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Walter Mehring gibt Manuela Mühlthaler 1977 ein Interview

Manuela Mühlethaler: Wann haben Sie den Text „Oratorium von Krieg, Frieden und Inflation“ geschrieben?

Walter Mehring und Walter Stapper, der Manuela Mühlethaler zur Lektüre Mehrings inspirierte, 1977
Walter Mehring und Walter Stapper 1977

Walter Mehring: Das Oratorium war geschrieben für eine Aufführung im Piscator-Theater in Berlin. Und wurde von Eisler komponiert dort zum ersten Mal aufgeführt.

Manuela Mühlethaler: In welchem Jahr war das?

Walter Mehring: Das war 1929.

Manuela Mühlethaler: Und wann haben das Stück es geschrieben?

Walter Mehring: Wenn man das ein Stück nennen kann. Es war eigentlich ein episches Theaterstück, das ich schon 1925 im ersten Wurf fertig gestellt hatte. Dann wurde es von Piscator im Theater am Nollendorf Platz in der Werkstatt aufgeführt, allerdings in einer sehr veränderten Form, als ich es ursprünglich beabsichtigt hatte. Es war das erste Mal in Berlin, dass die SA das Theater gestürmt hatte und dass die erste Aufführung – die anderen folgten dann doch – nicht zu Ende geführt werden konnte.
Manuela Mühlethaler: In wie weit wurde Ihr Stück verändert?

Walter Mehring: Er hat eigentlich ein, sagen wir, marxistisch tendierendes Stück daraus gemacht, was gar nicht in meiner Art lag. Bei der Uraufführung kam es beim Lied der „Drei Straßenkehrer“ zu einem großen Skandal, der übrigens nicht nur von der SA, sondern auch vom Publikum wiederholt wurde. Das empfand man als eine Empörung gegen den Soldatenstand überhaupt. Merkwürdigerweise ist es jetzt in Berlin beim Festival wieder aufgeführt worden. Und zwar mit besonderem Erfolg. Die Zeiten ändern sich.

Gekidnappt zum Krieg

Manuela Mühlethaler: Wie haben Sie die Kriegserlebnisse verarbeitet? Sie haben ja selbst am Krieg teilgenommen.

Walter Mehring: Ich habe sie bis heute noch nicht verarbeitet. Teilgenommen könnte ich eigentlich nicht sagen. Ich wurde – es gibt dafür einen Ausdruck – 1916, ich ging da noch hier in München auf die Universität, gekidnappt vom Deutschen Heer und habe diesen Krieg bis zu Letzt als Unfreiwilliger durchmachen müssen. Schon damals verdächtig in einer Sonderkompanie als ein sogenannter Pazifist oder Kriegsgegner.

Manuela Mühlethaler: Wie empfanden Sie damals die Alliierten?

Walter Mehring: Als eine natürliche Reaktion. Denn wirklich angezettelt wurde der erste Weltkrieg oder zum Ausbruch gebracht – trotz aller Militaristen, die es in allen Ländern gab – erst durch Österreich und dann durch Deutschland, durch das Eingreifen von Deutschland.

Manuela Mühlethaler: Welche Beweggründe hatten Sie wieder aus dem Exil zurückzukommen? In ihrem „Oratorium von Krieg, Frieden und Inflation“ hatten Sie nach dem ersten Weltkrieg schon geschrieben: „Das Vaterland hat uns besiegt“?

Walter Mehring: Ich hatte vielleicht keinen anderen Grund, als dass damals meine französische Frau nach Frankreich zurückkehren wollte und wir auch eine kurze Zeit in Frankreich lebten, wo ich vorher schon einmal 23 Jahre gelebt hatte. So kam ich wieder nach Europa. Ganz freiwillig war das also nicht. Und ich würde heute noch, wenn ich im Augenblick nicht sehr leidend wäre, nach Amerika zurückkehren. Dorthin, wo ich mich am besten gefühlt habe, nämlich in Princton University, New Jersey in den USA.

Manuela Mühlethaler: Welche Tendenzen zeichnen sich zur Zeit an den Hochschulen ab?

Fragwürdige Klassifizierung als linksbürgerlich

Walter Mehring: Sie sind da berufener, etwas zu sagen. Was ich in der letzten Zeit als Tendenz gesehen habe, ist dass sogenannte Sympathisierende und die anderen, die sich Terroristen nennen, dort eine große Rolle spielen. Ich fürchte eine zu große Rolle.

Manuela Mühlethaler: Wie stehen Sie dazu, dass man Sie als linksbürgerlich bezeichnet?

Walter Mehring: Ich war weder links noch rechts. Ich war immer – ich habe es einmal so ausgedrückt – vertikal. Aber nie links. Denn das Linke ist ein parlamentarischer Ausdruck, der in Frankreich aufgekommen ist und auch in England. Tories and Whigs in England zum Beispiel, bei denen man gar nicht sagen kann, wer ist dort links und wer ist dort rechts? Sind das die Tories oder sind das die Whigs? Beide stimmten oft zusammen und auch gegeneinander.

