

Ein solches Buch ist „Algier“ von Walter Mehring.

Heutzutage ist es Sitte, daß jeder Europäer, der an einer Cook-Rundreise nach dem Orient
teilnahm und kein literarischer Analphabet ist, ein Buch (und zwar ein schlechtes Buch) über den Orient schreibt. So steht man jeder Neuerscheinung auf diesem Gebiete etwas skeptisch gegenüber: Denn es gibt keinen Orient mehr, oder es ist sehr wenig von ihm übriggeblieben, oder er hat sich verborgen und wird nur den Augen eines Dichters sichtbar; und ein solcher Dichter ist Walter Mehring. Das, was der Reisende in Algier sieht, sind schmutzige Straßen, verlauste Kinder, zerstörte Moscheen, neuerbaute Hotels und kommunistische Flugblätter, die jemand als „Teppich des erwachenden Asiens“ bezeichnete. Das, was Walter Mehring in Algier sah (oder nur fühlte), war nicht nur der Staub von heute, sondern es war auch der Orient, der letzte Fetzen jenes Orients, der einst die Moscheen von Buchara erbaute, auf den Teppichen der Alhambra Verse rezitierte an Lepra erkrankt, und zuletzt das schöne Wort „Backschisch“ erfand. Dabei bleibt Walter Mehring ein moderner Dichter des 20. Jahrhunderts, der seine romantische Pietät gut unter den Schleier des ironischen Lächelns zu verbergen weiß. Er macht das wie Ehrenburg, sein großer russischer Kollege, dem man auch nie die Gedanken ablesen kann.

Wer nie im Orient war, wer von dem Lande des Halbmonds nur träumen kann, der lese
keine Reisebeschreibungen, der lese nicht die Mitteilungen der zahlreichen königlichen und nichtköniglichen Akademien der Wissenschaften, der lese die 13 Oasenwunder von Walter Mehring, denn das, was darin steht, ist nicht nur Algier, sondern das ganze Araberland, von den Bergen des Atlas bis zu den Schneegipfeln des Libanon.

(Essad Bey: Walter Mehring: Algier oder Die 13 Oasenwunder; in: Die literarische Welt, Nr. 22, 1927.)

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Biografisches

Tom Reiss schildert Mehrings Flucht und Exil

In seiner Biografie „Der Orientatlist – Auf den Spuren von Essad Bey“ schildert der Amerikaner Tom Reiss, wie sich der „Anschluss“ Österreichs auf den in Wien lebenden Walter Mehring auswirkte. Reiss beschreibte zudem, wie Mehring mit Hertha Pauli, der damaligen Agentin Essad Beys, nach Frankreich und weiter in die USA floh:

„In seinem Buch Die verlorene Bibliothek schrieb Levs Freund Walter Mehring, dass Wien und die gesamte Doppeladlermonarchie in der Gefahr schwebten, von einer Lawine verschüttet zu werden. In dem Buch erfindet er eine imaginäre Bibliothek, die seines Vaters, die all die Werke jener Kultur birgt, die von den Nationalsozialisten und ihrer totalitären Revolution zerstört wurden:

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1925 1926 2008 Biografisches

Tom Reiss berichtet über die Freunde Essad Bey und Walter Mehring

Tom Reiss hat 2006 eine wunderbare Biografie über Essad Bey veröffentlicht. „Der Orientalist – Auf den Spuren von Essad Bey“ ist ein Buch voller Überraschungen und Verblüffungen, wie sie wahrscheinlich nur ein Leben im 20. Jahrhundert hervorrufen kann. Essad Bey war auch mit Walter Mehring gut bekannt, ja vielleicht sogar befreundet. Tom Reiss beschreibt in dem zitierten Stück unten das Leben in den Berliner Caféhauszirkeln:

„In diese verqualmten Räume, in denen verrückte Gedanken erblühten und man sich noch verrückter gebärdete, passte ein turbantragender aserbaidschanischer Literato mit Dolch namens Essad Bey gut hinein, obwohl den jeder irgendwie auch als Lev Nussimbaum kannte. Diese Welt der Kaffeehausreisenden war die ideale Bühne für Lev, auf der er seinen Auftritt als Orientale perfektionieren konnte, wobei aber dieser Auftritt niemandem etwas nützte außer ihm selber. Denn genau das war das Charakteristikum des Kaffeehauslebens: die Auftritte richteten sich im Wesentlichen immer nur an das eigene, verletzliche Ego. Hilfreich war dabei auch, dass hier niemand nach Geld oder Universitätsdiplomen fragte.

