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1925 Prosa Rezensionen

Rudolf Kurtz freut sich über Mehrings erstes Bestiarium

NICHTEUKLIDISCHE TIER-GEOMETRIE

Mein Freund Harburger sagte wieder einmal: „Für feinere Denkarbeit ist das Gehirn zu grob. Da muß der Bleistift sich selbständig machen und in more mathematico drauflos gehen. Sie glauben an das Endgültige des dreidimensionalen Raums, weil Ihre Vorstellung nichts anderes zulässt. Aber denken dürfen Sie doch einen mehrdimensionalen Raum, der zu ganz neuen mathematischen Axiomen führt. Schließlich kommen auch praktische Resultate heraus, wie bei Einstein.“

Harburger selbst hat einen sehr kühnen Vorstoß gemacht. Wie der euklidische Raum nur einen Spezialfall des allgemeinen Raums ist, versucht er es mit einer allgemeinen Logik, zu der sich unsere klassische Logik als ein sehr begrenzter Typus verhält. Es sind eminent interessante Sachen dabei herausgekommen, die Töne der Musik und die Einsteinschen Formeln.

Ist es nun nicht sehr verständlich, daß Walter Mehring der Lockung gefolgt ist, die landläufige Zoologie aus ihrem beengten Vorstellungskäfig zu befreien und ein „Neubestelltes Abenteuerliches Tierhaus“ zu eröffnen, das auch bei Gustav Kiepenheuer in Potsdam erschienen ist. Die zehn Bände Brehm stellen diesem spirituellen Baedeker gegenüber den Spezialfall einer antroomorphen Tierwelt dar, die ihre Wirklichkeit damit beweist, daß sie durch Gewehr, Angel oder Mikroskop an das menschliche Auge herangeholt werden kann. Aber wieviel „wirklicher“ ist jene bunte Fauna, die ihr Dasein nicht in zufälligen Weidegründen verankert, sondern in den erhabenen Formen der Denknotwendigkeit? Das ist die höchst fruchtbare Prärie, auf der Mehring, ein edler Trapper, seine Schlingen stellt, seine treuen Spürhunde losläßt und Schuß auf Schuß seinem nie versagendem rifle entlockt.

Mehring hat also mit Fleiß zusammengetragen, was sich an Zeugnissen klassischer Autoren vorfindet, er scheut auch nicht vor der Etablierung neuer Animalien zurück, falls ein Denkbedürfnis vorliegt; Mondkalb, Zeitungsente und Kilometerfresser kommen endlich zu ihrem Recht. Zwanglos stellt sich die neue Denkweise her, in der der Löwe ein Spezialfall des Drachen ist und die Seeschlange die allgemeine Form des Karpfens. Eine geistige Landschaft entsteht, in der jene komplexen Tiere mit vollendeter Selbstverständlichkeit auftreten und klar stellen sich die Methoden heraus, mit denen die Menschheit versucht hat, jene Tiergestalten höherer Mathematik in den euklidischen Lebensraum einzuordnen. Das Einhorn zum Beispiel wird ein wunderbar zahmes Haustier, wenn es sein Horn einer allerdings unbezweifelbaren Jungfrau in den Schoß legen darf. So günstig liegt gemeinhin der Fall nicht und man ist zu sehr groben Mitteln genötigt, wie etwa 1474 die Bürger der guten Stadt Basel, die einem eierlegenden Hahn den Prozeß machten und durch Henkershand verbrannten. Und dies mit Recht. Denn der eierlegende Hahn ist ein Denktier und hat in der dreidimensionalen Welt nichts zu suchen. Wird er dennoch bei einer Spritztour ertappt, ist es gutes menschliches Recht, ihn aus seiner angemaßten Erscheinung hinauszuwerfen und ihn in das absolute Reich seiner wahren Existenz zu befördern. Denn wo würde die wissenschaftliche Zoologie bleiben wenn sie einen eierlegenden Hahn in ihr System einordnen müßte — auf dem Scheiterhaufen mit dem Hahn!

Man spürt, daß diese Tierwelt noch aus der großen Tradition des Aristoteles lebt. Ihr philosophischer Gehalt wirkt rasch. Mehring läßt sich hierdurch leider zu Seitenblicken verlocken: er kümmert sich zu viel um die Moral seiner Leser, obschon er, und sogar besonders reizvoll, die chronique scandaleuse der Tierwelt höherer Ordnung schreibt. Aber Sie werden natürlich wissen wollen, was es mit dem nichteuklidischen Hahn überhaupt auf sich hat. Lesen Sie bitte Walter Harburgers „Metalogik“ und versuchen Sie Ihr Heil auf jenem höchst abstrakten Ozean, an dessen jenseitigem Ufer, sehen Sie, die Welt der Dimensionen sich phantastisch ausbreitet.