Manuela Mühlethaler: Wie kommen dann die Leute zu der Annahme, dass Sie linksbürgerlich waren?

Walter Mehring: Das ist schwer zu sagen, denn erstens ist mir das Wort links – da müsste ich mal sagen: von wem aus gesehen? Vom Beschauer oder vom Darsteller? – schon nicht klar. Und bürgerlich? Ich weiß nicht, was Sie bürgerlich nennen, denn bürgerlich war ich nie.

Manuela Mühlethaler: Wie stehen Sie zu ihrem Zeitgenossen Georg Heym, der in seinen Gedichten – wie Sie – seine Abneigung gegen den Krieg zum Ausdruck brachte. Oder Tucholsky, von dem man sagt, dass er mit Ihnen befreundet war?

Walter Mehring: Heym hat Gedichte geschrieben, die damals sehr wertvoll waren. Ich habe nur noch einige in Erinnerung. Heym war bestimmt ein absolut geborener Dichter. Mit Tucholsky ist es eine andere Frage. Ich war mit Tucholsky gut bekannt. Mehr kann ich nicht sagen. Er hat über mich geschrieben und immer wieder gesagt: Wir wollen nicht in eine Freundschaft eintreten, denn dann wäre ich nicht mehr im Stande, objektiv über Sie etwas zu sagen.

Manuela Mühlethaler: Aus Ihren Schriften und Gedichten kann man ein politisches Engagement heraus lesen.

Walter Mehring: Ich bin nicht engagiert gewesen. Auch nicht im Sinne von Satre. Engagiert war ich nie. Ich war immer sogenannt freier Schriftsteller, wie man es in Amerika nennt: Freelance writer.

Wogegen wollten Sie sich mit Ihren Schriften richten?

Walter Mehring: Ich habe immer gegen das schlimmste gekämpft oder gestritten, und das ist Macht. Macht ist vielleicht das Schlimmste, was Menschen passieren kann. Nun kann Macht ausgeübt werden sowohl im Religiösen, wie im Finanziellen oder wie scheinbar in einer sozialistischen Republik, welche auch immer Sie nennen wollen.

Manuela Mühlethaler: Sind Sie für die Macht des Volkes?

Walter Mehring: Die Macht überhaupt – und außerdem müsste man definieren, was man Volk nennt – ist schon nicht identisch mit Volk und gehört ein Gelehrter oder Künstler, gehören beide, zum Volk? Ja oder nein? Sie gehören natürlich dazu. Das schlimmste aber ist die Macht. Und Macht ist das Haupttriebmittel, bei dem Geld eines der sehr vielen Hilfsmittel ist. Das Geld allein ist es nicht.

Zuflucht Amerika

Manuela Mühlethaler: Herr Mehring, haben Sie sich in Amerika wohl gefühlt?

Walter Mehring: In Amerika wohl gefühlt? Ich möchte eine kleine Anekdote erzählen: Als ich eingebürgert worden war, da sagte der Judge, der uns also en masse zu Amerikanern erklärte: Von jetzt ab ist es nicht nur die Erlaubnis Amerika zu kritisieren, sondern ihre Pflicht. Das ist ein Satz, den ich immer behalten habe.

Manuela Mühlethaler: Sie hatten vorhin gesagt, Sie hätten sich in Amerika wohl gefühlt.

Walter Mehring: Ich habe gesagt, dass ich mich in Amerika wohlgefühlt habe. Das war nach langen finanziellen Schwierigkeiten, da hat man mir einmal eine Chance gegeben. Dass ist es, was ich an Amerika schätze, dass man jedem einmal eine Chance gibt. Bei mir war es in Princton University, wo ich Vorträge gehalten habe. Vor allen Dingen über moderne Kunst. Mit moderner Kunst meine ich sowohl die Zeit des Impressionismus noch dessen, was man heute Expressionismus nennt. So hatte ich angefangen in der damals wichtigsten und schärfsten Zeitschrift Berlins von Herwald Walden „Der Sturm“.

Manuela Mühlethaler: Man teilt Schriftsteller gegen in Gattungen oder Kategorien ein. Zu welcher würden Sie sich zählen?

Walter Mehring: Der Expressionismus war mein Beginn, aber ich würde mich zu keiner verpflichtet fühlen. Geändert habe ich mich seit meiner Jugend kaum und einer Kategorie wird man mich, glaube ich, kaum zuzählen können.

Manuela Mühlethaler: Schreiben Sie heute noch? Und wenn ja über welches Thema?

Walter Mehring: Was ich eigentlich immer schreiben wollte und ich schreibe eigentlich noch immer – ich hoffe, dass ich das Buch wenigstens noch druckfertig herstellen kann – eine Diagnose aller Exile, nicht nur meinem. In meiner Epoche vor allem auf dem Montparnasse mit Künstlern, Ausgebürgerten , Verfemten, mit denen ich täglich zusammenkam.