Der zehn Jahre ältere Walter Mehring war damals schon ein bekannter Mann, und wahrscheinlich hat Lev durch ihn den Zugang zur Kaffeehausszene gefunden. Aber auch Lev wirkte anregend auf seinen häufig depressiven Freund. Mehring war der wichtigste Verfasser der Couplets und frechen Sprüche jenes politischen Kabaretts gewesen, das Joel Grey später versuchte, in seinem Broadway-Musical und in dem Film Cabaret wieder aufleben zu lassen (die Darstellung im Film war allerdings ein Anachronismus, denn dieses bissig satirische Kabarett war schon Ende der zwanziger Jahre praktisch tot, als der Nationalsozialismus sich erst in den Anfängen befand). Seinen Höhepunkt hatte das politische Theater, so unwahrscheinlich es auch klingen mag, wohl im Berlin der Kaiserzeit erlebt; die Zensur machte die Witze lustiger. Mehring war der Star gewesen, als das Kabarett seine unbestrittene Blütezeit feierte, d.h. in den Jahren der Revolution von 1919 bis zum Ende des Inflationsjahres 1923. Danach glitten die Berliner Kabarettnummern auf ganz eigene Weise ins Varietehafte und Burleske ab, und das Revuetheater, in dem Mädchen als Soldaten, Ärzte, Sträflinge oder Eskimos auf der Bühne tanzten, trat an die Stelle der anspruchsvolleren, zum Nachdenken anregenden Unterhaltung der Jahre zuvor. Die Hauptkonkurrenz für das Revuetheater mit seinen Tanzgirltruppen stellte nicht das Kabarett dar, sondern eine Unterhaltungsform auf noch niedrigerer Stufe: Revuen, in denen die Tänzerinnen sich nackt präsentierten. 1927 warben in Levs Berlin bunte Neonreklamen ganz unverblümt: »Nackte Tatsachen, die Welt unverschleiert« oder »Potzblitz! 1ooo nackte Frauen!« Levs Schriftstellerkollegen Walter Benjamin und Siegfried Kracauer verbrachten viele vergnügliche Stunden damit, die verschiedenen Aspekte der sich in solchen menschlichen Darbietungen offenbarenden mechanischen Reproduzierbarkeit zu analysieren – kritisch, wie sich versteht.

Mitte der zwanziger Jahre war aus dem echten Berliner Kabarett eine durch und durch politische Veranstaltung geworden. Auf der einen Seite gab es die Darbietungen kommunistischer Agitpropgruppen, auf der anderen die pronationalsozialistischer, völkischer Unterhaltungskünstler. Die ursprünglichen Dadaisten wie Walter Mehring hatten genug davon, sie hatten die Schnauze voll. Vielleicht war es ja Lev, der Mehring vorschlug, Berlin zu verlassen und eine Reise durch Algerien anzutreten. Ganz gleich, wie er auf den Gedanken kam, die Reise wirkte sich belebend aus und führte zu Mehrings erstem Prosawerk: Algier oder die 13 Oasenwunder. Das Buch Exodus habe ihn auf seinem Weg in die Pyramidenstadt Ghardaja in der Sahara, im algerischen M’zab begleitet, wo die Abaditen mit ihren islamischen golus leben, erinnerte sich Mehring. Bei ihnen hätten die letzten authentischen Israeliten gewohnt, die sich selber Ishuruni, die Aufrechten, nannten. (Auffallend ist, dass der Kaffeehausorientalist, wohin er seine Schritte auch lenkte, immer wieder auf eigenartige Juden stieß. Ganz besonders dann, wenn er selber ein Jude war, und so wie Lev oder auch Walter Mehring, versuchte, seine Identität zu verbergen.)