Rudolf Kurtz (Direktor des Schall und Rauch): Nichteuklidische Tier-Geometrie; in: Die Literarische Welt, 1. Jg, Nr. 7 vom 20. November 1925, S. 5.

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1922 Rezensionen Zeitschriften

Max Herrmann-Neiße erfreut sich an Blandine Ebinger, Walter Mehring und Friedrich Hollaender

BELANGVOLLE KABARETT – MATINEE
Von Max Herrmann (Neiße)

Die Herausarbeitung des selbständigen Kabarettstiles, das völlige Ernstnehmen der Kunstgattung, müssen zuerst einmal die gefährliche Wechselbeziehung beseitigen zwischen dem auf der Bühne und dem vom Büffett Gebotenem. Erst wenn die Rücksicht auf den Konsum an Speise und Trank gefallen ist, kann auch jene geistige Rücksichtslosigkeit entstehen, die dem Künstlerischen den zur eigenwüchsigen Entwicklung freien Raum schafft. Als brauchbare Etappe auf diesem Wege ist so eine Kabarett- Matinee zu begrüßen, wie sie Blandine Ebinger, Friedrich Hollaender und Walter Mehring in den Berliner „Kammerspielen“ veranstalteten. So etwas gibt von Zeit zu Zeit unbeeinflußt Rechenschaft vom Stande der ganzen Kunstart sowohl, wie auch umfassenderes Zeugnis für des einzelnen Künstlers Persönlichkeit und Schaffensmodus, die ja bei der kurzen Frist des abendlichen Auftretens nicht den kompletten Umfang der Fähigkeit entfalten können. Das ist desto nötiger in einer Klamaukstadt wie Berlin, wo Publikum und Presse zu eigner größrer Bequemlichkeit darauf aus ist, die Schaffenden auf eine bestimmte Spezialität festzulegen und die Kategorie, mit der einer mehr oder minder zufällig einmal einen Erfolg hatte, ihm bis ans Lebensende als nie zu überschreitenden Rayon aufzunötigen. Für diese Leute ist die Ebinger die Darstellerin der halbwüchsigen Spreejöhre und Mehring der kaltschnäuzige Satiriker des Gegenwartsrummels, und wehe, wenn eins wagen sollte, einmal anders als erwartet zu kommen! Aber die drei taten‘s doch, und hätschelten auch Auditorium und Kritik trotzdem die alten gefälligen Vorurteile weiter, die Einseitigkeitsdefinitionen sind nun durch Fakten der objektiven Feststellung als böswillig belegt. Es zeigte sich nämlich erstens, daß die Ebinger eine Gestaltungskraft ist, die nicht bloß an die eine (Proletariermädchen-) Note gebunden ist. Der erste Teil der Darbietungen, für mein Gefühl der Interessantere, obwohl die Majorität natürlich den zweiten, geläufigeren vorzog, bewies ihre Vielfalt im Zeichnerischen, das Lebensromantisches, Panoptikumdämmriges, Galantlegendäres, Volksliedraunendes Bizarres und Primitives genau so scharf und mit einer ebenso aparten, für das besondre Instrument ihrer Sprach- und Körperkunst gelungnen Formung traf. Augen und Lippen umgeisterte eine tödliche Lasterhaftigkeit, aus rotem Gewand lugte ein nacktes Bein. Sie ist sich ihrer Möglichkeiten genau bewußt und hat das Spiel auf ihnen bis zur äußersten Souveränität ausgebildet, so war alles bis ins Kleinste abgewogen, Hingabe oder Sichversagen des Tonfalls, der Handbewegung, der Haltung so ausbalanciert, daß sich eine Leistung von