Fast-Freundschaft mit Bertolt Brecht

Manuela Mühlethaler: Ich komme zu einer ganz anderen Frage, die Sie aber nicht überraschen dürfte: Wie stehen Sie zu Brecht?

Walter Mehring: Das ist sehr schwer. Brecht hatte ich kennengelernt, als er seinen Baal geschrieben hatte. Er kam damals mit einem Bühnenexemplar zu mir, in das hineinhektographiert war: „Walter Mehring in zukünftiger Freundschaft“. Ich sagte: „Herr Brecht, Sie sind ein vorsichtiger Herr, dass Sie schreiben: In zukünftiger Freundschaft.“ Eigentlich ist es zu einer Freundschaft auch nie gekommen.

Manuela Mühlethaler: Waren es politische Gründe, die eine Freundschaft zwischen Brecht und Ihnen nicht aufkommen ließen?

Walter Mehring: Meine politischen Ansichten waren von denen Brechts allerdings sehr verschieden. Brecht war ja, und das war seine beste Zeit, ein geborener deutscher Romantiker. Das sage ich zu seinem Lob! Dann hat Brecht allerdings in seiner späteren Zeit Dinge geschrieben, die ich nicht mehr gut heißen konnte. Da ist seine Hymne an Stalin, das Hirse-Gedicht. Denn ich hatte Brecht damals gesagt: „Sie haben wohl wie wir alle aus allen Zeitungen erfahren, dass Stalin damals eine Diktatur aufgerichtet hatte gegen alle, die gegen den sogenannten Naturwissenschaftler Lyssenko gerichtet waren. Stalin ist sogar noch weiter gegangen. Er hat ein Pogrom offen gemacht gegen die Professoren, vor allen Dingen gegen die jüdischen aber auch die anderen, die sich gegen Lyssenko gewandt hatten, gegen Lyssenkos Theorien von der Bepflanzung der Wüste.“

Manuela Mühlethaler: Aber Brecht war doch für die Macht des Volkes?

Walter Mehring: Ich glaube, aber ich bin vorsichtig, dass Brecht, den ich ja sehr gut kannte, mehr für seine Macht als die Macht des Volkes war und dass er sich unter Volk etwas vorgestellt hat, was ich nicht weiß.

Manuela Mühlethaler: Die Proletarier?

Walter Mehring: Für Brecht wie für viele andere war das Volk mit den Proletariern eigentlich identisch. Ich weiß nicht, ob es eine Identität von Volk und Proletarier überhaupt gibt. Und dann weiß ich auch nicht, was man einen Proletarier nennt. Ein Proletarier kann auch ein Hausdiener sein. Er kann auch als Lakai in einem feinen Restaurant oder Hotel, wie dem hiesigen, angestellt sein.

Macht und Vaterland

Manuela Mühlethaler: Welche Aussage hat für Sie das Wort Vaterland?

Walter Mehring: Da müsste ich einen lateinischen Vers wiederholen. Ich glaube Horaz sagte ihn zuerst: Ubi bene ibi patriae. Wo es gut ist, da ist das Vaterland. Wo immer es sei.

Manuela Mühlethaler: Sie haben demnach das Wort Vaterland ironisch gebraucht?

Walter Mehring: In diesem Sinne ja. Zum Beispiel als ich amerikanischer Staatsbürger wurde, wurde offiziell, meinem Pass nach, Amerika mein Vaterland.

Manuela Mühlethaler: Wie verhält sich Ihrer Meinung nach die Kirche?

Walter Mehring: Sie verhält sich so wie alle Machtgruppen und so wie sich heute die großen sozialistischen Republiken, also eine wäre zum Beispiel Sowjetrussland, sich heute verhalten.

Manuela Mühlethaler: Die Kirche erhebt doch den Anspruch für die Schwachen da zu sein. Wird sie diesem Anspruch gerecht?

Walter Mehring: Sie wird diesem Anspruch so wenig gerecht wie – sagen wir – jede Art von Religion – Marxismus ist ja auch nur eine andere Art von Religion. Und der Islam legt es wieder anders aus als zum Beispiel der Buddhismus. Ohne Religion ist eine Machtausübung, ganz gleich welcher Religion, nicht möglich. Das übrigens ist ein Satz, der nicht von mir stammt, sondern von einem der größten Weisen, von Machiavelli.

(Dieses Interview wurde am 8. Oktober 1977 im Hotel Continental in München geführt. Manuela Mühlethaler hat ihr Kassetten-Aufnahme bewahrt. Wie es zum Interview kam, ist in dem kleinen Text „Ein Schul-Referat führt Manuela Mühlethaler 1977 zu Walter Mehring“ erläutert worden.)

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