Lev schrieb eine begeisterte Kritik über das Buch seines Freundes in der Literarischen Welt. Darin sagte er, die meisten Reisebeschreibungen seien für Europäer so enttäuschend, weil sie dem Orient seine Seele nähmen, in diesem Buch jedoch, dessen Verfasser es besser wusste, obwohl er sich bis zu dem Zeitpunkt nie weiter nach Osten vorgewagt hatte als bis nach Budapest, könne der Leser den wahren Orient entdecken. Der Grund dafür sei, dass Walter Mehring überall Poesie sah und hörte, und »dass es keinen Orient mehr (gibt), oder sehr wenig von ihm übrig geblieben (ist) oder er sich verborgen (hat) und nur den Augen des Dichters sichtbar (wird) … Wer nie im Orient war, wer von dem Lande des Halbmondes nur träumen kann, der lese keine Reisebeschreibungen, der lese nicht die Mitteilungen der zahlreichen königlichen und nichtköniglichen Akademien der Wissenschaften, der lese die 13 Oasemvunder von Walter Mehring …«

Aber man las nicht Mehring, man las Essad Bey.

Bis Lev im Alter von achtundzwanzig Jahren die Literarische Welt verließ, hatte er 144 Artikel für die Zeitung geschrieben, mehr sogar als Walter Benjamin, der ebenfalls zu Willy Haas’ Lieblingen zählte. Außerdem hatte er noch ein gutes Dutzend sehr erfolgreicher Bücher publiziert. Sein Freund und späterer Mitarbeiter George Sylvester Viereck schrieb einmal, Essad Bey könne ein Zimmer betreten und käme schon nach wenigen Stunden mit einem fast fertigen neuen Manuskript wieder heraus. Das mag zwar etwas übertrieben sein, aber Lev produzierte so viel und so flüssig, dass es schon beinahe nicht mehr anständig war. 1934 schrieb Werner Schendell, sein Verleger und Agent, ihm einem Brief, in dem er ihn um etwas bat, was ein Autor sicherlich nicht oft zu hören bekommt, und schon gar nicht, wenn es sich bei dem Autor um den Verfasser von äußerst erfolgreichen Büchern handelt, der stolz darauf sein durfte, dass siebzehn seiner Werke auch im Ausland verlegt wurden. Schendell bat seinen Autor, »nicht mehr so viel Bücher herauszubringen … Man darf nicht als Vielschreiber gelten … besser immer mal wieder ein Jahr dazwischen eine Pause machen«.

(…)

Haas und Mehring sowie Levs andere Kollegen wussten wahrscheinlich über seine wahre Herkunft Bescheid, d.h. bis 1930 wussten sie es ganz sicher, doch in der Öffentlichkeit sprachen sie nie darüber. Als sein erstes »autobiographisches« Werk, Öl und Blut im Orient, erschien, begann der nicht genannte Verfasser seine Besprechung des Buchs in der Literarischen Welt folgendermaßen: »Man kennt Essad Bey aus der >L.W.<, aber man kannte ihn bis heute noch nicht, man dachte bisher bei seinem Namen an ein Pseudonym, und steht staunend vor diesen seltsamen Lebensaufzeichnungen eines in Baku in Aserbeidjan geborenen Asiaten, Sohn eines mohammedanischen Feudalen und einer russischen, revolutionären Intellektuellen.« Ob nun Haas nur so tat, als ob der Herausgeber tatsächlich im Unklaren war über die Herkunft seines aus Russland geflohenen Kollegen im kaukasischen Kostüm, lässt sich unmöglich sagen. Die meiste Zeit seines Lebens redete Lev mit seinen Autorenkollegen stets in einem witzelnden Ton über seine »Verwandlung« von Lev in Essad, bis ihn das Schicksal schließlich an einen Ort verschlug, an dem er über solche Dinge nicht mehr scherzen konnte. “

Tom Reiss: Der Orientalist – Auf den Spuren von Essad Bey; Berlin: Osburg Verlag 2008, S. 256 ff.