wirklicher Geschlossenheit ergab, Kabarettmimentum einer entschiedenen, die Gesetze seiner besonderen Phantastik instinktiv beherrschenden Energie. Gleichfalls offenbarte sich, daß Mehrings spezifisch das Kabarettlied fassende Begabung in mehr als einem Sattel gerecht ist. Dieser erste Programmteil brachte auch neue Chansons von ihm, die mit dem alten Klischee „mokante Galligkeit“ nicht mehr zu erledigen sind, sondern eine Poesie der Außenseitigkeit und Abwegigkeit geben, der diffizilen Orte des Lebenswahnsinns, Wachsiguren-Relationen, die echte Sentimentalität des Verlorenseins gegen die aufgeputzte des bürgerlichen Dirnenbrimboriums, das unhold Umflügelte des Grauenmonstrums Berlin, Dämonie von Stadtbahnfahrt und Alltagsspuk, ohne Rührsal genommene Gespenstigkeit eines Totentanzes der Destillensphäre. lnfernalische Schnuppigkeit, zu der das diabolische Geldhetztempo der Stadt schon die Gassenkinder erzieht, die ihr erstes Hopsassagruseln vor einem Erhängten empfinden, der ihren miesen Alltag halb komisch, halb gefährlich überschaukelt. Da ist Urwuchs, Leibhaftigkeit dieses so seltsam bevölkerten Strichs, mit einem Schlag unmittelbar Hingefegtes! Die Veranstaltung baute sich überdies als ein gut gegliedertes Ganzes auf. Mehring leitete sie mit dem Vorspruch ein, der hier veröffentlicht wird. Dann kam der besprochene erste Teil, und im zweiten sang die Ebinger also Lieder des Genres, das nach dem Durchschnittsdiktat ihre einzige Domäne sein soll. Auch das erledigte sie natürlich wieder genial, vor allem so großartige Texte wie Hollaenders in der Stimmung glänzendes Mondlied oder sein erschütternde Anklageballade „Wenn ich gestorben bin“. Friedrich Hollaender, der Autorkomponist, begleitete sie immer am Flügel; er ist einer der besten Kabarettkomponisten, die Rubrik „Kabarettmusik“ als ein Zweig mit eignen Normen verstanden, er gibt Popularität ohne Kompromiß. pointierte Formulierung ohne Verzicht auf Geist und Geschmack und mixt — ohne Schmalz oder Programmgeklimper zu machen, einprägsame Schlager. Nicht der letzte, für jede Kabarettgemeinschaft vorbildliche Reiz ist, daß diese drei Künstler sich zu bester gegenseitiger Ergänzung eins zum andern fügen. Diese drei sind die verschiednen Seiten ein und derselben Kunstart und besitzen jedes in seiner Weise die besondere Magie der Brettl-Technik. Die Gestalterin, der Komponist, der Autor sind Blut und Geist grade vom Blute und Geiste dieses Komplexes und haben unwillkürlich im Spiel von Ausdruck und Geste, in der Tonanordnung, in der Wortregie die zu diesem Zwecke siegreiche und für dieses Feld originale Rhythmik und Dynamik. Darum rundete sich die Matinee wie ein Ring, sodaß Mehrings Vorwort aufging und bestätigt wurde im letzten Satz und in der letzten Gebärde der Ebinger und im letzten Notenarrangement und der letzten Situationsnotiz Friedrich Hollaenders und dieses Vormittagskabarett gesegnet war mit dein, was fast allen nächtlichen fehlt: mit Architektonik seiner Vorführungen, innerer Figur, (Drei-) Einigkeit.

