Walter Mehring spricht mit Michael Kehlmann über seine Erinnerungen an Ödön von Horváth anläßlich der Erstausstrahlung des Fernsehspiels „Geschichten aus dem Wienerwald“, BR 1964
Kategorie: 1964
Zürich, 4. Mai 1956
Lieber Willi,
heißen Dank für Ihren Händedruck zu meinem 60. Wiegenfest, dem alten Veteran, der sich, wie Sie, dunnemals tapfer geschlagen hat: im Café Größenwahn und bei Schwannecke ~ unter unserm dicken, prächtigen Brigadegeneral, Exz.
Tucho, der längst nun ins Walhalla a. d. Panke versetzt wurde und eine nachlebenslängliche Pension bezieht ~ wie sich das gehört. Und gedenken wir auch ernsthaft der gefallenen Kameraden Paule Grätz und Morgan und Grünbaum . . .
Es grüßt Sie mit Ihrem »Es lebe die (je nach Wunsch auszufüllende) Republik!«
Ihr old man Walter Mehring
(Traute Schaeffers und Peter Schaeffers (Hg.): „Wer darf sagen: ich liebe Dich-?“ – Zur Erinnerung an Willi Schaeffers; Berlin: Privatdruck 1964, S. 9.)
Nach dem Krieg setzte eine Kabarett-Renaissance sondergleichen ein. Die Aufhebung der Zensur ermöglichte Walter Mehring im erneuerten „Schall und Rauch“ Zeitsatire großen Stils. „Berlin, dein Tänzer ist der Tod“ hieß sein Auftakt zu cler „goldbesch … Zeit der Zwanziger Jahre“. Klabund, Seemann Kuttel Daddeldu-Ringelnatz, Theobald Tiger alias Tucholsky und Marschall Böff alias „Ecce Homo“-Zeichner George Grosz assistierten. Mit seinem expressionistischen Sprachen-Ragtime schuf Mehring, Jahre vor Brecht, den Song. 1921 setzte Trude Hesterbergs „Wilde Bühne“ die Tradition des zugrundegegangenen „Schall und Rauch“ fort.
Im März 1918 War Wedekind gestorben. In einer Augsburger Kneipe sang ein junger Mann die halbe Nacht zur Guitarre die Lieder des großen Ahnherrn. Der junge Unbekannte hieß Bertolt Brecht. In der „Wilden Bühne“ schockierte er dann erstmals die Berliner mit seinem Elternmörder „Jakob Apfelböck“; der Durchbruch gelang ihm 1928 gemeinsam mit Kurt Weill in der „Dreigroschenoper“; beider überragende Interpretin war Lotte Lenya.
In dieser Zeit und im intimen Rahmen der „Wilden Bühne“ wurde geprägt, was Deutschlands Chansontradition genannt werden darf. Trude Hesterberg, Rosa Valetti, die später ihr eigenes „Größenwahn“ eröffnete, Kate Kühl hießen die neuen Chansonetten, die auch vor politischen Texten nicht zurückschraken. Man gab sich revolutionär, politisch-pamphletisch, links.
Die eigentliche Entdeckung der zwanziger Jahre war die emanzipierte Frau. Sie zog als Herrscherin ins Kabarett, wie der Chronist Berlins Walter Kiaulehn feststellt: „Die neuen Lieder waren (den Frauen) von den Dichtern auf den Leib geschrieben worden, und darum ließen sie auch die Kniekehlen mitsingen. Es klang sehr gut.“ Hatte man zuvor nur Sinn für die Beine der Tillergirls, so interessierte man sich nun für Persönlichkeiten, die außer ihren Beinen auch noch Witz zu verkaufen hatten. Die Troubadoure der neuen Berlinerin waren die Chansondichter. Mehring, Tucholsky schrieben für die Valetti in den Dissonanzen von Rot und Schwarz, Klabund hatte der kindhaften Blandine Ebinger „Ich baumle mit de Beene“ geschrieben, Friedrich Hollaender widmete ihr die „Lieder eines armen Mädchens“. Ein neues Gespann hieß Marcellus Schiffer-Margo Lion. Schiffer schuf das weibliche parodistische Typenchanson.
Nach 1925 war der politische Elan der Anfangsjahre im Rückzug. Die große Zeit der kleinen Revue brach an. Intim, elegant, voller Pikanterie, verdankt sie ihre Qualität weitgehend dem Geist ihrer Autoren und Komponisten. Über Nacht schlug Schiffers Revue mit der Musik von Mischa Spoliansky „Es liegt in der Luft“ ein, über Nacht hatte Berlin seinen neuen Schlager; Margo Lion und Marlene Dietrich – bis zu diesem Zeitpunkt 1928 eine kleine Kabarettstatistin – ersangen ihn mit ihrem Duett von der „Besten Freundin“.
Elisabeth Pablé (Hg.): Rote Laterne Schwarzer Humor – Chansons des Jahrhunderts; München: Residenz Verlag 1964, S. 10 f.
„Unsere Leser“, schreiben Sie mir, „sollten erfahren, warum Sie, geehrter Herr, nicht in der Bundesrepublik leben . . .” Hm! Ich muß mal rasch überlegen, wie ich’s begründen, wie ich mich rechtfertigen soll . . . Einst nannte ich mein eigen: eine ererbte Bibliothek; mir unersetzlich in ihrer einmaligen, nie wieder herstellbaren Auswahl – eine Kunstsammlung von Bildern, Graphiken, Collages damals verrufener, heut weltgerühmter Maler – ein Archiv, Schränke voll, von Privatbriefen nun schon klassisch gesprochener Zeitgenossen – an meinen Vater und mich. Auch gelegentlich ein Daheim. All das fiel, in einer Stunde, einer SA-Haussuchungsplünderung zu Beginn des zirka tausendjährigen Dritten Reiches anheim. Seitdem mochte ich nichts mehr besitzen. Wenn einer ein Bein verloren hat, kann es ihm nicht mehr nachlaufen. Wenn einer sein Herz verloren hat, bleibt ihm nichts übrig, als sich einen Vers draus zu machen – auf die Geliebte: seine Sprachheimat, seine ihm allein teure Vergangenheit . . .
Item: Ich lebe nicht in der Bundesrepublik, weil ich, seit meiner Geburt (1896 in Berlin), „auf Reisen” lebe – via Exil bis zu meinem exitus letalis – weil Heimweh die einzig eingebildete Krankheit ist, an der ich bisher noch nie gelitten habe – weil die, zur Zeit, zeitgemäße, neudeutsche Literatur kein Resonanz-(Blut und)-Boden für mich ist . . .
In einem schmalen Buch hat Hermann Kesten 1963 all jenen Exilierten Platz geboten, die nach dem Krieg nicht in die Bundesrepublik kamen. Die Liste derer, die in dem band zu Wort kamen, liest sich wie ein Who is Who des Exils. Verdienstvoll ist auch der kurze Anhang, der auf acht eng beschriebenen Seiten eine Liste der bedeutenden Vertriebenen aus dem Dritten Reich enthält. Das Buch macht deutlich, wie schwer für viele die Rückkehr war. Vor allem, wenn sie auch nicht in die DDR wollten, wie die meisten derer, die zu dem Buch einen Text beisteuerten. Das erschien im Jahr des Auschwitz-Prozesses. Hermann Kesten (Hg.): Ich lebe nicht in der Bundesrepublik; München: List Taschenbücher, 1964; S. 113. (A.O.)