Nach dem Krieg setzte eine Kabarett-Renaissance sondergleichen ein. Die Aufhebung der Zensur ermöglichte Walter Mehring im erneuerten „Schall und Rauch“ Zeitsatire großen Stils. „Berlin, dein Tänzer ist der Tod“ hieß sein Auftakt zu cler „goldbesch … Zeit der Zwanziger Jahre“. Klabund, Seemann Kuttel Daddeldu-Ringelnatz, Theobald Tiger alias Tucholsky und Marschall Böff alias „Ecce Homo“-Zeichner George Grosz assistierten. Mit seinem expressionistischen Sprachen-Ragtime schuf Mehring, Jahre vor Brecht, den Song. 1921 setzte Trude Hesterbergs „Wilde Bühne“ die Tradition des zugrundegegangenen „Schall und Rauch“ fort.
Im März 1918 War Wedekind gestorben. In einer Augsburger Kneipe sang ein junger Mann die halbe Nacht zur Guitarre die Lieder des großen Ahnherrn. Der junge Unbekannte hieß Bertolt Brecht. In der „Wilden Bühne“ schockierte er dann erstmals die Berliner mit seinem Elternmörder „Jakob Apfelböck“; der Durchbruch gelang ihm 1928 gemeinsam mit Kurt Weill in der „Dreigroschenoper“; beider überragende Interpretin war Lotte Lenya.
In dieser Zeit und im intimen Rahmen der „Wilden Bühne“ wurde geprägt, was Deutschlands Chansontradition genannt werden darf. Trude Hesterberg, Rosa Valetti, die später ihr eigenes „Größenwahn“ eröffnete, Kate Kühl hießen die neuen Chansonetten, die auch vor politischen Texten nicht zurückschraken. Man gab sich revolutionär, politisch-pamphletisch, links.
Die eigentliche Entdeckung der zwanziger Jahre war die emanzipierte Frau. Sie zog als Herrscherin ins Kabarett, wie der Chronist Berlins Walter Kiaulehn feststellt: „Die neuen Lieder waren (den Frauen) von den Dichtern auf den Leib geschrieben worden, und darum ließen sie auch die Kniekehlen mitsingen. Es klang sehr gut.“ Hatte man zuvor nur Sinn für die Beine der Tillergirls, so interessierte man sich nun für Persönlichkeiten, die außer ihren Beinen auch noch Witz zu verkaufen hatten. Die Troubadoure der neuen Berlinerin waren die Chansondichter. Mehring, Tucholsky schrieben für die Valetti in den Dissonanzen von Rot und Schwarz, Klabund hatte der kindhaften Blandine Ebinger „Ich baumle mit de Beene“ geschrieben, Friedrich Hollaender widmete ihr die „Lieder eines armen Mädchens“. Ein neues Gespann hieß Marcellus Schiffer-Margo Lion. Schiffer schuf das weibliche parodistische Typenchanson.
Nach 1925 war der politische Elan der Anfangsjahre im Rückzug. Die große Zeit der kleinen Revue brach an. Intim, elegant, voller Pikanterie, verdankt sie ihre Qualität weitgehend dem Geist ihrer Autoren und Komponisten. Über Nacht schlug Schiffers Revue mit der Musik von Mischa Spoliansky „Es liegt in der Luft“ ein, über Nacht hatte Berlin seinen neuen Schlager; Margo Lion und Marlene Dietrich – bis zu diesem Zeitpunkt 1928 eine kleine Kabarettstatistin – ersangen ihn mit ihrem Duett von der „Besten Freundin“.
Elisabeth Pablé (Hg.): Rote Laterne Schwarzer Humor – Chansons des Jahrhunderts; München: Residenz Verlag 1964, S. 10 f.