Erschienen in: Die Neue Schaubühne, 4. Jg, April 1922, S. 109.

Walter Mehrings Vorrede

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1922 Rezensionen Zeitschriften

Walter Mehring feiert Blandine Ebinger

WENN IHR‘S NICHT FÜHLT, IHR WERDET‘S NICHT ERJAGEN…
(VORSPRUCH ZUR BLNDINE EBINGER MATINÈE)
Von Walter Melhring

Man könnte es dereinst für absurd halten, daß heute noch ein Mensch, und selbst für Augenblicke, es über sich gewann, ein Lied zu singen. Nach all dem Wahnwitz aber will man nun der Kunst die Rolle zuweisen, in diesem höllischen Debacle den kulturellen Schein des Himmelslichts zu wahren. Und fühlt der Künstler sich nicht in der Stimmung, den Tango der neun Musen zu erfinden, dann soll er wenigstens mit einem Lob der Menschlichkeit unsere Dissonanzen so übertönen, bis wir es selbst glauben, daß wir es gar nicht gewesen sind.

Dabei brauchten wir nur den Satz, daß böse Menschen keine Lieder (und auch keine Literatur) haben, als wahr zu nehmen, um mit einem fröhlichen: Wer wird denn weinen.., unsere Gutartigkeit zu dokumentieren. Aber sonderbar und unerforschlich sind die Wege unseres Schamgefühls. Ein Nackttanz paßte besser zu diesem demaskierten Elend als alle Theosophie. Die Gegensätze würden sich berühren, und man wüßte, woran man ist! Die trostlose Hoffnung, daß alles nur ein Mißverständnis war, wirkt deprimierender, als die klare Erkenntnis. Es hat sich vieles gewandelt in diesem Europa und jetzt stagniert es; die Letzten wurden die Ersten, die im Trüben fischen; sie waren schon immer da, saßen versteckt am Grund und sind emporgestiegen, hocken beisammen und unken, daß die Zeiten noch schlechter werden, weil die ihre gekommen ist. Aber kein Märchen spricht über diese ‘Wirklichkeit das Zauberwort: Es war einmal, das jene Kröten in Menschen verwandelte.

Es bat sich nichts gewandelt, als nur ihr Unterhaltungsstoff. Ein Sonntag ist, wie alle Sonntage waren in diesem Riesennest Berlin, wo sich allabendlich die Zellen erleuchten und die Menschen zum Biere gehen, altern und einmal spurlos verschwinden. Einer spürt den Drang, einen Schlager zu pfeifen, wenn einer in Bedrängnis stirbt. Einer schiebt Kegel und einer Millionen und einer singt so lange: Lott is‘ dot …‚ bis es ihm selbst an den Kragen geht.

Es ist kein Sinn in dieser Methode, aber im Uebersinnlichen bleibt das Nebeneinander haften; es ist ein Bruch in dieser Zeit, aber wer Augen hat zu sehen, findet die Einheit. Das Märchen war ein Krieg; ein Kind spielt mit den Trümmern der Wahrheit.

Daß irgend etwas nicht intakt sei, daß es dem einen über Gebühr schlecht und dem andern über Gebühr gut gehe, das haben alle erfaßt und alle Darsteller bis hinunter zum Cabaret profitieren davon. Könnte man mit Gesang einen Umsturz zaubern, so wäre ein Tendenzlied löblich, weit es einen Zweck hätte, aber oben die soziale Frage zu erörtern, wenn unten einer eine Lage Sekt schmeißt, hat höchstens den Zweck, die Eintrittsgelder zu erhöben. Keinen Zweck hätte e, die Dinge darzustellen, wie die andern es sich so vorgest1lt haben, so daß sie allerdings dann glauben, die Vorstellung hätte gar nicht stattgefunden. Denn Menschen gibt es, die gehen in einen Vortrag, nicht um zu hören, sondern um zu schreiben.

Zu wissen, daß es im Leben häßlich eingerichtet, genügt nicht, wenn nicht das Bewußtsein des Schaffenden in Wort und Mimik darüber steht. Das Lied vom Elend unserer Tage wissen wir alle zu singen. Aber nur einer erlebt es, wie es gewachsen ist. Und wer es schlafwandelnd pflückt, und wäre es wie heut und hier im Vortrag von drei kurzen Strophen, wagt sein Leben an, das Erwachen. Und wäre es das Lied von einem armen Mädchen; doch nicht, daß sie arm ist, rührt uns, sondern daß etwas von allem, das um sie herum und gleichzeitig besteht, in ihre Worte überging, bereichert unseren Blick. Denn nur Worte können so nebeneinander hergehen wie Menschen, und wo sie sich finden, ist ihr Schicksal und ihr Kehrreim. Und wenn tausend Jahre wie ein Tag sind, lebt

Das alte schlichte Lied von gestern abend,
Mich dünkt, es linderte den Gram mir sehr,
Mehr als gesuchte Wort‘ und lust‘ge Weisen
Aus dieser rachen, wirbelsüchtigen Zeit.

Erschienen in: Die Neue Schaubühne, 4. Jg, April 1922, S. 109.
Soviel ich (A.O.) weiß, ist dieser Text bislang nicht neu veröffentlicht worden. Da ich nicht weiß, wo die Rechte liegen, bitte ich die Rechteinhaber sich an mich zu wenden.  

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1929 Lyrik Rezensionen

Walter Benjamin kann nichts mit Mehrings Gedichten, Liedern und Chansons anfangen

Die Gedichte, Lieder und Chansons des Walter Mehring„, die 1929 bei S. Fischer erschienen sind, gefallen nicht jedem. Walter Benjamin schreibt in seiner Rezension, dass ihm das „Unvernünftige, Verbissene, Herbe, Verächtliche, Heimweh und amor fati des Verrufenen“ fehlen. Anders als bei Brecht sei die Lyrik Mehrings nicht wirklich groß. De facto bewertet Benjamin die Lyrik Mehrings aber nicht wirklich nach der Qualität der Texte. Es geht ihm vielmehr um die Desavuierung eines Dichters, der sich explizit der kommunistischen Partei verweigerte. Anders als Brecht. Die Wahl einer Textstelle, die tatsächlich nicht zu den starken zählt, ist deshalb weniger Beleg für die Argumentation, als vielmehr Beleg für die Polemik. Und die Suche nach einer so schwachen Textstelle muss Walter Benjamin angesichts der vielen treffenden und sprachlich kraftvollen Texte einige Mühe gekostet haben. Und so erledigt sich die Kritik selbst, da sie nur von Ideologie geprägt ist. (A.O.)

Gebrauchslyrik? Aber nicht so!

Das Chanson, wie es vom Montmartre zu uns heruntergekommen ist, war ein Feuer, an dem der Bohemien sich den Rücken wärmte, jederzeit bereit, einen Scheit zu ergreifen und ihn als Brandfackel in die Palais zu schleudern. Weil aber der Arme alles verkaufen muß, so mußte er’s auch dulden, daß der Reiche sich Zutritt zu seinem Asyl erzwang und sich’s bei einem Feuer gemütlich machte, das darauf brannte, ihn zu verzehren. Das ist der Ursprung des Kabaretts. Schwer ist es den Schülern Aristide Bruants nicht geworden, sich auf die soziale Zweideutigkeit der Gattung einzulassen. Die sexuelle findet sich schnell dazu. Aber auch die Zote war noch Revolte, Aufstand des Sexus gegen die Liebe, und bei Wedekind geht es hart her. Erst recht geht es hart her bei Brecht, dem besten Chansonnier seit Wedekind, und dem lehrreicheren, weil bei ihm um den Waagebalken der Not die beiden Schalen Hunger und Geschlecht gerechter spielen. Mit Brecht hat das Chanson sich vom Brettl emanzipiert, die Decadence begann historisch zu werden. Sein Hooligan ist die Hohlform, in die dereinst mit besserem, vollerem Stoff das Bild des klassenlosen Menschen soll gegossen werden. Damit fand die Gattung ihre scharfe aktuelle Bestimmung. Es reicht nicht mehr aus, Gaunersprache und Platt, Argot und Slang zu parlieren, um hier mitreden zu dürfen. Und, die Wahrheit zu sagen: nie hat es ausgereicht. Wenn es in den Kreisen der »Vaterlandslosen«, »Entwurzelten« so etwas wie Heimatkunst gibt, dann ist es das Chanson, das aus dem engen rauchgeschwärzten Kneipenwinkel kommt. Und wo dergleichen Weisen etwas taugen, da haben einmal Männer beisammen gesessen. Mehring 1) mag allerlei Qualitäten haben, mag der Sprache rabeleske Toupets, balladeske Tollen oder bierbaumsche Schmachtlocken drehen – er hat nie an ungehobelten Tischen gesessen. Das Unvernünftige, Verbissene, Herbe, Verächtliche, Heimweh und amor fati des Verrufenen sind ihm fremd – trotz »Ketzerbrevier« und »Legenden«. Sein Chanson ist ein Esperanto der Dichtung, der Effekt ist sein letztes Wort und niemals liegt er in der Nuance. Ein Mann wie Brecht kann das Massivste anheben, wir werden immer unsere Freude daran haben, wie zart er es niederlegt. Mehring kann gar nicht athletisch genug stemmen, aber wenn man dagegen klopft, klingt es so hohl wie dies:

Und acherontisch donnert der Métrozug,
Apokalyptisch reist der Passagier.

Die Überlieferungen der Decadence sind gerade in Deutschland zu schwer erkauft und zu lauter – man braucht hier nur den Namen Hardekopf zu nennen –, um sich diese akademische Kopie gefallen zu lassen, der ihre Herkunft aus dem Amüsierbetrieb der Großstadt an der Stirn geschrieben steht. Diese Sachen haben keine verändernde Kraft; sie werden keine Umgruppierung verschulden. Denn sie sind nicht von der Niedertracht, sondern vom Masochismus eines bürgerlichen Publikums inspiriert.

Walter Benjamin: Gebrauchslyrik? Aber nicht so; in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt/Main: 1972, S. 183f.